Wang Bing

Wang Bing gilt heute als einer der bekanntesten Filmemacher Chinas. Der internationalen Filmcommunity wurde er durch die neunstündige Dokumentation „Tie Xi Qu: West of the Tracks“ bekannt, die sich über einen Zeitraum von vier Jahren (1999 – 2003) erstreckt und durch einen epischen Geist und ebensolche Dimensionen charakterisiert ist. Das Œuvre des Künstlers umfasst mittlerweile ein Dutzend Langfilme in Form von Dokumentationen und Spielfilmen sowie Videos und fotografische Arbeiten.

„Tie Xi Qu: West of the Tracks“ protokolliert den allmählichen Niedergang des Shenyanger Industriebezirks Tiexi und zeugt von einer stürmischen Zeit des Wandels in China. Dies ist der Ausgangspunkt für Wangs Auseinandersetzung mit dem Wesen der modernen chinesischen Gesellschaft. Wie alle Werke des Künstlers zeichnet sich auch diese Erzählung durch eine große historische Tiefe und Bandbreite aus. Sie nimmt sich all jener Menschen an, die vom unaufhaltsamen Strom der Veränderung erfasst, mitgerissen oder angespült werden – allesamt Geiseln der Geschichte.

Wangs alternative, bildbasierte Narrative stehen im Widerspruch zu den etablierten Diskursen über das heutige China. Seine Vorgehensweise zeugt von historischem Bewusstsein ebenso wie von seiner politischen Haltung, ohne dabei dem tiefgründigen emotionalen Gefüge seiner Filme Abbruch zu tun. Aus diesem Gefüge, verwoben in ein umfassendes Gewahrsein geschichtlicher Prozesse, entsteht die Ästhetik von Wangs Filmen.

Der Filmemacher, 1967 in der Provinz Shaanxi in Nordwestchina geboren, blickt auf die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des späten 20. Jahrhunderts zurück. Er durchlebte eine schwere Kindheit, geprägt vom Tod des Vaters, als er vierzehn Jahre alt war. Daraufhin verließ Wang die Schule und begann, nunmehr für das Fortkommen der Familie verantwortlich, zu arbeiten. Nachdem seine Schwester ihre Ausbildung beendet hatte, schrieb er sich an der Lu Xun Academy of Fine Arts in Shenyang für einen Lehrgang in Fotografie ein. Etwa zur selben Zeit stieß er auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1818 – 1829), die den von ihm so bezeichneten „Konservativismus“ seines ästhetischen Ansatzes mitgeprägt haben dürften.

Doch diese klassische Form der Empfindsamkeit verwandelt sich, übertragen auf die heutige Situation, in einen ästhetischen Impuls, der sich der modernen Zeit anpasst. Wang nutzt die demokratisierenden Möglichkeiten des digitalen Filmschaffens, um das Vokabular des Dokumentarischen zu erweitern. Dieses Hinausgehen über die Grenzen der Dokumentation als Genre definiert deren Verhältnis zum Film neu und baut es weiter aus. Der Strom der Zeit unterstreicht dabei lediglich die Bedeutung von Wangs Filmkunst.

Stand: März 2018