
Gérard Grisey © Grazia Lissi
Der französische Komponist Gérard Grisey (1946 – 1998) vertritt auf eine sehr persönliche, individuelle Weise die breite Strömung der Klangkomposition im 20. Jahrhundert, in der weder greifbare Motive und Melodien noch abstrakte Strukturen eine nennenswerte Rolle spielen und stattdessen die Vorgänge klanglicher Veränderung im Vordergrund stehen. Für den Ansatz Griseys und einer Reihe ihm künstlerisch nahestehender Komponisten ist charakteristisch, dass er die Möglichkeiten der elektronischen Klanganalyse und der Zerlegung eines Klanges in (Teil-)Spektren nutzt. Dieser quasi naturwissenschaftliche Zugang verbindet sich mit einem rein musikalischen Interesse an der Wahrnehmung, dem hörenden Auffassen von Veränderungen. Oft ist der Hörer in Griseys Musik mit einem in sich sehr allmählich bewegten Kontinuum des Klanges konfrontiert, in dem nach und nach starke Gegensätze vom Harmonischen und Inharmonischen, von Statik und Bewegung oder körperlosem Klingen und Geräusch berührt werden. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Klangfarbe und Harmonik beziehungsweise Akkordstruktur ist dabei aufgehoben. Eine Art Summe seines Schaffens bildet der Zyklus „Les Espaces acoustiques“ (1974 – 1985), in dem sechs unabhängig voneinander aufführbare Kompositionen vom instrumentalen Solo bis zum groß besetzten Orchesterstück zu einem großen, durchgängigen Werk vereinigt sind. In seinem späteren Schaffen vollzog Grisey eine bedeutsame Wende, indem er zum einen unterscheidbare motivische Elemente und Kontraste in sein Komponieren integrierte und zum anderen den Begriff der musikalischen Zeit auf neue Weise in den Blick nahm.
Griseys Leben verlief vergleichsweise unspektakulär. Geboren im elsässischen Belfort studierte er von 1963 bis 1965 in Deutschland in Trossingen und danach bis 1972 am Pariser Conservatoire, wo Olivier Messiaen zu seinen Lehrern zählte. 1972 belegte er Kurse von György Ligeti, Iannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen bei den Darmstädter Ferienkursen. Stipendien und Auszeichnungen stellten sich ein und von 1978 bis 1982 unterrichtete Grisey selbst in Darmstadt. Nachdem er von 1982 bis 1986 einen Lehrauftrag im kalifornischen Berkeley wahrgenommen hatte, wurde er 1986 als Professor für Komposition ans Conservatoire in Paris berufen. Grisey starb früh und völlig unerwartet am 11. November 1998.
Stand: Juni 2019