Die Musikgeschichte kennt einige Fälle erstaunlicher Mehrfachbegabungen von Komponist*innen, die sich auch malerisch oder literarisch betätigt haben. Aus diesem kleinen Kreis ragt der Litauer Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 – 1911) heraus, weil bei ihm beide Zweige der Begabung gleich stark ausgebildet waren, sodass man keine Seite seines Schaffens der anderen überordnen kann. Als Maler ist Čiurlionis dem Symbolismus und dem Vorfeld der abstrakten Malerei zuzuordnen, als Komponist der Spätromantik im Fin de siècle. Auf beiden Feldern ist der künstlerische Ertrag schon rein vom Umfang her beeindruckend: Čiurlionis hinterließ etwa 300 Gemälde und Drucke sowie etwa 400 Kompositionen. Deren Hauptteil bilden Klavierwerke, unter denen wiederum die freie Form des Préludes klar überwiegt. Für die Nationalmusik Litauens, das zu Čiurlionis’ Lebzeiten Teil des Russischen Reiches war, war der Komponist die zentrale Gründungsfigur, in seiner Bedeutung vergleichbar etwa mit der von Jean Sibelius für die finnische oder Edward Grieg für die norwegische Musik.
Čiurlionis wurde 1875 in der litauischen Kleinstadt Varėna geboren, wo der Vater als Organist angestellt war. Auch wenn das zeichnerische Talent von Čiurlionis früh sichtbar wurde, stand zuerst die musikalische Ausbildung im Mittelpunkt. Von 1893 bis 1899 besuchte er eine Musikschule, die zum Anwesen eines Adeligen gehörte, der Čiurlionis danach das Studium an der Musikhochschule in Warschau ermöglichte. Kurz nach Studienabschluss entstand 1901/02 das Orchesterwerk „Im Wald“, das bereits Čiurlionis’ individuelle Künstlerpersönlichkeit zeigt. Es folgte ein Studienjahr in Deutschland, in Leipzig. Zurückgekehrt nach Warschau nahm Čiurlionis professionellen Zeichenunterricht und besuchte ab 1904 eine neu eröffnete Kunstschule. Bald trat er mit seinen Bildern in mehreren erfolgreichen Ausstellungen in Warschau und bei der Ersten Litauischen Kunstausstellung in Vilnius (1906/07) an die Öffentlichkeit.
1907 ließ sich Čiurlionis in Vilnius nieder. Von außerordentlicher Bedeutung für Čiurlionis wurde hier die Begegnung mit der Schriftstellerin Sofija Kymantaitė, die er im selben Jahr kennenlernte. Unter ihrem Einfluss besann sich der bisher eher nach Polen hin orientierte Künstler auf seine litauischen Wurzeln und wurde zum Wortführer einen litauischen Nationalkunst. Beide heirateten 1909. Nach der Hochzeit lebte das Ehepaar vorübergehend in St. Petersburg. Gegen Ende des Jahres zeigten sich Erschöpfungserscheinungen bei dem bis dahin rastlos tätigen Künstler. Auch ein ausgedehnter Sanatoriumsaufenthalt brachte keine grundlegende Besserung. Čiurlionis starb im April 1911. Während in der Rezeption seines Schaffens lange Zeit die Malerei im Vordergrund stand, erfährt inzwischen auch sein kompositorisches Schaffen zunehmende Aufmerksamkeit.
Stand: November 2024