Kuratorische Einführung von Joanna Warsza

Ein Rundgang

Die Architektin Lina Bo Bardi prägte das berühmte Zitat, jedes Museum verdiene einen Spielplatz. In Anlehnung an diesen Gedanken und im Vorgriff auf den kommenden programmatischen Schwerpunkt des Gropius Bau – Spielen – kommt Radical Playgrounds für elf Wochen in den Gropius Hain. Konzipiert als eine Mischung aus Skulpturenpark, Abenteuerspielplatz, Museumserweiterung und temporärem Jahrmarkt, nutzen viele Installationen und Pavillons das Vokabular des Spielplatzes – sei es in Form einer Schaukel, einer Wasserfontäne, eines Karussells oder eines Labyrinths. So legen sie offen, was sonst unausgesprochen bleibt: Geschichten von Inklusion und Ausgrenzung, engagierten Aktivismus durch das Medium Spiel, eine dunkle, verschüttete Vergangenheit und die Notwendigkeit, unsere gegenseitige Abhängigkeit auf diesem Planeten neu zu überdenken.

Im Vorfeld und während der Fußball-Europameisterschaft der Männer in Deutschland 2024 befasst sich Radical Playgrounds auch mit dem Unterschied zwischen den Konzepten von Wettkampf und freiem Spiel – im Englischen klarer getrennt als „game“ und „play“. Wettkampfspiele haben ein Regelwerk und klar definierte Gewinner* innen und Verlierer*innen. Oft geht es darum, Gefühle zu kanalisieren, Konflikte und Konfrontationen zu sublimieren. Wenn wir aber miteinander spielen, haben wir die Freiheit, Situationen ständig zu verändern und Regeln beliebig zu erfinden. Wir können aussteigen und wieder zusammenkommen; können Worte finden, um zu benennen, was schwierig, schmerzhaft oder ungesagt ist. Vielleicht können wir sogar alle gewinnen.

Radical Playgrounds ist die Einladung, in einen freien Raum kollektiven Lernens und Verlernens einzutreten. Dieser Raum ist offen für die Erkundung einer Vielzahl von Aktivitäten in einer radikal nicht-kompetitiven Umgebung, in der es ungefährlich ist, Fehler zu machen, in der es erlaubt ist, sich auszuprobieren und über das sozialisierende und politische Potenzial des Spielens zu nachzudenken. Sowohl in der Kunst als auch im Spiel geht es darum, sich bis zu einem gewissen Grad von einer Situation zu lösen und sich von imaginären Regeln leiten zu lassen. Der Kerngedanke der Ludologie, der Lehre vom Spielen, besagt, dass das Spiel für das Gedeihen des Menschen notwendig ist. Es muss auf freiwilliger Teilnahme beruhen, fiktiven Regeln folgen und die Möglichkeit beinhalten, jederzeit auszusteigen – sei es bei einem Flirt, einem Lernzirkel, beim Beachball- oder Versteckspiel.

Spielplätze sind mit ihren ideologischen und sozialen Kontexten hervorragende Testfelder dafür, wie sich eine Gesellschaft materiell und gedanklich neu erfindet. The Playground Project von Stadtplanerin Gabriela Bulkhalter – eine Open-Air-Ausstellung samt Forschungsprojekt – zeigt den Spielplatz als Ort, an dem Geschichten verhandelt werden, ebenso wie die Spannung zwischen Regeln und Freiheit, Vertrautem und Unbekanntem, Grenzen und Überschreitungen, Gegenwart und Zukunft. Wir neigen dazu, das Spiel als eine Form der Inklusion, des Spaßes und des fairen Austauschs zu betrachten. Und doch erinnern sich die meisten von uns auch an Situationen, vielleicht aus ihrer Kindheit, in denen sie nicht Teil eines Spiels waren, verbunden mit einem Gefühl des Zurückgelassen Werdens. Die Künstlerin Céline Condorelli beschäftigt sich seit langem mit den Themen Spiel, Arbeit, Freizeit und Ausgrenzung. In ihrer großen öffentlichen Kunstinstallation Play for Today fragt sie, warum der Mensch immer wieder Gründe erfindet, andere nicht (mit)spielen zu lassen. Wenn die Besucher*innen die Installation von Agnieszka Kurant betreten, treffen sie auf eine Landkarte mit verschiedenen spielbezogenen Objekten wie Dominosteinen, einem Springseil oder einem Ball – eine Hommage an die kollektive Intelligenz, die keine Urheber*in kennt als die gesamte Menschheit. Edgar Calel lädt uns zum Wiederaufbau einer unvollständigen Maya-Pyramide ein, deren Einzelteile in verschiedene europäische Museen, u. a. in Berlin, gebracht wurden.

Im Inneren des Geheimen Gartens befindet sich eine Sandkiste bzw. Ausgrabungsstätte der School of Mutants, die auf den grundlegenden Akt des Grabens verweist und ihn mit der im Untergrund liegenden Kolonialgeschichte verbindet. An dieser Stelle befand sich einst das erste Völkerkundemuseum Berlins. Auf dem Skywalk im Außenbereich stoßen Besucher*innen auf ein Wandgemälde von Irad Verkron, das eine mathematische Zeichnung mit einer Geschichte über die Suche nach einem verlorenen Spielgefährten aus der Kindheit verbindet. Ganz in der Nähe können Besucher*innen eine Schaukel benutzen, die der samische Architekt Joar Nango für einen Spielplatz in Jokkmokk entworfen hat, oder das dysfunktionale Karussell von Mariana Telleria betreten, das die Unmöglichkeit verdeutlicht, in die eigene Kindheit zurückzukehren.

Florentina Holzinger präsentiert ihren ersten Skatepark; Ingela Ihrman bietet dem Publikum tragbare Kostüme an, um „…liebt mich, liebt mich nicht“ zu spielen; Tomás Saraceno bringt uns auf einem Spielplatz zum Zittern und macht die Schwingungen von Spinnen und Planeten am eigenen Leib erlebbar. Daneben finden Besucher* innen eine städtische Oase – The Fountain of Knowledge von Raul Walch – sowie selbstangetriebene Fahrräder des verstorbenen Künstlers Martin Kaltwasser. Über die Fläche schlängelt sich ein langes textiles Labyrinth von Vitjitua Ndjiharine, das die Vergangenheit und die Gegenwart, das Ernste und das Komische, das Hohe und das Niedrige zusammenbringt.

Im Spannungsfeld zwischen Wettkampf und freiem Spiel inszenieren wir Anfang Juli eine Nachstellung des Fußballklassikers zwischen der DDR und der BRD aus dem Jahr 1974 – als Zwei-Personen-Stück. Das legendäre Schauspiel von Massimo Furlan (als Sepp Maier) und der Fußball-Aktivistin Tanja Walther-Ahrens (als Jürgen Sparwasser) findet auf der Niederkirchnerstraße statt, wo einst die Berliner Mauer stand. Es nutzt Bewegung, Muskelgedächtnis und die originalen Radiokommentar aus Westund Ostdeutschland, um sich auf einem veränderlichen Terrain zu bewegen – sowohl in Bezug auf aktuelle Asymmetrien als auch auf Weiblichkeit, Queerness und „Schwäche“ im Fußball.

Wir neigen dazu, uns unter einer Ausstellung etwas vorzustellen, das bei der Eröffnung bereits fertig ist. Diese hier ist es nicht. Radical Playgrounds wird in den folgenden elf Wochen durch eine Reihe von offenen Workshops, Ergänzungen, Gesprächen, Spaziergängen und Dance Gatherings von Alice Chauchat allmählich wachsen. Gemeinsam mit Architekt*innen, Künstler*innen, Spieler*innen, Denker*innen, Nachbar*innen und Besucher*innen verwandelt sich der Parkplatz des Gropius Bau in einen multidirektionalen öffentlichen Raum der Begegnung – inklusive eines Sommergartens am Restaurant Beba und einer Abschlussveranstaltung im Juli samt Stand-up- Comedy über die heilende Kraft des Humors und des Spiels.

Radical Playgrounds ist inspiriert von dem, was María Lugones „liebevolle Verspieltheit“ nennt, eine nicht-antagonistische Verbindung mit dem anderen, die auf arrogante Wahrnehmung und Wettbewerb verzichtet und „eine Offenheit für Überraschungen [beinhaltet], eine Offenheit dafür, närrisch zu sein, eine Offenheit für die Selbstkonstruktion oder die Rekonstruktion jener ‚Welten‘, die wir bewohnen.“ Radical Playgrounds ruft dazu auf, Kunst und Verspieltheit als Mittel zur gegenseitigen Unterstützung zu nutzen – um Veränderungen anzunehmen und sowohl eine Distanz als auch eine Verbindung zu unseren gemeinsamen Wünschen, Projektionen, Emotionen und Politiken aufzubauen. Wir fragen, wie Kunst und Spiel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren vermitteln können. Dadurch möchten wir herausfinden, was fair ist und Spaß macht. Und was nicht. Und auf welche Weise. Und zwar vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Notlagen und andauernden Kriege. Und um trotz unserer Unterschiedlichkeit als Fremde zusammenzukommen und Hoffnung und Widerstandsfähigkeit zu fördern. Und schließlich, um eine weitere unserer Inspirationsquellen zu zitieren, das Projekt Modellen, das 1968 das Moderna Museet in Stockholm in einen Abenteuerspielplatz verwandelte: „Diese Ausstellung bleibt nur dann eine Ausstellung, wenn du nicht spielst; wenn du es tust, wird sie so viel mehr.“

Joanna Warsza
Kuratorin