Dmitri Schostakowitsch, 1950 Foto: Roger Rössung & Renate Rössing © Deutsche Fotothek
Wer in den frühen 1920er Jahren im damaligen Leningrad ein Kino besuchte, konnte mit etwas Glück eine besondere Erfahrung machen. Am Klavier saß ein hoch gewachsener, kurzsichtiger Heranwachsender von nicht einmal 20 Jahren, der mit unfehlbarem dramatischen Instinkt die Begleitung zum gerade laufenden Stummfilm improvisierte: Dmitri Schostakowitsch. Für den jungen, soeben wegen „Unreife“ vom Konservatorium verwiesenen Schostakowitsch war die Arbeit als Kinopianist gewiss nur ein der Not des Augenblicks geschuldeter Broterwerb. Aber sie sollte in seinem Lebensweg durchaus eine Rolle spielen. Durch die Kinomusik kam er in Kontakt mit dem avantgardistischen Theater Wsewolod Emiljewitsch Meyerholds, der schließlich zu seinen ersten Opernprojekten führte. Vor allem aber entsprach diese Art der Musik seinen künstlerischen Neigungen und seiner Fähigkeit zur unmittelbar anschaulichen plastischen musikalischen Erfindung. Mit Leichtigkeit konnte Schostakowitsch dem mit dem Aufkommen des Tonfilms entstehenden Bedarf nach eigens komponierter Musik nachkommen und so macht die Filmmusik, die er als nebensächlich ansah, etwa ein Drittel seines gesamten Schaffens aus.
Schostakowitschs Talent war arrivierten älteren Kollegen wie Alexander Glasunow, dem Rektor des Konservatoriums, nicht verborgen geblieben. Durch sie gefördert konnte Schostakowitsch sein Studium doch noch abschließen, und zwar mit der Uraufführung seiner 1. Symphonie am 12. Mai 1926. Mit dieser ebenso distanziert ironischen wie unzweifelhaft meisterhaften Partitur errang der noch nicht ganz 20 Jahre alte Komponist umgehend internationale Beachtung. Schostakowitschs Aufstieg war nun unaufhaltsam. Er komponierte Werk um Werk und legte in der kurzen Phase der progressiven sowjetischen Avantgarde immer waghalsigere Partituren vor. Mit radikaler Lust am Experiment türmte er wüste Dissonanzen aufeinander, entwarf weite Klangflächen jenseits traditioneller Harmonik, gestaltete unvorhersehbare, aber überzeugende Formverläufe, ließ sich vom Jazz anregen und bezog grell parodistische Elemente in seine Werke ein. Aus dieser Zeit stammt auch ein legendäres Husarenstück, das wie wenig Anderes den künstlerischen Übermut und die exzeptionelle Begabung Schostakowitschs zeigt. Nachdem er auf einer kleinen Gesellschaft ein kurzes Stück amerikanischer Unterhaltungsmusik gehört hatte, wettete er, dass er im Stande sei, das soeben Gehörte aus der Erinnerung niederzuschreiben. Er ließ sich für zwei Stunden in einem Nebenzimmer einschließen und kehrte dann mit der frisch fertig gestellten, neu instrumentierten Partitur zurück. Später ließ er das Stückchen unter dem Titel „Tahiti-Trott“ op. 16 veröffentlichen.
Im westlichen Ausland wurde Schostakowitsch als Exponent einer neuen, sowjetischen Kultur wahrgenommen, von offizieller russischer Seite wurde sein Schaffen indes höchst kritisch gesehen. Die parteitreue Presse bezichtigte ihn „konterrevolutionärer“ Tendenzen und rügte eine mangelnde Verklärung des sowjetischen Daseins. Am 28. Januar 1936 erschien in der Parteizeitung Prawda unter der Überschrift „Chaos statt Musik“ ein Artikel, der offenbar direkt von Stalin inspiriert war und in dem Schostakowitsch scharf angegriffen wurde. Kurz zuvor hatte Stalin eine Vorstellung von Schostakowitschs Oper „Ledi Makbet“ empört verlassen. In einer Zeit rücksichtsloser politischer Säuberungen und Schauprozesse musste der Komponist von diesem Tag an um sein Leben fürchten. Künstlerfreunde wie Meyerhold wurden verschleppt und umgebracht, auch Schostakowitschs Schwager wurde liquidiert. Seine Oper wurde umgehend abgesetzt, seine gerade entstandene 4. Symphonie musste er zurückziehen und Schostakowitsch rechnete damit, jeden Augenblick von Polizei oder Geheimdienst abgeholt zu werden. Tatsächlich fiel er aber nicht in völlige Ungnade, im Gegenteil, ihm wurde sogar eine Professur angetragen und 1937 durfte seine 5. Symphonie aufgeführt werden. Mit diesem Stück gelang Schostakowitsch Außerordentliches. Während es an der Oberfläche den von der Partei ausgegebenen Forderungen der „Volksverbundenheit“ und „Heroik“ genügt, lässt die Musik für verständige Hörer gleichzeitig keinen Zweifel an einer grundsätzlich oppositionellen Haltung gegenüber dem totalitären Regime.
Nach dem Erfolg der 5. Symphonie verlief Schostakowitschs Leben in einem absurden Auf und Ab zwischen Stalinpreisen für seine Filmmusiken oder seinen patriotischen Kompositionen und bedrohlichen Anfeindungen und Verboten seiner autonomen Werke. Dieses Muster setzte sich nach Stalins Tod fort, auch wenn Schostakowitschs Leben nun nicht mehr gefährdet war. Anknüpfungspunkte für Kritik bot er genug, allein schon durch seine Beschäftigung mit jüdischer Musik, die von der Parteilinie strikt verboten war. Ende 1959 wurde bei Schostakowitsch eine unheilbare Rückenmarkskrankheit diagnostiziert und während seine Werke vor allem auch im Ausland immer größere Anerkennung fanden, verbrachte er immer längere Zeit in Krankenhäusern und Sanatorien. Dennoch komponierte er immer weiter und schuf ein eindringliches Spätwerk, das in kargen, oft wie abgestorben wirkenden, dabei höchst ausdrucksstarken Klanglandschaften um die Themen von Tod und Resignation kreist. Dmitri Schostakowitsch starb am 9. August 1975 in Moskau.
Stand: Juni 2016