„Eine spielerische Haltung ist mit der Offenheit für Überraschungen verbunden, mit der Bereitschaft, albern zu sein, mit der Bereitschaft zur Selbst-Konstruktion oder Re-konstruktion und zur Konstruktion und Re-konstruktion der ‚Welten‘, die wir spielerisch bewohnen. (…) Der Versuch, uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen in einer spezifischen ‚Welt‘ zu erfassen, eröffnet uns die Gelegenheit, uns selbst zu studieren, zu untersuchen und zu begreifen. Sodann werden die Möglichkeiten für das Spiel der Person sichtbar, die man in dieser ‚Welt‘ ist. Man kann sich sogar dazu entschließen, ganz in dieser Person zu leben, um sie besser zu verstehen und ihre kreativen Möglichkeiten aufzuspüren.“
— María Lugones
Die Philosophie von Spiel und Spielen wird oft mit Philosophen wie Hans-Georg Gadamer, der das Spielen als grundlegenden Aspekt von Erfahrung und Leben des Menschen verstand, oder Johan Huizinga, Autor des Bands „Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur“ [1], in Verbindung gebracht. Ihre verallgemeinernden und dabei euromodern-begrenzten [2] und vorschreibenden Interpretationen betrachten jeweils auf eigene Weise das bestimmten Regeln folgende Spiel als höchste Form spielerischer Aktivität. Es basiert auf dem Wettbewerbsgedanken und dem Versuch, einen Sieg über die Gegner*innen zu erringen, indem ihr Territorium erobert wird oder man sich der Symbole ihrer Stärke bemächtigt. Es steht damit im Gegensatz zum ludischen Verhalten nicht-euromoderner Menschen und/oder einiger Tierarten, das vermutlich in einem gewissen Maße strukturiert sein und Regeln sowie Fähigkeiten voraussetzen muss, um als echtes Spiel betrachtet werden zu können. Anders gesagt erwachsen die euromodernen Konzepte von Spiel und Spielen aus den modern/kolonialen Prinzipien von Agonistik oder Konkurrenzdenken, die nicht nur Beziehungen zwischen den Subjekten markieren, sondern auch Politik, Wirtschaft und Wissensproduktion sowie die Art und Weise, wie wir mit anderen Spezies und dem gesamten Planeten umgehen. In ihrem heute als klassisch zu betrachtenden Artikel „Playfulness, ‚World‘-Travelling and Loving Perception“ [3] hinterfragt die de-koloniale, queer-feministische Autorin María Lugones diese agonistische Denkweise und die Hierarchie der Spiele, die sie hervorbringt.
Lugones sucht nach einem Weg, andere Kulturen und Individuen mithilfe nicht-agonistischen Spiels als Raum für Dialog, Empathie, Relationalität, Entwicklung und echtes Interesse am anderen – anstelle überheblicher Wahrnehmung und Wettbewerb, die letztlich auf Entmenschlichung basieren – zu begreifen. Daher stammt ihre Metapher einer Reise in die Welten anderer mit einer Haltung liebevoller Wahrnehmung und Verspieltheit als potentiellem Zugang zu ansonsten möglicherweise undurchlässigen Welten. Lugones stellt die Liebe als besondere Methode der Erkundung dar: „Durch diese Reise können wir verstehen, was es bedeutet, diese anderen zu sein, und was es in ihren Augen bedeutet, wir zu sein. Erst wenn wir in die ‚Welten‘ der anderen gereist sind, sind wir voreinander ganz Subjekt“[4] . Im Gegensatz zu Huizinga und Gadamer bietet Lugones keine genauen Definitionen für nicht-agonistisches, liebevolles Spielen, sondern beschreibt es als regellos und dabei bewusst absichtsvoll. Es legt keinen Wert auf das Gewinnen und entsteht nicht aus Rivalität. Vor allem ist es jedoch ergebnissoffen und prozesshaft; es zeichnet sich durch Unsicherheit und Freude an der Überraschung aus sowie durch eine Faszination für die Welt. Liebevolles Spiel ist eine besondere Haltung oder Art der Wahrnehmung des Selbst wie auch der anderen Menschen, unserer Umwelt und anderer Arten, die uns durch eine Aktivität trägt und sie zum Spiel macht: „Wir sehen uns selbst nicht als allzu wichtig an, wir stecken nicht in bestimmten Konstruktionen unserer selbst fest, was unter anderem bedeutet, dass wir bereit sind, uns selbst zu rekonstruieren. Vielleicht gibt es keine Regeln, und wenn es sie doch gibt, dann sind sie uns nicht heilig. Wir denken nicht über Fähigkeiten nach. Wir hängen nicht übermäßig an einer bestimmten Art und Weise, die Dinge zu tun. Beim Spielen überlassen wir uns nicht ganz und gar einer bestimmten ‚Welt‘ und sind auch keiner ‚Welt‘ fest verhaftet. Wir sind auf kreative Weise dort. Wir sind nicht passiv”[5] . Und so geht es beim liebevollen Spielen genauso sehr um Begegnungen mit anderen wie um das Erfahren der vielfachen eigenen Identitäten. Lugones stellt dieser spielerischen Fluidität des liebevollen Rollenspiels die wichtigtuerisch-arrogante Haltung agonistischer Spieler*innen gegenüber, die mit ihren fixierten, selbstgefälligen Konzepten letztlich nicht in der Lage sind, in die Welten anderer zu reisen, ohne sie zu zerstören. Liebevolles Spielen ist ein Abenteuer in dem Grenzbereich, in dem Menschen und andere spielende Wesen von Regeln, Kontrolle und der Tyrannei der Missbilligung befreit sind und, ähnlich wie die Menschen auf mittelalterlichen Jahrmärkten, ihre Gestalt ändern, um sich für eine Zeit in den anderen und sein Gegenüber zu verwandeln, wenn schon nicht in Objekte und Einheiten. Allerdings bedeutete dieses Erlebnis auf europäischen Jahrmärkten des Mittelalters eine nur sehr kurze Befreiung und Desakralisierung, gefolgt von umso strengerem Regelgehorsam. Lugones verstößt jedoch genau gegen diesen Grundsatz des regelgebundenen Spiels und bringt damit die grundlegende, modern-koloniale Onto-Epistemologie zu Fall. Sich in diesem vagen und unbestimmten, spielerischen Grenzland wie ein Narr zu verhalten, bedeutet „sich nicht um Fähigkeiten zu scheren, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, die Normen nicht als heilig zu erachten und Ambiguität und Zweischneidigkeit als Quelle des Wissens und des Glücks zu betrachten“ [6] .
Ihr Beispiel für ein dergestalt offenes und unbeschwertes Spiel ist eigentlich kein Spiel im engeren Sinne, sondern die ludische Interpretation einer ansonsten alltäglichen Aktivität: Gemeinsam nasse Kieselsteine am Ufer eines Flusses aufzubrechen, um die wunderschönen Farben im Inneren der Kiesel zu bewundern, wurzelt in einer geteilten Faszination für die Schönheit der Welt, die in ihrer endlosen Vielfalt nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Und durch diese gemeinsame Bewunderung kann eine liebevolle Haltung zu den Partner*innen im Spiel gelernt und praktiziert werden, seien sie menschlich oder nicht-menschlich, belebt oder unbelebt. Hier spielen die Partner*innen nicht im Wettbewerb um den weitesten Wurf. Vielleicht geht es in dieser spielerischen Aktivität darum, uns selbst und andere durch die liebevolle Begegnung mit anderen Wesen und mit der Welt, als Ergebnis der mehrräumlichen Hermeneutik, immer wieder neu zu erfinden und zu verstehen [7] . Das gegenseitige Verstehen ist selbst dann noch möglich, wenn es durch den fehlenden hermeneutischen Horizont erschwert wird (wenn man beispielsweise aus unterschiedlichen Welten, Kulturen, historischen Zusammenhängen, sprachlichen Universen oder Arten stammt). In diesen Fällen bedeuten Dialog und Erfahrungslernen des anderen besondere Anstrengungen, idealerweise in Form von Spiel, das nur dann möglich ist, wenn wir uns eine liebevolle, nicht arrogante Wahrnehmung zu eigen machen sowie ein selbst-ironisches Bewusstsein unserer komplexen Beziehungen zu anderen.