Luciano Berio

Ein Musikwerk ist nie alleine es hat immer eine große Familie, mit der es klarkommen muss, (...) und es muss im Stande sein, in der Gegenwart auf viele verschiedene Weise zu leben, manchmal die eigene Herkunft vergessend.

Es ist eine ästhetische Position der Offenheit, die Luciano Berio (1925 – 2003) hier formuliert. Jedes Musikstück steht in einem umfassenden Traditionszusammenhang. Aus diesem Zusammenhang heraus, manchmal auch in Opposition zu ihm, öffnen sich vielfältige Möglichkeiten des Verständnisses und des Zugangs. Es kann sogar eine besondere Qualität eines Werkes ausmachen, aus ganz verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet werden zu können. Für ästhetische Dogmen oder Scheuklappen ist in dieser Position Berios kein Platz und genau diese Freiheit von Scheuklappen zeichnet sein kompositorisches Schaffen in besonderer Weise aus. Die Vereinigung von Kunst- und authentischer Volksmusik, das Einbeziehen von Jazzelementen oder komplexer afrikanischer Rhythmik in avantgardistische Kompositionen, verschiedene Verfahren der Montage und des Zitats, das Ignorieren von Gattungsgrenzen, vor allem in den musikdramatischen Werken – all dies sind kompositorische Verfahren und Konzepte Berios, die seine Originalität und seinen Willen zum Verlassen ausgetretener Pfade zeigen.

Das ausgeprägte Traditionsbewusstsein, das Berios Schaffen trägt, war ihm von Haus aus mitgegeben, stammt er doch aus einer Musikerfamilie, in der schon Vater und Großvater als Organisten und Komponisten tätig waren. Es war so nur folgerichtig, dass Luciano Berio sich am Mailänder Konservatorium einschrieb, um Musik zu studieren. Nachdem sich der 19jährige in den chaotischen letzten Kriegstagen eine Handverletzung zugezogen hatte, war an die zunächst ins Auge gefasste Pianistenkarriere nicht mehr zu denken und Berio wandte sich intensiv dem Kompositionsstudium zu. Gleichwohl trat er noch als Klavierbegleiter auf. Hierbei lernte er die amerikanische Sopranistin Cathy Berberian kennen, die zu seiner kongenialen Interpretin werden sollte. In den 1950er Jahren besuchte Berio die Darmstädter Ferienkurse und nahm an den intensiven Diskussionen um Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono teil. Vielleicht noch tief gehender waren die Anregungen, die Berio von der Literatur empfing. Wichtig war zum einen die Lektüre moderner Romane etwa von Joyce, Proust oder Beckett. Zum anderen stand Berio mit drei italienischen Schriftstellern und Theoretikern in einem fruchtbaren Austausch, der seinen Niederschlag auch in musikalischen Werken fand: mit Eduardo Sanguinetti, Italo Calvino und Umberto Eco. Alle vier verband die Idee vom Kunstwerk als einer von Brüchen durchzogenen, vielgestaltig schillernden Einheit einander durchdringender Sinnebenen.

Von den 1960er Jahren an entstanden dann in kontinuierlicher Folge Werke, die Berio zu einem der führenden Köpfe der Neuen Musik machten wie die Sequenza-Kompositionen für ein Soloinstrument, deren Reihe sich bis zur posthum uraufgeführten Sequenza XIV für Kontrabass aus dem Jahr 2002 fortsetzt. Seine vielleicht berühmteste Komposition Sinfonia (1968/69) ist ein Paradebeispiel für ein vielgestaltiges, aus vielen Perspektiven erlebbares Werk, eine faszinierende, labyrinthische Collage aus Stilzitaten und Texten von Samuel Beckett bis Gustav Mahler. Berio war aber auch ein Mann des Theaters, der hoch originelle Werke für die Bühne geschaffen hat. Auch vielen seiner instrumentalen Kompositionen eignet eine spezifisch theatralische Dimension.

Neben der schöpferischen Tätigkeit übernahm Berio eine Vielzahl anderer Aufgaben. So unterrichtete er Komposition – unter anderem zählen die amerikanischen Minimalisten Steve Reich und Terry Riley zu seinen Schülern – und leitete von 1974 bis 1980 die elektroakustische Abteilung an dem von Pierre Boulez ins Leben gerufene IRCAM. Von den späten 80er Jahren an erhielt Berios Œuvre eine zusätzliche Facette, indem er sich nun auch schöpferisch intensiv mit der Musik der Tradition auseinandersetzte. Parallel zu seinem autonomen Schaffen entstanden so etwa Rendering, die Bearbeitung eines Symphoniefragmentes aus Schuberts letztem Lebensjahr, oder seine Vervollständigung von Puccinis Oper Turandot, die dieser nicht mehr bis ganz zum Schluss hatte ausführen können. Am 27. Mai 2003 starb Luciano Berio in Rom.

Stand: September 2010