Igor Strawinsky in Venedig, 1956 . Igor Strawinsky in Venedig, 1956 © MARKA / Alamy Stock Photo
Im Spätsommer 1909 erhielt Igor Strawinsky (1882–1971) ein Telegramm, das sein Leben und den Gang der Musikgeschichte verändern sollte. Absender war der russische Impressario Sergeij Diaghilew, der bei dem bis dato so gut wie unbekannten Rimskij-Korsakow-Schüler anfragte, ob er die Musik zu einem großen Ballett über einen Stoff aus der russischen Märchenwelt schreiben wolle. Die Premiere des Stückes mit dem Titel „Der Feuervogel“ sei für das nächste Frühjahr in Paris angesetzt. Nach einem Moment des Zögerns angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit - „Ich kannte damals meine Kräfte noch nicht“, erinnerte sich Strawinsky später - stürzte sich der junge Komponist in die Arbeit. „Der Feuervogel“ wurde ein glänzender Erfolg. Passagen von mitreißender rhythmischer Kraft und aggressiver Wildheit, kurze, von russischer Volksmusik inspirierte Melodien und ein hoch entwickelter Sinn für Klangfarbe sind die wichtigsten Charakteristika der „Feuervogel“-Musik, die für Strawinskys Schaffen auch weiterhin bedeutsam bleiben sollten. Das entscheidend Neue der Partitur liegt aber eher im Verborgenen. Strawinsky setzt nämlich schon in diesem frühen Werk die traditionelle Harmonik auf weiten Strecken außer Kraft und lässt die Verbindung der Zusammenklänge einer eigenen inneren Logik folgen. Die Zusammenklänge für sich haben dabei selbst noch nichts Revolutionäres. Dies sollte sich in den nächsten beiden Ballettmusiken, „Petruschka“ und „Le sacre du printemps“, ändern. In „Le sacre du printemps“, dessen Uraufführung am 29. Mai 1913 von einem der größten Skandale der jüngeren Musikgeschichte begleitet war, entfesselt Strawinsky einen rhythmischen und klanglichen Sturm von vorher undenkbarer Intensität, schichtet Ostinati zu extremen Dissonanzen übereinander und hebt mit unregelmäßigen Akzenten jede Taktmetrik auf. Exemplarisch tritt in diesem Werk die Montage als ein Grundprinzip von Strawinskys Komponieren hervor, die Arbeit mit festen Bausteinen, die in klaren Kontrasten und scharfen Schnitten nebeneinander gesetzt und übereinander geschichtet werden.
„Le sacre du printemps“ konnte und wollte Strawinsky nicht mehr überbieten. Auch unter dem Eindruck des Krieges schuf er danach zunächst bewusst karge, im Aufwand reduzierte Werke wie z.B. „Die Geschichte des Soldaten“. 1920 ließ sich Strawinsky, der vorher im Exil in der Schweiz gelebt hatte, in Paris nieder. So wie er sich bisher von der russischen Volksmusik hatte anregen lassen, griff er nun Musikstile der Vergangenheit auf, die er sich auf unverwechselbar eigene, verfremdende Weise anverwandelte, und wurde zum Exponenten des Neoklassizismus. In den 1920er Jahren begann er auch mit großem Erfolg als Interpret aufzutreten, zunächst als Pianist, dann aber vor allem als Dirigent eigener Werke.
Das Aufkommen des Faschismus erlebte Strawinsky als eine allgemeine Krise der Kultur in Europa. Persönliche Schicksalsschläge kamen hinzu. Als Strawinsky dann 1939 eine Einladung der Harvard-Universität erhielt, Vorlesungen zur musikalischen Poetik zu halten, sah er die Chance für eine Veränderung seiner Lebensumstände. Zunächst war nur ein vorübergehender Aufenthalt in den USA geplant, aber schon bald reifte der Entschluss, sich dauerhaft in Amerika niederzulassen. Nach Europa kehrte der Komponist nur noch zu Konzertengagements zurück und 1945 wurde Strawinsky, der zuvor die französische Staatsbürgerschaft besessen hatte, amerikanischer Staatsbürger.
Seine amerikanische Zeit brachte eine bedeutsame stilistische Neuorientierung. Angeregt von der Musik der Nachkriegsgeneration setzte sich Strawinsky in den 1950er Jahren mit der Musik Anton Weberns auseinander und adaptierte auf wiederum hoch individuelle Weise serielle Techniken. Als über Siebzigjähriger galt Strawinsky so gleichzeitig als „Klassiker der Moderne“, dessen Werke aus früheren Phasen bei den Konzerten repräsentativer großer Orchester gespielt wurden, und als Avantgardist, der bei den Spezialfestivals für die Musik der Gegenwart aufgeführt wurde und damit fast als Angehöriger der jüngsten Komponistengeneration erschien. Als letztes größeres Werk entstanden 1965/66 die „Requiem Canticles“. Strawinsky starb am 6. April 1971 in New York.