Der Choreograf Emanuel Gat im Gespräch mit Moritz Frischkorn, Dramaturg von „Reflexe & Reflexionen“
Was war Ihr Ausgangspunkt für die Arbeit an „Freedom Sonata“?
Ich betrachte meine Stücke nicht als voneinander getrennte Arbeiten. In den letzten 30 Jahren habe ich mir immer wieder dieselben Fragen gestellt, wenn ich ins Studio gegangen bin. Ich finde nur jedes Mal andere Antworten. Der Prozess entwickelt sich weiter, weil ich mich beispielsweise an einem anderen Ort befinde und aufgrund meiner gesammelten Erfahrungen. Jedes Stück gewinnt seine spezifische Form als Nebenprodukt des Kontexts und der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite.
Heißt das auch, dass es den Titel am Anfang des Prozesses noch nicht gab?
Den gab es noch nicht. Wenn ich könnte, würde ich die Titel meiner Stücke immer wieder ändern. Das kann ich nicht, weil es ein Problem für die Vermarktung wäre. Aber die Choreografie ändert sich ständig. Wenn wir nach Berlin kommen, werden 30–40 Prozent des Stücks anders sein als in der Version, die wir letztes Jahr gezeigt haben. Viele Teile wurden rausgeschmissen, andere verändert, neue hinzugefügt. Die Aufführung ist ein sich stetig wandelndes Gebilde.
Musik hat in Ihrem Schaffen schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. Für „Freedom Sonata“ übersetzen Sie die Musik von Ludwig van Beethoven und Kanye West in choreografische Partituren. Wie funktioniert das?
Die choreografischen Partituren und Regeln, mit denen ich arbeite, sind von der Musik unabhängig. Damit Choreografie und Musik in ein Gespräch geraten können, müssen sie autonome Einheiten bleiben. Ich schaffe keine Choreografien, um die Musik zu illustrieren, und ich benutze die Musik nicht, um Tanz oder Choreografie zu unterstützen. Vielmehr interagieren die Tänzer*innen jedes Mal anders mit der Musik, wenn wir das Stück aufführen. Sie werden dazu angeregt, die Musik in Echtzeit und wie in einer Art offenem Dialog neu zu betrachten. Wenn man also zwei Aufführungen sieht, wird man eine Menge Dinge bemerken, die unterschiedlich sind.
Können Sie eine dieser Partituren für Menschen beschreiben, die nicht tanzen?
Ich glaube, das geht am einfachsten durch eine Analogie: Wenn wir uns andere Spiele wie Fußball, Schach oder Poker ansehen, dann sind das einfach nur Regelwerke. Wenn man sich an einen Pokertisch setzt, kennt man im Idealfall die Regeln, sonst kann man nicht spielen. Bei Spielen wie Poker oder Schach hat niemand die Regeln erfunden. Sie sind frei zugänglich und entwickeln sich mit der Zeit weiter. Ich tue dasselbe. Ich denke mir Regeln aus, die ich den Tänzer*innen vorstelle. Wir üben dann gemeinsam. Innerhalb dieses spezifischen Regelwerks haben sie klare Anreize, ihr Potenzial, sich selbst auszudrücken, maximal auszuschöpfen. Da die Tänzer*innen ständig miteinander interagieren, haben sie auch ein gemeinsames Ziel. Sie müssen gemeinsam, als Gruppe, etwas erreichen. In unserem Arbeitsprozess geht es darum, dass sie lernen, wie man dieses Spiel spielt. Irgendwann verstößt jemand gegen die Regeln und tut etwas, dass ich nicht vorgesehen habe. Wenn dieser Vorschlag das Spiel verbessert, dann ahmen andere Tänzer*innen den Regelbruch sofort nach. Es bildet sich eine Art Konsens diesen Regelbruch betreffend. Er wird ganz ohne mein Zutun in das Spiel integriert. Wenn man es auf den Punkt bringen will, geht es um den Unterschied zwischen zentral und dezentral gesteuerten Systemen: In einem zentralisierten System gibt es nur eine Quelle von Autorität. Das System ist vertikal organisiert und Informationen fließen von oben nach unten. In einem dezentralen System gibt es zwar auch Regeln, aber keine zentrale Autorität. Jeder Akteur ist souverän in seinen Entscheidungen.
Weil dieser Begriff im Titel auftaucht: Was ist Ihr Verständnis von Freiheit?
In meiner Arbeit erfinde ich keine neuen Welten oder verbiege die Realität. Ich erfinde keine neuen Naturgesetze, sondern erachte sie als gegeben. Ich erfinde auch nicht den Menschen, soziale Strukturen und die menschliche Natur, sondern erachte sie als gegeben. Vielmehr versuche ich, diese Gegebenheiten zu verstehen und mich auf sie einzustellen. Freiheit ist einfach: eine Selbstverständlichkeit. Wir werden frei geboren. Doch die meiste Zeit in der Geschichte sind wir nicht frei, was eine Anomalie darstellt. Für mich ist Freiheit eine Selbstverständlichkeit. In meiner Arbeit versuche ich dieser Tatsache gerecht zu werden. Die Tänzer*innen müssen frei darin sein, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich kann ihnen diese Freiheit nicht nehmen. Ich frage mich also: Was für ein System kann ich erfinden, das sicherstellt, dass diese Selbstverständlichkeit nicht verloren geht? Dabei gewinnen wir alle: Wenn ich meine Tänzer*innen dazu anrege, viel Verantwortung zu übernehmen, gewinnen auch sie etwas. Was auch immer geschehen wird, hängt von ihnen ab. Wenn sie diese Verantwortung übernehmen, sind sie frei. Das ist ein großer Anreiz für die Tänzer*innen. Freiheit ist eine Lektion in Verantwortung. Das ist es, was die Choreografie einem beibringt. Warum ist es wichtig, zum jetzigen Zeitpunkt Kunst über Freiheit zu machen? Choreografie ist die einzige Kunstform, bei der es um Menschen und ihre Handlungen geht. Wenn ich ins Studio gehe, habe ich Menschen vor mir, keine Töne, Farben oder Worte. Ich frage mich: Wie kann ich diese Gruppe von Menschen am besten organisieren? So wird die Arbeit zu einer unmittelbaren Reflexion über die größte politische Frage aller Zeiten, nämlich wie wir uns als Menschen organisieren. Mit der Zeit wurde mir klar, dass es in meinen Stück nicht mal mehr um meinen persönlichen Geschmack geht. Für die Tänzer*innen sind ihre Bewegungen eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. In der Arbeit geht es um ihre Entscheidungen. Wenn ich über ihre Bewegungen entscheiden würde, würde ich ihre Sprache zensieren. Das ist das Problem mit Freiheit oder Redefreiheit: Man kann sie nicht relativieren. Hätte ich die Macht zu entscheiden, was gesagt werden darf, gäbe es keine Redefreiheit mehr.
(Übersetzung aus dem Englischen: Moritz Frischkorn)