Ausstellungstexte

Nancy Holt: Circles of Light

Electrical System

Nancy Holt, Electrical System, 1982, Installationsansicht (Detail), Gropius Bau, 2024

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy: Sprüth Magers, Foto: Luca Girardini

„Obwohl diese technologischen Systeme im Laufe der Jahre für unseren Alltag unentbehrlich geworden sind, werden sie meist hinter Mauern oder unter der Erde versteckt und in den Bereich des Unbewussten ver­bannt. Es fällt uns schwer, uns unsere fast völlige Abhängigkeit von ihnen einzugestehen.“ — Nancy Holt

Nancy Holts System Works enthüllen die Mechanik alltäglicher techno­logischer Strukturen für die Zirkulation von Elektrizität, Wärme und Luft. Die Arbeit Electrical System offenbart dabei etwas, das im heutigen Leben so selbstverständlich ist, dass es oft in Vergessenheit gerät: Licht. Strom fließt durch unterirdische Rohre und durch Leitungen in den Wänden eines Gebäudes. Holt verleiht diesem Stromsystem in der gebauten Umwelt eine skulpturale Präsenz und verweist auf die Energie, die das Licht um uns herum erzeugt.
Electrical System ist ein Netzwerk aus gebogenen Rohren und Glühlampen, das sich durch den Lichthof zieht. Holt bezeichnete diese funktio­nale Skulptur als einen „Lichtbrunnen“, in den die Besuchenden einge­laden werden, einzutreten. Holt beschrieb, wie die gesamte Reihe der System Works „Fragmente riesiger verborgener Systeme, [die] Teil offener Systeme, Teil der Welt sind“, freilegt. Durch das Anschalten einer Beleuch­tung wird eine Verbindung zum Stromnetz hergestellt, das natürliche Ressourcen für den menschlichen Gebrauch ausbeutet. Holt lädt dazu ein, eine Beziehung zu Elementen aufzuspüren, die normalerweise unsicht­bar bleiben, und sich der eigenen Energienutzung bewusst zu werden.

Über die Künstlerin

Nancy Holt (1938–2014) hat die Grenzen der Kunst getestet, indem sie mit den neuen Medien ihrer Zeit arbeitete und die Räume erweiterte, in denen Kunst existieren kann. Uber fünf Jahrzehnte hinweg untersuchte sie Systeme, Wahrnehmungen und Orte und stellte Fragen dazu, wie wir unsere Position in der Welt verstehen können. Sie war Teil zahlreicher künstlerischer Bewegungen, die im 20. Jahrhundert entstanden, darunter die Land Art und Konzeptkunst. Die vielfältige künstlerische Praxis von Holt umfasst Konkrete Poesie, Audioarbeiten, Film und Video, Fotografie, Dia-Projektionen, ephemere Gesten, Zeichnungen, raumfüllende Instal­lationen, Earthworks, Publikationen und Skulpturen im öffentlichen Raum.
Die Künstlerin wurde in den Vereinigten Staaten, in Worcester, Massa­chusetts, geboren und wuchs in New Jersey auf. Die Orte, an denen sie lebte, blieben für Holt während ihres gesamten künstlerischen Schaffens wichtige Bezugspunkte. 1960 machte sie ihren Abschluss in Biologie an der Tufts University in Massachusetts. Noch im selben Jahr zog sie nach New York City, wo sie im engen Austausch mit anderen Künstler*innen lebte und arbeitete. So tauchen befreundete Künstler*innen häufig in ihren Werken auf. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2014 war Holt künstlerisch aktiv.

Nancy Holt auf den Stufen zur Clocktower Gallery in New York, 1974

© Holt/Smithson Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Gwenn Thomas

Nancy Holt, Electrical Lighting for Reading Room, 1985, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy: Sprüth Magers, Foto: Luca Girardini

„Teil meiner Arbeit sind Konstruktionen, die Wahr­nehmungen fokussieren, sie kanalisieren und ihnen eine Tiefe geben, die wir sonst nicht erleben können. Mich interessiert vor allem, wie Menschen ihre eigene Wahrnehmung wahrnehmen.“ — Nancy Holt

Nancy Holt untersuchte, wie wir unsere Umgebung erfassen, wodurch sich unser Bewusstsein formt und wie Körper in Bezie­hung zu Skulptur und der Umgebung stehen. Bei ihren Experi­menten mit dem Sehen setzte Holt verschiedene Konstruktionen ein, um den Blick der Betrachtenden zu beeinflussen. Sie wollte sowohl den Fokus als auch das Bewusstsein lenken und nutzte das Zusammenspiel von Licht und Schatten, um die Wahrnehmung zu verändern.
Das Erleben und das Verständnis eines Ortes werden oft durch visuelle oder sprachliche Bezugssysteme geprägt. Holt ver­suchte in vielen ihrer Kunstwerke das Zusammenspiel dieser Systeme zu verändern. Ihr Anliegen war, das Bewusstsein und das Gefühl für die Verbundenheit mit der Umwelt zu schärfen.
Der Titel dieser Ausstellung, Circles of Light, ist einem Text von Holt entliehen. Kreise sind ein wiederkehrendes Motiv in ihrer Arbeit und werden zu Metaphern und Werkzeugen, mit denen die Welt verstanden werden kann. Sie verkörpern die zyklische Natur und die Rotation des Sonnensystems. Kreise lassen sich in Glühlampen, Tunneln, Kameralinsen und Röhren finden. Wir schauen durch kreisförmige Apparate, die definieren, was wir sehen und was wir nicht sehen, was innen und außen ist.

„Du denkst daran, wie die Erde sich dreht, und wenn du im Zentrum des Werkes bist, bist du auch im Zentrum des Universums dieses Ortes.“ — Nancy Holt

Nancy Holts großformatiges Earthwork Sun Tunnels ist aus über einein­ halb Kilometern Entfernung am Horizont eines Tals in Utahs Great Basin Desert sichtbar. „Earthwork“ ist die Bezeichnung, die Holt dem Begriff Land Art vorzog. Das Werk besteht aus vier Betonzylindern, die in einer Kreuzformation angeordnet sind. Sie sind so positioniert, dass sie die Sonne bei ihrem Auf- und Untergang während der Sommer- und Winter­sonnenwende – den längsten und kürzesten Tagen des Jahres – einrahmen.
In den Beton sind kleine Löcher gebohrt, die das von Sonne und Mond ausgehende Licht nutzen, um Projektionen von Sternenkonstellationen auf die Innenwände der Tunnel zu werfen.
Holt war von der Landschaft im Westen der USA fasziniert und empfand ihre immense Weite als überwältigend. Im Inneren der Sun Tunnels wird die Unermesslichkeit der Wüste von den kreisförmigen Tunneln einge­rahmt, um, wie Holt es beschrieb, „den enormen Raum der Wüste auf das menschliche Maß zurückzuführen.“

Nancy Holt, Sunlight in Sun Tunnels, 1976

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Courtesy: Sprüth Magers

Nancy Holt, Miami Puddles, 1972, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy: Sprüth Magers, Foto: Luca Girardini

„Wenn wir etwas betrachten, neigen wir dazu, in unserem Gehirn eine bestimmte Kartei aufzurufen, bestimmte Wörter tauchen im Bewusstsein auf – wenn wir beispiels­weise einen Vogel sehen und als Erstes den Vogel be­nennen, anstatt einfach präsent zu sein und die Erscheinung des Vogels wahrzunehmen.“ — Nancy Holt

Mitte der 1960er Jahre arbeitete Nancy Holt als Redakteurin bei der Zeit­ schrift Harper’s Bazaar. Ihre ersten Kunstwerke entstanden 1966 in Form von Konkreter Poesie und textbasierten Kompositionen. Sie interessierte sich für zufällig gefundene Sprache und nutzte unter anderem Glücks­keks-Sprüche, Ortsnamen und Ausstellungsbeschreibungen als Material. Holt experimentierte auch mit Fotokopien, um zu untersuchen, wie sich Form und Inhalt durch die Vervielfältigung verändern. Zu dieser Zeit nutzten viele Künstler*innen den Fotokopierer, ein zugängliches, in vielen Büros vorhandenes Gerät, um Texte und Bilder zu reproduzieren und zu verbreiten.
In ihrem Tagebuch von 1972 beschrieb Holt ihre Faszination dafür, Wörter „durch Visualität konkreter zu machen“. Sie experimentierte mit Sprache und schuf Möglichkeiten, diese neu zu verstehen. Sie fügte Sätze so auf dem Blatt zusammen, dass sich konventionelle Anordnungen und die Verknüpfung der Wörter veränderten. Die daraus resultierenden Konkreten Gedichte zeigen, wie die Sprache die Wahrnehmung strukturieren und verändern kann.
Dieses Interesse an Sprache prägte auch ihre Film-, Video- und Audio­ arbeiten. In diesen konzentrierte sie sich auf Aspekte der Kommunikation, wie die des Missverständnisses und der Übersetzung von geschriebener und gesprochener Wörter in Handlungen. Schreiben war ein wichtiger Teil ihrer Praxis und dokumentierte ihre Ideen und Überlegungen in den Recherche- und Produktionsphasen.

„Das Wunder des Ortes mit Sprache beschreiben.“ — Nancy Holt

Die Stimme war für Nancy Holt ein wichtiges Medium. Sie war davon fasziniert, wie die Wahrnehmung durch die Beschreibung mit Worten ein­gerahmt und verändert werden kann; wie Stimme und Klang das Gefühl für einen Ort vermitteln und den Blick und die Bewegung im Raum lenken können.
Holt arbeitete mit Klang, um vielschichtige Erfahrungen zu kreieren, und benutzte in Aufnahmen oft ihre eigene Stimme, um eine Verbindung zu den Zuhörenden herzustellen. In einigen Arbeiten erzählte sie von ihren Beobachtungen, um so ein Gefühl der Anwesenheit zu vermitteln und ihre eigene Wahrnehmung mitzuteilen.
Holts Interesse an den Wirkungen der Stimme ist auch in ihren Texten zu Sun Tunnels dokumentiert. Sie beschreibt den Echoeffekt, der im Inneren des Tunnels entsteht, und unterstreicht, wie „die menschliche Stimme zu dir zurückgeworfen wird, so dass es eine Selbstreferenz gibt“. 

Nancy Holt, Tour of the John Weber Gallery, New York, 1972, Gropius Bau, 2024

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Courtesy: Sprüth Magers, Foto: Luca Girardini

Nancy Holt, Electrical System, 1982, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024

© Holt/Smithson Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy: Sprüth Magers, Foto: Luca Girardini

„In den letzten vierundzwanzig Jahren habe ich großfor­matige, ortsspezifische Skulpturen im Freien geschaffen. Jedes Werk entwickelt sich aus seinem Standort heraus, wobei ich die Topografie, die gebaute Umgebung und die lokalen Materialien ebenso berücksichtige wie die Psycho­logie, Soziologie und Geschichte des jeweiligen Ortes. Viele dieser Werke haben astronomische Aspekte, da sie sich an den Sonnenauf- und
-untergängen der Tagund­nachtgleichen und Sonnenwenden, dem Polarstern und/oder dem Mond orientieren.“ — Nancy Holt

Nancy Holt unternahm 1968 eine Reise in die Wüste von Nevada, ein prägender Moment, der sie ganz in die Landschaft eintauchen ließ. Später erinnerte sie sich: „Ich machte die überwältigende Erfahrung, dass meine innere Landschaft und die äußere Landschaft identisch waren.“
In den frühen 1970ern begann Nancy Holt mit der Entwicklung von „Earthworks“, großformatige Skulpturen im Freien, die als direkte Interven­tionen in die umgebende Landschaft konzipiert sind. Sie verwendete oft bauliche Elemente wie Rohre, die auf lnfrastruktursysteme verweisen. Um diese Werke zu entwickeln, stand Holt in engem Kontakt mit For­scher*innen und Fachingenieur*innen, und war auf die ökologischen Auswirkungen der Kunstwerke bedacht.
Holt schrieb dazu: „Da die Einbeziehung natürlicher Elemente, die Nut­zung natürlicher Substanzen und die Sensibilität für Plätze im Freien ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit sind, war es unvermeidlich, dass ökologische Überlegungen in meinem künstlerischen Prozess auftauchen und Werke mit ökologischen Aspekten entstehen würden.“