Es ist eine Zeit voller fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang geht um, verbunden mit einem Erstarken rechtspopulistischer Parteien. Die Meinungsfreiheit ist bedroht, angesichts immer mehr autokratischer Herrscher auf der Welt, die sich über die Gesetze ihrer eigenen Länder hinwegsetzen oder sie einfach ändern. Auch das westliche Selbstverständnis, im Schutze der USA als größter Demokratie der Welt zu leben, ist erschüttert. Selbst die konservativen Parteien, die sonst so gerne sparen, machen Abermillionen Euro im Haushalt locker, damit Europa sich im Kriegsfalle selbst verteidigen könnte. Während wenige Superreiche immer mehr beeinflussen dürfen, steht die eigene Wirksamkeit infrage.
Das Ich ist überfordert von der Welt. Sieht sich einem übermächtigen Außen gegenüber. Diese Setzung zeigt sich auch in loser Folge in der diesjährigen Auswahl des Theatertreffens. Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“, dessen Dramatisierung aus Magdeburg eingeladen wurde, ist der Blick auf die Ich-Werdung eines Schweizer Kindes in einer als übermächtig wahrgenommenen Außenwelt, zunächst repräsentiert von liebevoll übergriffigen Frauenfiguren. Auch in Alice Birchs Überschreibung von Lorcas „Bernarda Albas Haus“ unterdrückt die Titelträgerin Bernarda ihre erwachsenen Töchter als Reaktion auf die angeblich böse Gesellschaft, die draußen vor der Tür der Frauen lauere.
Die Dramatisierung von Dinçer Güçyeters Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ist eingeladen, eine Geschichte aus der ersten Gastarbeiter-Generation, die zwar von einer Familie ausgeht, aber dabei viel über die Gesellschaft erzählt. Auch in Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ über den spanischen Bürgerkrieg, das zusammen mit Björn SC Deigners zeitgenössischem Text „Würgendes Blei“ aus München eingeladen ist, stehen die Bedingungen, die das Ich vorfindet, schon fest. Dass der Krieg tobt, kann die Kriegswitwe Teresa Carrar nicht beeinflussen, die Frage ist, wie sie sich dazu verhält, ob sie und ihre Söhne mitmachen im Krieg gegen die Faschisten. Schließlich die Opern-Performance „Sancta“, in der Florentina Holzinger Paul Hindemiths Kurzoper „Sancta Susanna“ ausgehend vom sexuellen Erweckungserlebnis einer Nonne zu einer weiblichen Abrechnung mit der als übermächtig empfundenen katholischen Kirche macht und nur viele Ichs gemeinsam ihr etwas entgegensetzen können.
Doch was hat das jetzt mit dem Nachwuchskritiker*innen-Forum des Theatertreffens zu tun? Nachdem es 2024 um unterschiedliche Perspektiven auf Theaterkritik ging, soll in diesem Jahr wie in einigen der Inszenierungen das Ich Ausgangspunkt der Kritiker*innen sein. Alle eingeladenen Produktionen hatten bereits Premiere, wurden vielfach rezensiert. Wir wissen, dass sie „bemerkenswert“ sein sollen, die dritte Person Singular wurde schon bemüht. Wie aber geht es den Nachwuchsbloggern und Bloggerinnen selbst mit den Inszenierungen? Vor welchen Schwierigkeiten steht etwa eine Kritik, die sich offen zur Subjektivität bekennt und in der ersten Person spricht? Wie schwer ist es, eine eigene Meinung zu formulieren, die von denen der bekannten Kritiker*innen abweicht?
Neben Möglichkeiten der Vernetzung, dem Erproben von Journalismus unter Echtzeitbedingungen und vielen Inputs soll es in diesem Jahr also besonders um die eigene Haltung zu Inszenierungen und den daran Beteiligten gehen. Hierfür kommt etwa die Radiokritikerin Barbara Behrendt zu Besuch, die mit den Nachwuchsjournalist*innen in Radiogesprächen erprobt, mit ihrer Stimme, aus ihrer Perspektive zu schildern, wie sie einen Abend erlebt haben. Worauf man achten muss, um seinen Eindruck im Bewegtbild für Social Media zu schildern, zeigt uns der Journalist Elliot Douglas. Außerdem kommt Peter Kümmel zu Besuch, der Theaterkritiker der Zeit. Auch Christian Rakow vom Online-Theaterfeuilleton nachtkritik.de spricht mit uns, das seinerzeit durch das Etablieren der Kommentarfunktion den subjektiven Zugang zu Theater mitgeprägt hat.
Und der Schriftsteller Dinçer Güçyeter besucht uns. Sein Debüt-Roman „Unser Deutschlandmärchen“ zeigt, dass ein persönlicher Blick auf die Welt auch sehr politisch sein kann. Die Weltordnung mag ins Wanken geraten sein, aber Selbstwirksamkeit fängt immer noch damit an, aus der eigenen Perspektive auf die Welt zu blicken. Um dann Schritt für Schritt etwas an ihr zu ändern, manchmal auch gemeinsam. Ich freue mich darauf.