Diskurs- & Performanceprogramm

All that is Musical in Us is Memory: Von Exil, Verwandtschaft und (Nicht-)Zugehörigkeit

Kuratiert von Natasha Ginwala und Magnus Elias Rosengarten

Das abstrakte Video Still zeigt ein Langzeitbelichtung. Eine horizontale, schnelle Bewegung erzeugt regenbogenartige farbige Linien vor dunklem Hintergrund. Sie lädt zu Assoziationen ein, z. B. zu einer Stadt in der Nacht mit Lichtern und Verkehr.

Aziz Hazara, Takbir, 2022 Courtesy of the artist and Experimenter

An zwei Abenden mit interdisziplinären Gästen aus Literatur, Theater, Film und Musik reflektiert dieses Programm über Zustände der (Nicht-)Zugehörigkeit, kreative Verwandtschaften und die systemischen Hierarchien, die heute in der Ortsgestaltung vorherrschen.

„All That is Musical in Us is Memory“, eine Chiffre aus dem Werk des in der Sowjetunion geborenen, ukrainisch-amerikanischen Lyrikers Ilya Kaminsky, setzt sich mit Konturen von Exil auseinander, mit dem Gefühl der (Nicht-)Zugehörigkeit und erweiterter Verwandtschaft. Bei diesem zweitägigen Treffen im Rahmen des Festivals „Performing Exiles“ diskutieren wir Vorstellungen davon, wie Wissen über Literatur, Film und Klangkunst bleibende Erinnerungen und ihr Wiederaufleben im Kontext des temporären und langfristigen Zuchfluchtsorts Berlin – und von Deutschland insgesamt – prägt. Die ukrainische Autorin und Dichterin Oksana Stomina, die syrische Lyrikerin und Aktivistin Kholoud Charaf mit Tobias Diener und Ina Herkenhoff und andere denken mit den Mitteln der Literatur über Subjektivitäten von Flucht und Machtstrukturen nach, und über Poetik als einen Bereich von Fugitivity, Widerstand, Humor und Erkenntnis. In Gesprächen und Filmen verhandeln die Künstler und Filmemacher Aziz Hazara und James Gregory Atkinson Aspekte von Vertreibung, Überwachungspraktiken und Entfremdung und hinterfragen damit hegemoniale Bildsprachen. In einer Lecture Performance untersucht die Theaterregisseurin und Performerin Viviana Medina Medina ausgelöschte Geschichten kubanischer Migration im Kontext der früheren DDR und ihren Nachhall bis in unsere Gegenwart.

Beide Veranstaltungstage von „All That is Musical in Us is Memory“ werden von Klangperformances und Hörsessions begleitet, gestaltet von Lamin Fofana, Produzent elektronischer Musik, Künstler und DJ, sowie vom Berliner Reissue-Label Habibi Funk Records. In diesen gemeinsamen Momenten werden wir darüber reflektieren, wie künstlerische Zugehörigkeit am Scheideweg einer Stadt wie Berlin wahrgenommen werden kann, einer vielstimmigen – mitunter brutalen – Stadt, die immer wieder zu einem ungewöhnlichen Ort der Begegnungen wird.

23. Juni 2023

The Open Boat von Lamin Fofana

17:00 – 17:30 Uhr Playlist, Foyer
19:20 – 20:00 Uhr Performance, Hauptbühne
21:30 – 22:15 Uhr Performance, Hauptbühne

Die Performance steht im Kontext des andauernden musikalischen Outputs und der Installations-Avatare des Künstlers. Sie zeigt die Komplexität diasporischer Erfahrungen und Vertreibung als Folge imperialistischer Gewalt und knüpft dabei an das Lebenswerk bedeutender Schwarzer Autor*innen wie Kamau Brathwaite, Amiri Baraka, Édouard Glissant, Christina Sharpe und Sylvia Wynter an. Mittels Klangmontage werden die turbulenten Ungewissheiten unserer Zeit reflektiert und Räume von kollektiven Träumen, Echos und gemeinsamen Vorstellungen geschaffen. Fofanas Ansatz erschafft akustische Landschaften als textliche Ensembles, als labyrinthisches Bewusstsein und als klangliche Bewegungen, die sich einem Abschluss widersetzen.

Ever-Changing Seasons
mit Kholoud Charaf , Tobias Diener und Ina Herkenhoff, Stella Nyanzi und Oksana Stomina,
moderiert von Natasha Ginwala

17:30 – 19:00 Uhr Vorträge und Gespräche, Hauptbühne

Den Auftakt bilden mehrsprachige Vorträge von Dichter*innen, Lyriker*innen und Aktivist*innen, in denen mit Wort- und Klangbeiträgen Themen von Dissens, Entwurzelung, Verweigerung und der Sehnsucht nach Gemeinschaft nachklingen. Aus ihren situierten Perspektiven, die Ostafrika, Syrien und die Ukraine umfassen, behandeln Kholoud Charaf, Stella Nyanzi and Oksana Stomina als Schriftsteller*innen im Exil die Subjektivitäten von Flucht sowie gemeinsame Wege, die von biografischer Zeitlichkeit, Machtstrukturen von Grenzziehungen und fragwürdigen Solidaritäten in Deutschland geprägt sind.

Recursive Scenes, Approaching Figures
mit Aziz Hazara und Taqi Akhlaqi,
moderiert von Natasha Ginwala

20:15 – 21:15 Uhr Film und Gespräch, Hauptbühne
teilweise mit DGS-Verdolmetschung

Mit dem Fokus auf der Landschaft von Kabul werden im Rahmen dieses Gesprächs zwischen dem Künstler Aziz Hazara und dem Autor Taqi Akhlaqi auch Filmsegmente gezeigt und Texte gelesen. Dabei tauschen sich beide über geteilte Erfahrungen der militärischen Intervention, das alltägliche Leben unter Überwachungsstrukturen und die Auswirkungen einer erzwungenen Flucht auf verschiedene Generationen aus. Ihre klanglichen und sprachlichen Beiträge bieten kreative Ansätze, um in einer Zeit der umfassenden Zerstörung und Umschreibung durch die NATO-Intervention, der Unterdrückung durch Kriegstreibende und der Machtübernahme der Taliban in den Bereich der Fiktion und subjektiver Chroniken vorzudringen.

24. Juni 2023

Sudan – a sonic reminiscence von Habibi Funk
mit Larissa Fuhrmann und Muhammad Salah Abdulaziz

17:00 – 17:30 Uhr Playlist, Foyer
19:15 – 20:00 Uhr Listening Session, Hauptbühne
21:30 – 22:15 Uhr Listening Session, Hauptbühne

Ergänzt durch seltene Videoaufnahmen, bündelt diese Listening Session sudanesische Musik – insbesondere Jazz, Soul und Funk. Die politischen Texte dieser Musik entstanden in den Jahrzehnten vor dem Militärputsch 1989, der eine 30-jährige Diktatur unter Umar al-Bashir zur Folge hatte. Habibi Funk ist bestrebt, diese Klangzeugnisse zu erhalten und wieder zu veröffentlichen, und präsentiert Bands wie Kamal Keila, Sharhabeel Ahmed, The Scorpions und Saif Abubakr. Seit dem Ausbruch des Krieges im Sudan am 15. April 2023 zerstören die rivalisierenden Streitkräfte systematisch das Zentrum der Hauptstadt Khartoum – darunter auch Universitäten, Bibliotheken, Archive und Wohnhäuser. Die Bewahrung der sudanesischen Kunst- und Musikgeschichte ist Teil des anhaltenden Kampfes gegen Militärdiktatur und politische Gewalt.

C.V. von Viviana Medina Medina
mit Sara Claire Wray, anschließend Gespräch
moderiert von Magnus Elias Rosengarten

17:30 – 18:10 Uhr Performance Lecture, Hauptbühne (auf Deutsch und Spanisch)
18:15 – 18:45 Uhr Gespräch, Hauptbühne (auf Englisch)

„C.V.“ bietet private Einblicke in die Briefe, die C. von seiner Familie in Kuba in die ehemalige DDR erhält. Während das vom Kalten Krieg gezeichnete Regime über Nacht zerbröckelt, drohen die vielen mit dem Land verbundenen Migrationsbewegungen und Schicksale zu verschwinden. Die Tochter V. hält als Archivarin der Familie diese verborgenen Momente, Begegnungen und neuen Beziehungen, die sich in Ostdeutschland entwickelt haben, fest. „C.V.“ gräbt den Briefwechsel mit der Performerin Sara Claire Wray aus, um an die vielen Lebenslinien der Vertragsarbeiter*innen in der ehemaligen DDR zu erinnern. Medinas Lecture Performance beleuchtet eine kubanisch-ostdeutsche Perspektive auf das Exil.

Imagining Otherwise: Black German Authorship
mit James Gregory Atkinsonund Karina Griffith,
moderiert von Magnus Elias Rosengarten

20:15 – 21:15 Film und Gespräch, Hauptbühne

Die Künstler*innen und Kurator*innen James Gregory Atkinson und Karina Griffith untersuchen das Fortbestehen von Anti-Schwarzem Rassismus in den gesellschaftlichen Strukturen und im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland, insbesondere durch filmische Arbeiten, Dialoge mit der Bevölkerung und Archivarbeit. Atkinsons „Zeitkapseln“ etwa legen Schwarze Vergangenheiten in Deutschland offen, die bis ins preußische Kaiserreich zurückreichen. Sie erzählen zum Beispiel vom Leben des Orchesterdirigenten Gustav Sabac el Cher oder von der Filmfigur Toxi, die sinnbildlich für die sogenannten „Besatzungskinder“ steht – Kinder weißer deutscher Mütter und Schwarzer amerikanischer GIs im Nachkriegsdeutschland. Griffiths Arbeit befasst sich mit kolonialen Brüchen und den Möglichkeiten, wie sich das Streben nach Heilung und Wiedergutmachung durch kreative Communities entfalten kann. Ihre Methode des „spekulativen Kuratierens“ stellt einen visionären Ansatz für kuratorische Prozesse dar: Indem sie Archivlücken in der deutschen Kinogeschichte durch die Aktivierung der Vorstellungskraft füllt, stellt sie Schwarze Autor*innenschaft wieder her und erweitert die Grammatiken der Zuschauer*innen.

Mit

Taqi Akhlaqi, James Gregory Atkinson, Kholoud Charaf, Tobias Diener und Ina Herkenhoff, Lamin Fofana, Habibi Funk, Karina Griffith, Aziz Hazara, Viviana Medina Medina, Stella Nyanzi, Oksana Stomina und anderen

Eine Veranstaltung der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals „Performing Exiles“ in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin

Das Diskursprogramm wird gefördert von der Allianz Foundation und der Bundeszentrale für politische Bildung.