Pressemeldung vom 20.10.2023

Wortmarke Gropius Bau

Selma Selman: her0

Der Gropius Bau freut sich, mit her0 eine Präsentation von Arbeiten der Künstlerin Selma Selman anzukündigen. her0 beginnt mit einer Eröffnungsperformance am 11. November 2023 von 15:30 bis 18:00 Uhr und ist bis zum 14. Januar 2024 im ersten Obergeschoss des Gropius Bau zu sehen. Der Eintritt ist frei.   

„Ich glaube, dass die Rom*nja im 21. Jahrhundert die sozialen, ökologischen und technologischen Avantgardist*innen dieses Planeten sind. Seit etwa 100 Jahren recyceln wir Abfälle, um uns als unterdrückte Minderheit in der westlichen Moderne selbst zu versorgen – die erst jetzt den moralischen, sozioökonomischen und ökologischen Wert dieser Praxis erkennt.“
— Selma Selman

Selma Selmans Praxis beruht auf ihren persönlichen Erfahrungen in der Erforschung von Themenfeldern wie Unterdrückung, Patriarchat, Frauenrechte und Begehren sowie den Reibungen zwischen kollektivem und persönlichem Handeln. Durch ihren multidisziplinären Ansatz, der Performance, Malerei, Fotografie und Film umfasst, erkundet sie die Grenzen von Identität, Währung, Recht und die Last der Repräsentation, die ihr, ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft auferlegt wird. her0 ist die erste Präsentation in Berlin, die einen Überblick über Selmans künstlerische Praxis gibt. Im Zentrum steht das transformative, in der Poesie verwurzelte Potenzial, das sich durch ihr gesamtes Werk zieht. Der Titel her0 bezieht sich dabei auf das Wort „hero“ (dt.: „Held*in“) und kombiniert das weibliche Pronomen „her“ mit der Zahl 0, die die Möglichkeit der Veränderung symbolisiert.

Selmans Präsentation her0 beginnt im Gropius Bau mit der Performance Motherboards (2023–fortlaufend), in deren Mittelpunkt die Gewinnung von Gold aus Altmetall steht.

Durch den Einsatz von Äxten und Bohrern erzeugen die Performer*innen bei diesem materiellen Akt eine musikalische Klanglandschaft, die gemeinsam mit einem*einer Sounddesigner*in und einer Cellistin inszeniert wird. Wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit ist die Kooperation mit ihrer Familie, Mitgliedern der Rom*nja-Gemeinschaft, die mit Selman aus scheinbar wertlosem Elektroschrott jenes Rohmaterial gewinnen, das bis heute Begehren und Zerstörung auslöst. Dieser Akt des Recyclings thematisiert die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Familie als Teil einer marginalisierten Gruppe, setzt sich mit gewaltvollen Vorurteilen auseinander und bietet Einblicke in Machtdynamiken, die unsere aktuellen Vorstellungen von Nachhaltigkeit prägen und darüber hinaus Wertschöpfung auf dem Kunstmarkt reflektieren.

„Als Querschnitt ihrer kompromisslosen künstlerischen Praxis vereint her0 Formate und Konzepte, die spezifisch für Selma Selman sind. Ihre Arbeit bezieht sich sehr direkt auf den Begriff des Überlebens – als Künstlerin, als Frau und als Teil einer Familie und Gemeinschaft. Selma Selman verbietet sich den Luxus der Zeit; sie nimmt sich die Freiheit zu träumen, doch setzt ihren Traum dabei bereits um, sie verfällt nie in Passivität. Gleichzeitig reflektiert sie mit ihrer Arbeit die Debatte um Nachhaltigkeit und die rassistischen Vorurteile darüber, wessen Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit als wichtig gilt und wer davon profitiert.“
— Zippora Elders

Mit der Unterstützung von Mitgliedern der Rom*nja-Gemeinschaft, Theoretiker*innen, Techniker*innen, Chemiker*innen, Wissenschaftler*innen und Organisator*innen verwandelt sie das gewonnene Rohmaterial in ein skulpturales Werkzeug: einen goldenen Nagel. 

her0 zeigt einen Querschnitt durch Selmans Oeuvre und verbindet Teile von Motherboards mit einer Vielzahl früherer und neuer Arbeiten. Diese kreisen um die Themen Sehnsucht und Selbstbestimmung und vereinen progressive und aktivistische Aspekte mit einem funktionalen Charakter. Die Präsentation im Gropius Bau umfasst Videos, Malerei und eine Installation sowie die neue Skulptur Satellite Dish. Die kleinformatigen Serien Superpositional Intersectionalism (2020–fortlaufend) und Metal Paintings (2018–fortlaufend) verteilen sich über den gesamten Raum und verbinden Kühnheit mit Fragilität. Das Video Mercedes Matrix (2019) dokumentiert eine Performance, in der die Künstlerin mit ihrer Familie einen Mercedes-Benz demontiert und damit die Grundlage ihrer langjährigen Praxis der Dekonstruktion und der umgekehrten Ausbeutung offenlegt.

Das monumentale Gemälde Dirt 0 (2021) erinnert an abstrakte Malerei, besteht jedoch aus Überresten der Autoverwertung wie Eisenstaub, Schmutz und ausgelaufenen Flüssigkeiten, die direkt von der Ladefläche des Lieferwagens ihres Vaters stammen. Die Serie Metal Paintings (2018–fortlaufend) markiert den Beginn von Selma Selmans künstlerischen Studien, in denen sie die Verbindungen zwischen Metallabfällen, Technologie und Kunst erforscht. Während das Metall der Erde geradezu epischen Ursprungs ist – es entstand in einem potenziell verheerenden und apokalyptischen Meteoritensturm vor 200 Millionen Jahren – basiert Selmans Beziehung zu Metall auf Fragen des täglichen Überlebens. Sie arbeitete bereits als Teenagerin auf einem Schrottplatz. Auf spielerisch-humorvolle Weise kombiniert sie Eindrücke aus ihrem Alltag mit Verweisen auf die Kunstgeschichte und Textcollagen mit verschiedenen Metallobjekten.

Six pieces of Mercedes-Benz (2022) evoziert zarte Körperformen, die sich über die zerlegten Teile eines Mercedes als Symbol kapitalistischen Begehrens ausbreiten. Arrangiert wie ein Altar, werden die kalten Metalloberflächen dessen, was einst männliche Macht repräsentierte, sanft von langen, spinnenartigen Gliedern und organischen Formen eingenommen. Durch das Schaffen einer neuen Anatomie reanimiert Selman dieses ausrangierte Objekt in einem Prozess, den sie „Untotmachen“ nennt. Sie hebt die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine, Subjekt und Objekt auf.

Selmans Zeichnungen Superpositional Intersectionalism (2020–fortlaufend) beziehen sich auf die Quantentheorie, um vorgefasste Vorstellungen von Gegensätzen und Widersprüchen zu hinterfragen. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die ständige Bewegung und Verschiebung von Körpern sowie die Themen Entfernung, Verbindung und Zeit stehen im Mittelpunkt der Skulptur Satellite Dish (2023), die im Gropius Bau zum ersten Mal gezeigt wird.

Den Abschluss von her0 bildet – ebenfalls als Teil des kostenlos zugänglichen Herbst- und Winterprogramms des Gropius Bau – Letters to Omer (2021), eine lyrische Performance, in der Selma Selman ihre intimen Gefühle und Sehnsüchte an eine fiktive Figur namens Omer adressiert. Erzählungen über Weiblichkeit, Sexualität und Patriarchat vermischen sich mit Visionen von einer besseren Welt.

Kuratiert von Zippora Elders mit der Unterstützung von Monique Machicao y Priemer Ferrufino und Elisa Maria Schmitt 

Selma Selman, geboren in Bosnien und Herzegowina, ist eine bildende Künstlerin und Aktivistin mit Romn*ja Herkunft und lebt zwischen Amsterdam, New York und Ružica, Bihać. Im Jahr 2014 erwarb sie ihren Bachelor of Fine Arts an der Fakultät für Malerei der Universität Banja Luka. Im Jahr 2018 schloss sie ihr Studium an der Syracuse University, New York, mit einem Master of Fine Arts in Transmedia, Visual and Performing Arts ab. Selman gründete die Organisation Get The Heck To School, mit dem Anliegen, junge Rom*nja auf der ganzen Welt zu bestärken, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und unter Armut leiden. Von 2021 bis 2023 war sie Stipendiatin der niederländischen Rijksakademie. Sie stellte unter anderem im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin (2023), Autostrada Biennale, Prizren (2023), documenta fifteen, Kassel (2022), Manifesta 14, Prishtina (2022), Kunstraum Innsbruck (2022), MO Museum, Vilnius (2022), Ludwig Múzeum, Budapest (2022), Kasseler Kunstverein, Kassel (2021), National Gallery of Bosnia and Herzegovina, Sarajevo (2021), acb Galéria, Budapest (2021), Queens Museum, New York (2019), Maxim Gorki Theater, Berlin (2017), agnès b. galerie boutique, New York (2017) und 12-14 contemporary, Wien (2016), aus.