
20 Jahre nachdem die Künstlerin, Autorin und Performerin Vaginal Davis von Los Angeles nach Berlin zog, zeigt der Gropius Bau die erste umfassende Einzelausstellung ihres Werks in Deutschland. In ihrem wegweisenden Schaffen verbinden sich Punk und Glamour, queerer Aktivismus und Schwarze Gegenkultur sowie Widerstand und Begehren. Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt präsentiert die gesamte Bandbreite ihres Schaffens und stellt gleichzeitig Ms. Davis’ zahlreiche künstlerische Zusammenarbeiten – unter anderem mit dem Berliner Kunstkollektiv CHEAP und dem New Yorker Künstler Jonathan Berger – in den Mittelpunkt. Die Ausstellung umfasst Malereien, Video- und Filmarbeiten, Zines, Texte, Musik und Performances mit Arbeiten, die zwischenn 1985 bis 2025 entstanden sind. Die Werke werden in sieben großformatigen Installationen im Erdgeschoss des Gropius Bau gezeigt.
„Wir sind begeistert, Vaginal Davis wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Bereits 2019 war sie mit ihrer ersten institutionellen Schau im Gropius Bau zu sehen. Nun bekommt sie mit einem Überblick ihrer Arbeiten aus über fünf Jahrzehnten endlich die Bühne, die sie verdient. Ihre künstlerische Praxis fand immer außerhalb traditioneller Kategorien und Konventionen von Kunst statt und fordert diese bis heute heraus. Im Geiste dieses Punk-Spirits starten wir in unser Frühjahrsprogramm und verfolgen weiter unsere Vision: neu zu denken, was ein Ausstellungshaus sein kann – und für wen es da ist.“
— Jenny Schlenzka, Direktorin des Gropius Bau
Vaginal Davis ist ein lebendes Kunstwerk – Performerin, Autorin und Schöpferin ikonischer Zines, bildende Künstlerin und experimentelle Filmemacherin. Als selbsternannte Blacktress und Drag-Terroristin, Klatschkolumnistin, einflussreiche Person des öffentlichen Lebens und Lehrende ist sie eine wichtige Stimme queerer, Schwarzer Gegenkultur. Seit den 1970er Jahren erweitert sie mit ihrem Schaffen die Grenzen von Kunst, Musik und Performance. Inspiriert von der Militanz der Black Panthers, die in den Vereinigten Staaten für soziale Gerechtigkeit kämpften, benannte sie sich nach der Feministin und Black-Power-Aktivistin Angela Davis, die ebenfalls eine ganz besondere Beziehung zu Berlin hat.
Frühe Punk-Ära
In Los Angeles geboren und aufgewachsen, wurde Vaginal Davis in den 1980er Jahren zur Mitbegründerin der queeren Punk-Szene der Stadt. Ende der 1970er Jahre gründete Ms. Davis die Afro Sisters (die später als Vorgruppe für Happy Mondays und The Smiths auftrat). Es folgten weitere Bands, darunter ¡Cholita! The Female Menudo (mit Alice Bag), die Speed-Metal-Thrash-Band Pedro, Muriel and Esther (kurz: PME, produziert von Steve Albini) sowie black fag (mit Bibbe Hansen, produziert von Kim Gordon und Beck). Vaginal Davis war eine zentrale Figur der sogenannten „Homocore“-Szene, die den Punk in seiner weißen, heterosexuellen Ausrichtung parodierte und herausforderte – und sich gleichzeitig dem normativen Ansatz des schwulen Mainstreams verweigerte. Während der Auftritte ihrer, wie sie es nannte, „multiracial, maxi-gendered“ Bands, schuf Ms. Davis ihre ganz eigene Mythologie, ein Wechselspiel zwischen (Dis-)Identifikation, Fiktion und Gesellschaftskritik. Sie verbreitete ihre Botschaft durch Kunst- und Musiknetzwerke sowie durch ihre selbst herausgegebenen Zines. Schon bald spielte sie vor einem immer größer werdenden Publikum, auf den Bühnen von Nachtclubs und Punk-Venues.
Typologie der Gegenkultur
Zu Beginn der HIV/AIDS-Epidemie und als LGBTQIA+-Rechte so gut wie keine Rolle spielten, schuf Ms. Davis eine radikale Alternative für die Punk- und Queer-Bewegung sowie für alle Menschen, die außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams lebten. Ihrer eigenen Aussage zufolge war Vaginal Davis „zu schwul für die Punkszene und zu punkig für die Schwulen“. Sie wurde zur Verkörperung des disruptiven und destabilisierenden „Terrorist Drag“, verband Freude mit Widerstand und vertrat eine antinormative, antikapitalistische Punk-Ästhetik. Von der berüchtigten HAG Gallery (1982–1989) über ihre Bandprojekte bis hin zu selbstgedruckten Fanzines und ausgefallenen Kunstveranstaltungen: Die Projekte von Ms. Davis waren in aller Munde und schon bald legendär. Club Sucker (1994–1999) – ihre sonntagnachmittägliche Punk- und Performance-Reihe im Stadtteil Silver Lake – bot aufstrebenden Künstler*innen, Bands, Performer*innen und Außenseiter*innen der Kunst- und Underground-Szene von Los Angeles eine Bühne und zog ein vielfältiges, unkonventionelles Publikum an. Schon bald wurde Ms. Davis zur Muse und Inspiration für kulturelle Größen wie die Choreografin Pina Bausch, den Modedesigner Rick Owens, Künstler*innen wie Wu Tsang und Catherine Opie sowie für die entstehende Riot-Grrrl-Szene.
„Alles kulturell Faszinierende und Interessante hat seinen Ursprung in der Halbwelt der Schwarzen Queer-Community. Danach wird es von den heterosexuellen Schwarzen adaptiert und schließlich in die dominante Popkultur übernommen.“ — Vaginal Davis
Berlin
Nachdem Ms. Davis regelmäßig mit dem Berliner Kunstkollektiv CHEAP zusammengearbeitet hatte, zog sie im Jahr 2005 in die deutsche Hauptstadt. Von hier aus wirkt sie bis heute als Protagonistin und Organisatorin in unterschiedlichen kulturellen Bereichen – von internationalen Lehraufträgen, transdisziplinären Projekten, Performances und Ausstellungen ihrer Arbeiten in verschiedenen Kontexten. Seit 2007 kuratiert und moderiert sie die Filmreihe Rising Stars, Falling Stars im Arsenal – Institut für Film- und Videokunst e.V. Auf ihre eigene, unvergessliche Art präsentiert sie seltene Fundstücke, Klassiker und Perlen der Filmkunst. Ein Großteil ihrer besonderen Einführungstexte wurde in einem Reader veröffentlicht. Zwischen ihrer West-Berliner Wohnung und ihrem Atelier im Osten der Stadt wird sie immer wieder von der Textur der deutschen Hauptstadt inspiriert.
„Meine Berliner Vorbilder sind die geniale Filmemacherin Ulrike Ottinger, die großartige, leider verstorbene Birgit ‚I Will Make You Sweat‘ Hein und ihr Ex-Ehemann, der Experimentalfilm-Guru Wilhelm Hein. Berlin ist schön, aber trostlos, genau wie die offizielle Schwesterstadt Los Angeles. Die ‚Distanziertheit‘ der Berliner*innen stört mich nicht. Ich mag es, dass man bei den Menschen hier immer weiß, woran man ist. Es gibt nicht diese erzwungene Vertrautheit und die oberflächlichen Nettigkeiten, für die Los Angeles als Zentrum der banalen Unterhaltungsindustrie bekannt ist. Der graue, wolkenverhangene Himmel und die mürrische Berliner Unverblümtheit sind mir allemal lieber.“ — Vaginal Davis
Die Ausstellung
Fabelhaftes Produkt besteht aus sieben großen Installationen, in denen Geschichten miteinander verflochten sind, die sich auf diversen Bühnen, in pulsierenden Nachtclubs und privaten Galerien abgespielt haben. Vervielfältigt und verbreitet wurden sie durch die Xerox-kopierten Seiten von Zines und umfangreiche Korrespondenzen, die sowohl in Los Angeles als auch in Berlin entstanden. Die Installationen inszenieren das mannigfaltige Archiv von Ms. Davis auf neue Weise, reinterpretieren die Dynamiken ihrer künstlerischen Praxis – und setzen sie in Beziehung zu drängenden Fragen der Gegenwart.
Eine dieser Installationen ist der Carla DuPlantier Cinerama Dome (2024), benannt nach Ms. Davis’ Cousine Carla „Maddog“ DuPlantier von der Band The Controllers, die sie in die Punk-Szene von Los Angeles einführte. Die Installation von Ms. Davis greift die ikonische Architektur des Cinerama Dome am Sunset Boulevard aus den 1960er Jahren auf und zeigt frühe Filme der Künstlerin. Einige dieser Filme enthalten Aufnahmen ihrer progressiven Punk-Konzerte und Nachtclub-Auftritte aus den 1990er Jahren und thematisieren ihre Rolle im queeren Underground von Los Angeles. Begleitet werden diese Arbeiten von ausgewählten Materialien aus dem umfangreichen Archiv von Ms. Davis.
Viele Werke von Vaginal Davis enthalten gesellschaftskritische Kommentare in einem skurrilen, unkonventionellen Stil: In ihrem No-Budget-Video That Fertile Feeling (1983) verkörpern Vaginal Davis und Fertile La Toyah Jackson zwei Frauen am Rande der Gesellschaft. Das Werk wurde zunächst von Filmfestivals abgelehnt, gilt inzwischen aber als Kultklassiker und wirft einen kritischen Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft und den eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung von Menschen, die in Bezug auf race, Geschlecht und Klasse Diskriminierung erfahren. Ihr wegweisender Film The White to be Angry (1999) hinterfragt Konstruktionen und Sehnsüchte rund um die Kultur der weißen Vorherrschaft und wirft ein scharfes Schlaglicht auf den Rechtsextremismus in den USA – ein Thema, das heute relevanter denn je erscheint.
Die Installation HAG – small, contemporary, haggard (2012/2024) ist eine Hommage an die HAG Gallery, die Ms. Davis 1982 in ihrer damaligen Wohnung am Sunset Boulevard 7850 in Hollywood eröffnete. In den sieben Jahren ihres Bestehens präsentierte HAG vor allem Werke von Personen, die sich selbst nicht als Künstler*innen betrachteten und keine Kunsthochschule besucht hatten – von Musiker*innen wie Alice Bag und Colleen Pancake bis zu Schauspieler*innen wie John Drew Barrymore und Holly Woodlawn. Die Installation im Gropius Bau zeigt Ms. Davis’ charakteristische Kosmetik- und Temperamalereien von „Frauen, gefangen in den Körpern von Frauen“, Tapeten-Collagen über lesbische Häuslichkeit und totemistische Skulpturen aus Brotteig. All diese Arbeiten von Ms. Davis entstanden in Berlin.
The Wicked Pavilion (2021) führt die Besucher*innen tiefer ins Universum von Vaginal Davis: In der Fantasia Library entwirft Ms. Davis ihr eigenes Selbstporträt als Schriftstellerin und huldigt in einem Pantheon weiblicher Autorinnen zugleich ihren literarischen Vorbildern. Im zweiten Raum, dem in Josephine-Baker-Pink gehaltenen Tween Bedroom, offenbart sie sich selbst durch die Wünsche und Fantasien eines Mädchens kurz vor dem Eintritt ins Teenageralter; den Mittel- und Höhepunkt bildet dabei ein überdimensionaler Dildo in einem rotierenden Bett.
In der Installation Naked on my Ozgoad: Fausthaus – Anal Deep Throat (2024/2025) unterstreicht Vaginal Davis ihre lebenslange Faszination für die 13 Bände umfassende Oz-Reihe von Autor L. Frank Baum und Illustrator John R. Neill. Das neue Multimedia-Werk entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Jonathan Berger.
Die Installation HOFPFISTEREI gewährt einen Einblick in Ms. Davis’ Schreibpraxis – von ihrer Zeit als Teenager-Korrespondentin in Los Angeles über ihre legendären Zines bis hin zu ihren späteren Jahren als „Friction Writer“. Die Präsentation umfasst eine Vielzahl von Genres – Lyrik, journalistische Langformen, fiktive Bekenntnisliteratur und Kolumnen für die Klatschspalten der Boulevardpresse. Sie reflektiert die dynamische Wandelbarkeit der Künstlerin zwischen urbanem Nachtleben, akademischen Vorlesungen und Kunstgalerien. Die verschiedenen Formate verweisen auch auf die unterschiedlichen Verbreitungs- und Zirkulationskanäle, die Ms. Davis im Laufe der Jahrzehnte genutzt hat und die den Weg für zahllose digitale selbst herausgegebene Ausgaben ebneten. Speaking from the Diaphragm, Ms. Davis’ langjähriges Online-Tagebuch, entstand in den Anfängen des Internets, lange bevor das Bloggen populär wurde.
CHEAP
Als neuestes Werk präsentiert das Berliner Kunstkollektiv CHEAP die Video-, Sound- und Objektinstallation Choose Mutation, mit Fotografien von Annette Frick (Konzept von Susanne Sachsse, Marc Siegel und Martin Siemann). Das titelgebende Video Choose Mutation kombiniert gefundenes und selbstproduziertes Filmmaterial zu einer dystopischen Collage über Paranoia und die Auswirkungen sozialer und politischer Kontrolle auf Sprache und Körper. Der Titel ist inspiriert von dem Artikel Learning from the Virus des Schriftstellers und Philosophen Paul B. Preciado aus dem Jahr 2020 – einer Reflexion über die politischen Dimensionen von Krankheit, Immunität und Gemeinschaft. Die Installation wird von neun überlebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien von Annette Frick begleitet, darunter Porträts der Mitglieder von CHEAP aus einigen ihrer frühesten Projekte wie dem CHEAP Klub.
Das Kunstkollektiv CHEAP wurde 2001 in Berlin gegründet. Die Praxis von CHEAP umfasst Performances, Videos, Festivals, Konzerte, Installationen und Radiosendungen. In all ihren Formaten verbinden sie Theorie und Vergnügen, Politik und Laune, Ästhetik und Sex. Das Kollektiv arbeitet häufig mit Künstler*innen aus verschiedenen Disziplinen zusammen, unter anderem mit Jonathan Berger, Bruce LaBruce, Pola Sieverding und Xiu Xiu. Ms. Davis kollaborierte von Anfang an mit der Gruppe, zunächst als Gast, später als wichtiges Mitglied des Kollektivs.
Vaginal Davis wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im östlichen Teil von Los Angeles geboren, als Tochter einer Schwarz-Kreolischen Mutter und eines mexikanischstämmigen Vaters. Ihre Darbietung in einem Theaterstück in der Grundschule erregte die Aufmerksamkeit der lokalen Presse, sie nahm an dem Bildungsprogramm Mentally Gifted Minors teil und veranstaltete im Alter von acht Jahren in der Pio Pico Library, Los Angeles, ihre erste Ausstellung über die berühmten Oz-Bücher von L. Frank Baum. Inspiriert von der Militanz der Black Panthers, die für soziale Gerechtigkeit in den Vereinigten Staaten kämpften, benannte sich Vaginal nach der feministischen Polit-Aktivistin Angela Davis und schrieb damit ihren Namen für immer in die Geschichte ein: Vaginal Davis.
Save the Date: Berlin Art Week
Zur Berlin Art Week, vom 10. bis 14. September 2025, lädt der Gropius Bau zu einem großen Live-Programm mit Vaginal Davis und langjährigen Weggefährt*innen ein. Weitere Informationen folgen in Kürze.
Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt ist organisiert vom Moderna Museet, Stockholm, in Zusammenarbeit mit dem Gropius Bau, Berlin, und MoMA PS1, New York.
Die Ausstellung im Gropius Bau ist kuratiert von Hendrik Folkerts, Kurator für internationale zeitgenössische Kunst und Leiter der Ausstellungen, Moderna Museet, mit Christopher Wierling, Assistenzkurator, Gropius Bau, und Savannah Thümler, Volontärin Direktion, Gropius Bau.
Ausstellungsmanagement Gropius Bau: Filippa Carlini und Katharina Heise, Projektleitung
Die Ausstellung in Stockholm wurde organisiert in Zusammenarbeit mit Eva-Lena Bergström, Nationalmuseum, Anna Efraimsson, MDT (Moderna Dansteatern), Richard Julin und Therese Kellner, Accelerator an der Stockholms Universitet, Marti Manen und Isabella Tjäder, Index – The Swedish Contemporary Art Foundation, und Cecilia Widenheim, Tensta konsthall. Sie wurde gefördert von der Terra Foundation for American Art sowie der Andy Warhol Foundation for the Visual Arts.
Katalog
Vaginal Davis: Magnificent Product wird von einer umfangreichen Publikation begleitet. Darin enthalten sind Beiträge renommierter Autor*innen wie Lia Gangitano (Gründungsdirektorin, PARTICIPANT INC, New York), Bojana Kunst (Professorin, Universität Gießen), Elisabeth Lebovici (Kritikerin, Paris) und Troizel (Künstlerin und Schriftstellerin, New York). Der Katalog enthält außerdem zwanzig Briefe an Vaginal Davis von ehemaligen Mitarbeitenden, Freund*innen und Kompliz*innen wie Künstler*innen Jonathan Berger und Wu Tsang, dem Kunsthistoriker Darby English, der Schriftstellerin Lisa Teasley und Bandmitgliedern von Xiu Xiu.