Programm 2019

Neue Stimmen und internationale Begegnungen: Make some noise!

Die Auseinandersetzung zwischen starken künstlerischen Stimmen erweist sich oft als Motor interessanter Bands, Ensembles und Szenen. Spätestens seit sich im Chicago der 1960er Jahre eine Gruppe von afroamerikanischen Avantgarde-Musiker* innen – darunter auch Anthony Braxton – zur Association for the Advancement of Creative Musicians zusammenschloss, organisieren sich solche individuellen Charaktere immer wieder in Kollektiven, die Produktionsbedingungen und Aufführungspraxis ihrer Musik (mit)gestalten und Freiraume kreativer Autonomie gegen den Druck der Verwertungssysteme positionieren.

Das Jazzfest Berlin 2019 knüpft mit diesem Fokus auf Communities, Kollektive und internationale Begegnungen, aber auch auf Improvisation als Kultur und Sprache solcher Gemeinschaften, an bereits geschlossene Partnerschaften an und lädt zugleich eine Vielzahl von neuen Stimmen ein, die ihre Deutschlandpremiere feiern.

Ein Repräsentant dieser Praxis der Überbrückung und Begegnung ist der US-amerikanische Komponist, Multiinstrumentalist, Lehrer und Visionär Anthony Braxton, dem das Jazzfest Berlin in diesem Jahr einen Schwerpunkt widmet. Mit der erst dritten Aufführung weltweit seines Großprojekts „Sonic Genome“ eröffnet die diesjährige Festivalausgabe am Donnerstagabend im Gropius Bau: 14 Musiker*innen aus Braxtons engstem Umfeld, 39 Musiker*innen aus der diversen Musikszene Berlins und sechs Mitglieder des Australian Art Orchestra sind an der transatlantischen Kooperation beteiligt. Zusätzlich wird ein Diskursprogramm ausgewählte Aspekte aus dem fünf Jahrzehnte währenden und mehrere Musiker*innengenerationen inspirierenden Schaffen Anthony Braxtons vertiefen, der auch am Sonntagabend das Festival mit einer Kostprobe seines jüngsten Kompositionssystems „ZIM Music“ beschließt.

Zwei Late Night Labs rücken ebenfalls die Prozesshaftigkeit des musikalischen Vorgangs in den Vordergrund. Dieses experimentelle Format bietet eine Plattform für interdisziplinare Zusammenarbeit in Echtzeit und präsentiert am Freitag drei groovelastige europäische Trios um Anja Lauvdal, Petter Eldh und Lukas König. Die Musiker*innen werden in stets wechselnden Formationen für 100 Minuten die umgestaltete Große Bühne im Festspielhaus bespielen. Unter der gemeinsamen Leitung des amerikanischen Trompeters Rob Mazurek und des französischen Gitarristen Julien Desprez, die beide schon im letzten Jahr beim Festival zu erleben waren, gibt es dann am Samstagabend eine erweiterte Version der internationalen Formation T(r)opic – unter Mitwirkung von Tanzer*innen und Musiker*innen der bestehenden Gruppen São Paulo Underground und COCO, darunter renommierte Improvisationskünstler*innen wie Mette Rasmussen, Susana Santos Silva, Guilherme Granado und Lotte Anker. In beiden Labs werden sich die Spieler*innen in immer wieder neuen Untergruppierungen zusammenfinden und dabei bereits existierende, eigenständige Ensemble- Konfigurationen ebenso wie gänzlich neue Konstellationen durchlaufen.

Mit dem KIM Collective setzt sich eine weitere Partnerschaft aus dem letzten Jahr fort – und die Berliner Musikszene gerat in den Fokus. Bei der diesjährigen Festivalausgabe lädt das Kollektiv zunächst an zwei Abenden im Foyer des Festspielhauses in den interaktiven „Garden of Hyphae“ ein, bevor es am Sonntagabend auf der Großen Buhne mit seiner multimedialen „Fungus Opera“ premiert. Mitglied des KIM Collectives ist auch die Gitarristin Julia Reidy. Das neue Auftragswerk der Wahlberlinerin wird am Freitagabend vom Australian Art Orchestra neben Kompositionen von Peter Knight zur Aufführung gebracht. Das Australian Art Orchestra entwickelt seit vielen Jahren detailreiche Adaptionen von Musik aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen, die sich unter anderem der Musik des australischen Aborigine-Stamms der Yolngu widmen. Ebenfalls am Freitagabend bringt der Berliner Schlagzeuger Christian Lillinger sein Projekt „Open Form for Society“ zur Aufführung, eine Symphonie aus Beats, Keyboard-Patterns und Streicher-Elementen, die auf die improvisatorische Kreativität seines Ensembles trifft. Und eine Weltpremiere feiert mit einer genreübergreifenden „Suite“ die in Berlin ansässige türkische Vokalistin Cansu Tanrıkulu zusammen mit ihrem neuen Trio Melez.

Weitere das Spektrum der gesanglichen Ausdrucksmittel auslotende Sängerinnen beim Jazzfest Berlin 2019 sind die Multiinstrumentalistin Angel Bat Dawidaus Chicago, die mit ihrer Band The Brothahood an Schwerpunktthemen der letztjährigen Festivalausgabe – Afrofuturismus und Chicago als musikalisches Zentrum – andockt, die Vokalistin und Kantele-Spielerin Sinikka Langeland, die in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche finnischen Volksrunen einen zeitgenössischen Klang verleiht, sowie Leïla Martial. Letztere wird im Quasimodo ihr gesangsakrobatisches Repertoire auf eine magische Reise in ein Land ohne Genregrenzen schicken.

Inspiration zu Grenzgängern finden einige Musiker* innen beim diesjährigen Festival auch im Hip-Hop. The Young Mothers etwa paaren Rap und heavy Beats in einem ebenso wilden wie überzeugenden Stilmix mit Funk, Punkrock und Free Jazz. James Brandon Lewis bedient sich mit seinem UnRuly Quintet rhythmischer Anleihen beim Hip- Hop der frühen 90er Jahre, wohingegen Ambrose Akinmusire nicht nur in den musikalischen Wahlverwandtschaften, sondern auch im politischen Gehalt von Jazz und Hip-Hop einen gemeinsamen Nenner findet. Rassismuskritische Rap-Texte treffen bei der Deutschlandpremiere seines neuen Albums „Origami Harvest“ auf feinfühlige Arrangements für Jazz-Combo und Streichquartett.

Darüber hinaus stellen in diesem Jahr gleich vier neue Stimmen ihr besonderes Talent in Soloauftritten unter Beweis – die Pianist*innen Eve Risser, Brian Marsella und Elliot Galvin sowie der Gitarrist Miles Okazaki.

Seien Sie dabei, wenn an vier Festivaltagen rund 200 Musiker*innen aus 15 Ländern den Jazz zelebrieren – seine Sperrigkeit und seine Widerspenstigkeit, seine Freiheit und seine Vielfalt, zwischen Rebellion und Schönheit, Spiritualität und Virtuosität.