Vortrag
Eine Konzertrede
Einführung und eine Rede zum Abschied der Berliner Lektionen: Manfred Lahnstein
Jos van Immerseel © Alex Vanhee
Das, was wir für »klassische Musik« halten, unterliegt Voraussetzungen der Musikpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts. Musik klang jedoch noch bis vor 80 Jahren ganz anders als heute. Instrumente haben sich verändert, ebenso wie Größen von Ensembles, Gefühl für Geschwindigkeiten, Tonhöhen usw. Der belgische Dirigent und Pianist Jos van Immerseel (*1945) führt mit seinem 1987 gegründeten Orchester Anima Eterna Brugge Werke so auf, wie die Komponisten sie im Ohr hatten. Mit historischen Instrumenten, in der Spielpraxis der Zeit, flankiert mit Erkenntnissen von Musikgeschichte und Instrumentenkunde. Dies als weltfernes Spezialistentum zu bezeichnen, ginge ganz an der Sache vorbei, denn Instrumente früherer Zeiten waren noch nicht standardisiert. Von Epoche zu Epoche, von Land zu Land und Erbauer zu Erbauer klangen sie ganz unterschiedlich. Und in dieser Unterschiedlichkeit prägten sie die Komponisten. Intention dieser historisch aufgeklärten Musizierpraxis ist es, den Klang erfahrbar zu machen, für den ein Komponist tatsächlich geschrieben hat. Die Ergebnisse sind überraschend und neu, denn die Werke entfalten in diesen Aufführungen ihre ganze Individualität, Kraft und Charakteristik. Sie erhalten einen Farbenreichtum, eigenartige Transparenz, beglückende Materialität. Seit Hörer, Konzertveranstalter und Plattenlabels das erkannt haben, ist Jos van Immerseel in den Konzertsälen dieser Welt unterwegs, sei es mit seinem Orchester oder solistisch als Pianist. Sein Musizieren provoziert auch die Frage: Wodurch ist unser Hören geprägt? Wo sind wir, wenn wir hören? Jos van Immerseel besitzt eine große Sammlung wertvoller historischer Flügel. Zum Finale der Berliner Lektionen bringt er drei seiner Instrumente auf die Bühne des Hauses der Berliner Festspiele: Einen Flügel von Christopher Clarke aus dem Jahr 1988 (Nr. 17) gebaut in Cluny nach Plänen des Wiener Klavierbauers Anton Walter vom Ende des 18. Jahrhunderts, einen Flügel von Ignace Pleyel, erbaut 1841 in Paris, sowie ein »Piano de concert Erard«, gebaut in Paris Werkstatt Sébastien Érard) im Jahr 1886, (Nr. 61.717). Mit diesen drei Instrumenten lotet er die für das Hören konstitutiven Zusammenhänge zwischen Körper (des Musikers, des Instruments), Musik und ihrer Interpretation aus.