Tanz
Chipp*ies, Potsdam
„Stuhltanz“ von Chipp*ies aus Potsdam © Pia Pauer
Die zwei Tänzer*innen beschäftigen sich mit dem prägenden Gefühl, das im flüchtigen Moment zwischen Kindheit und Erwachsensein entsteht.
Die Aufforderung „Fang mich doch!“, die Lust auf Musik und Vertrauen, der Spaß als Fundament unseres Konzepts sowie der Mut, einfach loszulegen und zu wissen, dass wir irgendwie landen. Begleitet von kindlicher Fantasie, zwölf Jahre lang frech sein, Grenzen testen, aber auch dem Drang sich zu entwickeln und ernstgenommen zu werden. Gestützt von der Beendigung eines Kapitels. Die prägende Phase zwischen Kind sein, aber auch Erwachsenwerden. Gestützt von einem Stuhl. Der Stuhl ist keine Requisite, sondern ein Mitglied im Ensemble, er verschiebt die Wahrnehmung zwischen Solo, Duo und Trio. Gemeinsame Momente – gehalten durch Vertrauen und Überraschung.
Wir sind Paul und Yourina. Unser Leben lang tanzen wir gemeinsam bei Tanzparcours, einem partizipativen und intergenerativen Projekt zur Entwicklung von Zeitgenössischem Tanz unter der Leitung von Kathi, Ludovic und Eléa Fourest. Aus der Lust heraus Neues zu entwickeln, ist das kürzlich gegründete Duo Chipp*ies entstanden. Improvisation nach Planstruktur und Choreografie kombiniert mit zwölf Jahren frech sein. „Stuhltanz“ ist eine Verbildlichung unserer Art Tanz zu schaffen, unserem Verständnis von Tanz und unserer jahrzehntelangen Vertrautheit.
Jurykommentar von Silke Gerhardt
Auf dem Weg zum „Stuhltanz“ durchstreifen wir ein Treppenhaus aus einer vergangenen Zeit, es ist hallig und irgendwie kalt. Wir betreten einen Raum mit kahlen grauen Wänden, nur ein Sessel, eine Stehlampe. Gemeinsam mit Paul und Yourina setzen wir uns und im Raum beginnt sich ein Wohnzimmer-Flair auszubreiten. Ein Video startet: Ein 9-jähriger Junge wirbelt in kindlicher Freiheit mit ungebremster Energie über den Boden, ein Stuhl ist sein Tanzpartner …
Plötzlich steht der Stuhl direkt vor uns, und der Junge ist scheinbar von der Leinwand
gestiegen und hat zehn Jahre hinter sich gelassen. Er greift sein Bewegungsmaterial
aus der Vergangenheit auf und kreiert daraus etwas Neues. Die ungestüme Energie
wirkt jetzt strukturiert eingesetzt. Die langen Linien der Bewegungen füllen den kleinen
Raum und ziehen mich von der ersten Minute an in ihren Bann. Und auch hier ist der Stuhl sein Tanzpartner, wie eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Paul nimmt die Zuschauenden mit auf seine Suche nach der eigenen Identität zwischen Kind sein und Erwachsen werden. Beeindruckend zu beobachten, wie sich die energetischen Bewegungen der Kindheit auf den Körper des jungen Erwachsenen übertragen und dabei eine neue Qualität entstehen lassen. Die ganz eigene Bewegungssprache überzeugt mit ihrer Authentizität. Man spürt, dass es dem Tänzer nicht um eine bestimmte Technik oder Form geht, sondern um das Ausdrücken seiner Gedanken und Gefühle, ganz bei sich zu sein.
Den Weg des Erwachsenwerdens beschreitet man nicht allein und so ist es nur konsequent, dass sich das Solo irgendwann nahtlos zu einem Duo entwickelt. Zwischen beiden Tanzenden spürt man die enge Verbundenheit durch jahrelanges gemeinsames Tanzen. Sie agieren mit Vertrauen, viel Energie und Freude und einer Prise Humor. Obwohl sie ihre persönliche Geschichte tanzen, schaffen sie mit der Vieldeutigkeit ihrer Bilder gleichzeitig einen Raum, in dem wir Zuschauenden unsere eigenen Assoziationen finden können.
Die Produktion berührt durch ihre Leichtigkeit und Frische, die entsteht durch die Verbindung von festgelegten Bewegungsfolgen und improvisierten Teilen, immer entlang der Frage: Wo endet die Kindheit, wo beginnt das Erwachsenwerden?
Nach dem „Stuhltanz“ geht es zurück durch das Treppenhaus. Es wirkt nicht mehr so kalt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich erfüllt bin von der Offenheit, mit der die
Tanzenden ihre Geschichte mit uns geteilt haben. Zurück bleibt mein Wunsch, dass wir
uns alle ein Stück dieser Unbeschwertheit durch den Tanz erhalten mögen!
Stuhltanz – Ergänzung zum Jury-Kommentar
„Stuhltanz“ ist ein Herzensprojekt von Yourina und Paul mit dem sie an der Schwelle des Erwachsenwerdens auf ihre gemeinsame Tanzgeschichte zurückblicken. Sie haben sich als gleichberechtigte Partner*innen in einen gemeinsamen Konzeptions- und Forschungsprozess begeben. Für die Reflexion der eigenen tänzerischen Identität brauchen sie ihr Gegenüber, da ihre tänzerischen Entwicklungen untrennbar miteinander verbunden sind. Die Bilder des jungen Paul sind für beide Ausgangspunkt, die gemeinsam erlernten Bewegungsqualitäten zu überprüfen, zu hinterfragen und zu modifizieren. Yourina und Paul teilen sich den Bühnenraum, sie geben sich Raum, sie nehmen sich Raum. Yourina steigt mit Paul in den ihr vertrauten Bewegungskosmos ein, kommentiert diesen mal frech, mal ironisch, dann übernimmt sie und Paul folgt ihr in eine neue Bewegungsphase. Auf der Bühne entsteht ein intensiver tänzerischer Dialog mit hohen Improvisations-Anteilen der davon zeugt, wie sehr die beiden in der Vergangenheit wie auch im Hier und Jetzt tänzerisch verbunden sind.
Paul Grabow, Yourina Lili Fourest