Berliner Festspiele 70

Die Biografie einer Institution

Die Berliner Festspiele waren von Beginn an Berlins Hauptanlaufstelle für zu Kompliziertes, zu Großes, zu Teures, zu Nischenhaftes, zu Waghalsiges und zu Nervenaufreibendes. Sie konnten mit ihren Festivals, Ausstellungen, Programmreihen und Wettbewerben im Tagesgeschäft bedeutsame Maßstäbe setzen und manch eine Weltkarriere ebnen bzw. Bruchlandung überstehen. Nahezu alle Kunst- und Kultursparten bedienend, erforschend, repräsentativ und quer denkend, entging den Berliner Festwochen kaum eine international bedeutsame Veranstaltung.

Hervorgegangen aus der Tradition verschiedener Sommerfestspiele, aber auch aus der kulturpolitischen Konkurrenz zu sozialistischen Institutionen und Gruppierungen, die ebenfalls 1951 die „Weltfestspiele“ nach Ostberlin holten und 26.000 Jugendliche aus aller Welt einluden, dauerte es nicht lange, bis die „Berliner Festwochen“ mit ihren sich bald verselbstständigenden Theater- und Musikplattformen ein ganzes Kalenderjahr füllten.

Play, Rewind, Repeat

Der erste Tag der 1. Berliner Festwochen – 5. September 1951: Menschenmengen sammeln sich bereits tagsüber vor dem Schiller-Theater. Schaut man heute in die Gesichter dieser Menschen, sechs Jahre nach der totalen Niederlage, nach Bombennächten und Häuserkampf, Massenvergewaltigungen und Eiseskälte, kann man es schlicht nicht fassen, dass Wilhelm Furtwängler, der ehemalige Vizepräsident der Reichsmusikkammer, der sich zugleich aber auch gegen die Vorgaben des NS-Regimes aufgelehnt hat, wieder dirigiert und inmitten dieser Trümmerstadt nun wieder FESTWOCHEN auf dem Programm stehen. Die Berliner Philharmoniker, die mit Furtwängler den ersten Abend gestalten, erhalten endlich wieder einen repräsentativen Rahmen. Denn die weltberühmte Stadt der Bühnen, der großen Theater und Konzerthäuser ist das eingeschlossene West-Berlin zu diesem Zeitpunkt ganz und gar nicht. Im Osten der Stadt stehen sowohl die historisch renommierten als auch die modernsten Theater dieser Zeit. Der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik gelingt es nicht nur viel schneller, bedeutende Bühnen wie das Deutsche Theater oder die Volksbühne wiederzueröffnen. Mit Helene Weigel, Bertolt Brecht oder Hanns Eisler setzen sie außerdem die geeigneten Leute für einen Neuanfang ein. Ein Austausch zwischen den beiden Teilen Berlins ist zur Gründungszeit der Berliner Festwochen strengstens untersagt und die erste große Anti-Ost-Kampagne längst in vollem Gange. Die Berliner Presse hetzt: „Westberliner. Für euch ist es selbstverständlich, daß ihr keine der vom Stadt-Sowjet kontrollierten Einrichtungen des Ostsektors unterstützt. Kein Westberliner besucht ein ‚Staatstheater‘ des Ostens. Kein Westberliner liest eine Zeitung des Ostens.“ (Erik Reger, „Wofür?“, in: Der Tagesspiegel vom 5. Dezember 1948.)

Doch blicken wir auf den zweiten Tag: Boreslaw Barlog, neuer Intendant des am Vortag wiedereröffneten Schiller-Theaters, inszeniert auf Anregung Theodor Heuss’ Schillers “Wilhelm Tell” als Drama der Freiheit. Auf den neuen Bühnenbrettern werden die Insignien der Tyrannen symbolisch auf den Haufen geworfen, aber wer muss im Stück draußen bleiben? Richtig: Ost-Berlin. Einer guten Gewohnheit folgend, lädt Intendant Barlog seine Kolleg*innen aus den anderen Theatern der Stadt ein, nicht ahnend, dass er auf Drängen von Kultursenator Joachim Tiburtius am Premierentag jene Ost-Berliner Intendanten peinlich berührt wieder wird ausladen müssen.

Die Berliner Festspiele sind viele Geschichten

Es gibt die Geschichte der Nachkriegszeit, in der die Alliierten mit den Berliner Festwochen und den Internationalen Filmfestspielen Berlin ein Schaufenster für Kunst aus der „freien Welt“ schufen. Es gibt die Geschichte der von der Mauer geteilten Stadt mit Festtagen im Osten und Festwochen im Westen. Es gibt die Geschichte der Kontinuität inzwischen traditionsreicher Festivals wie dem „Theatertreffen“ oder dem „Jazzfest Berlin“ und es gibt eine Geschichte des Wandels, den sie durchliefen, begleitet von ständigen Neuerfindungen experimenteller Formate und temporärer Strukturen.

Es gibt die Geschichte der viel zu wenigen Frauen im Programm und in den Chefpositionen und die aktuelle Geschichte der Frauenquote beim Theatertreffen. Es gibt die Geschichte großer Impulsgeber wie die Formate „Metamusik-Festival“, „Horizonte – Festival der Weltkulturen“, die „Musik-Biennale Berlin“, die „Aktionen der Avantgarde“ (ADA) oder „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“.

Es gibt die Geschichten der Intendanten mit ihren künstlerischen Akzenten, Netzwerken und kulturpolitischen Strategien und die Geschichten der Generationen von Mitarbeiter*innen, die ihre Leidenschaft, ihre Expertise, abertausende Arbeitsstunden und endlose Kreativität in die Festivalgestaltung gegeben haben und immer noch geben. Es gibt die Parallelgeschichte der Ost-Berliner Festtage mit ihrem hervorragenden und den Berliner Festwochen in nichts nachstehenden Programm und deren unsägliche Abwicklung 1990. Es gibt die Geschichte der Funkbrücke, mit der die neu errichtete Mauer umgangen wurde, und die der neuen On-Demand-Plattform, dank der die Berliner Festspiele ihre Archive und Festivals in und auch nach Corona-Zeiten einem auf der ganzen Welt verteilten Publikum zugänglich machen.

Es gibt die Geschichte der Bespielung des Gropius Bau und des Haus des Berliner Festspiele, und es gibt die Geschichte der langen Zeit, bevor die Berliner Festspiele diese beiden Häuser betrieben, weil sie stattdessen in nahezu allen anderen Häusern der Stadt als (Ko-)Produzent von großen und experimentell angelegten Aufführungen, Symposien und Ausstellungen zu Gast waren. Es gibt also auch die Geschichte hunderter Spielorte – viele sind mittlerweile verschollen oder umgewidmet, andere immer noch prominent in der Berliner Kulturlandschaft vertreten. Und es gibt die Geschichten der zahllosen Partnerinstitutionen, die die Programme der Berliner Festspiele bereichern und mitgestalten.

Es gibt die Geschichten der Maßlosigkeit und des Feinsinns, der Repräsentation und der Innovation, der Verwurzlung in Berlin und der Faszination fürs Außereuropäische, des Wahnsinnserfolges und der schmerzhaften Bauchlandungen, der prickelnden Erwartungen und der immer weiter wegrückenden Erinnerungen.

Und es gibt die vielen, vielen unerzählten Geschichten.

Was funkelt heute noch?

Leichtathletik und Boxkämpfe, Brecht-Theater aus Syrien, Hildegard Knefs Ausführungen über Mexiko in der Gesprächsreihe „Berliner Lektionen“, CO2-neutrale Ausstellungskonzepte, Brian Eno, John Cale und Nico mit ihrer Version des „Deutschlandlieds“ in der Nationalgalerie, Martin Luther King Jr.ʼs Eröffnungsrede zum Gedenken an John F. Kennedy, Ilya Khrzhanovskys unvollendetes DAU-Projekt Unter den Linden, Fela Anikulapo Kuti und Africa 70 im Wahlkampf, Marionettenballett aus Mailand, John Cages und Merce Cunninghams Auftritte in Europa, ein Gespräch mit der Living Theatre-Gründerin Judith Malina in den Berliner Lektionen, ein ganzes Festival gewidmet dem Zirkus, Erwin Piscators Kampf mit der Oper, vertrackter Modern Jazz aus Russland, stundenlange im Fernsehen übertragende Live-Debatten der 1960er-Jahre, Bert Neumanns subversive Bühnenbauten und Kostümbilder, Bildhauerei und Freiluftstudios vor der Philharmonie, Boris Blachers Ballettabende mit Tatjana Gsovsky, Ida Müller und Vegard Vinges Nationaltheater in Reinickendorf, die Topographie des Terrors, Pina Bauschs Tänze beim Theatertreffen, Griots aus Mali, Kabuki und Nō aus Japan, Volkslieder aus Deutschland und Modelloper aus China und Wolf Vostells Environments am Mauerstreifen. Dort treffen wir auch Gordon Matta-Clark und Ulrike Ottinger; wir sehen Theater ohne Akteur*innen, Allan Kaprow in Treppenhäusern und Ulrich Papenberg im Galerieraum, George Maciunas und Shigeko Kubota mit Fluxus am Cembalo, seichte Höflichkeiten und aus heutiger Sicht fragwürdige Konzepte zur sogenannten „Dritten Welt“, Luca Ronconis Ritterspiele in der Deutschlandhalle und Joseph Beuys im Gropius Bau, legendäre Auftritte von Igor Strawinsky, Wolfgang Rihm, Luigi Nono und Vladimir Horowitz; Fassbinders viel zu seltene Ausflüge ins Theater und Schlingensiefs Kunstausstellungen auf der Bühne, Bildende Kunst aus Afrika, aus Nord- und Lateinamerika und Asien und all die Menschen, die kamen, guckten, zuhörten, lachten, buhten, klatschten, debattierten und wieder gingen.