Jazz na Kombi – Praça Roosevelt

Jazz na Kombi – Praça Roosevelt

© Cassimano

Inside the Scene: São Paulo

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Die Antennen der Metropole

Peripherien und öffentlicher Raum

Das letzte Jahrzehnt war für Jazz und improvisierte Musik in São Paulo ein besonders fruchtbares. Die Szene wurde von Projekten bereichert, die die Musik in den öffentlichen Raum tragen, und von Institutionen, deren Säle für die Produktion und Darbietung freier Musik gleichermaßen offen stehen wie für Gruppen unterschiedlichster Stilrichtungen, die mit ihrem originellen Sound das Trommelfell der Metropole kitzeln und Risse im harten Asphalt der sozialen Ungleichheit entstehen lassen. Die traditionellen Jazz-Venues gibt es noch immer. Doch echte kuratorische Wagnisse gehen zunehmend von einer Bewegung aus, die vom Stadtzentrum in die Peripherie führt – und umgekehrt.

JAZZ NA KOMBI

Ein ausgebauter Volkswagen Kombi parkt an verschiedenen Orten im Stadtgebiet São Paulos und öffnet seine Türen, um sich in ein mobiles Soundsystem für Live-​Konzerte von Jazzbands und anderen künstlerischen Ensembles im öffentlichen Raum zu verwandeln. Jazz na Kombi wurde im Februar 2014 ins Leben gerufen und organisiert seitdem unabhängige Konzerte mit Musiker*innen aus verschiedenen Generationen, um Jazz auf die Straße zu bringen und populärer zu machen.

JAZZ NA KOMBI

Jazz na Kombi

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Viele Brasiliens

São Paulo als kultureller Hotspot

Wie Brasilien insgesamt ist auch São Paulo eine Stadt der Gegensätze. In musikalischer Hinsicht unterscheidet sie sich jedoch von anderen brasilianischen Regionen hinsichtlich ihres Verhältnisses von einheimischer und ausländischer Kultur. Mit über 12 Millionen Einwohner*innen vereint São Paulo eine Vielzahl an Nationalitäten und – so könnte man sagen – auch „viele Brasiliens“. Im Gegensatz zu Städten wie Rio de Janeiro, Salvador oder Recife, wo es starke lokale Traditionen gibt, kommen die auffälligsten Charakteristika der Musik hier von außerhalb – sei es durch Einwanderung oder aus anderen Teilen des Landes. Vielleicht ist dies der entscheidende Grund, weshalb die Stadt ein so günstiges Terrain für Experimente bietet: weil ihre musikalische Identität durch kulturell diverse Künstler*innen ständig (neu) geschaffen wird.

A espetacular Charanga do França

Charanga do França ist ein dem Karneval gewidmeter Umzug, bei dem Tausende von Menschen durch die Straßen des Viertels Santa Cecília in der Innenstadt von São Paulo ziehen und bekannte Karnevalslieder, von afrikanischer Tradition beeinflusste Melodien und klassische Sambas spielen – alles rein instrumental und angeführt von dem Saxofonisten Thiago França, dessen musikalische Karriere mit Jazz und Choro begann.

A espetacular Charanga do França

A espetacular Charanga do França

Die Art und Weise, wie sich diese globalen Einflüsse mit regionalen Stilen und Traditionen verbinden und mischen, gestaltet sich jedes Mal neu und führt zu so unterschiedlichen musikalischen Ergebnissen wie den treibenden, eklektischen Arrangements von Metá Metá und den Free Jazz-inspirierten Collagen des Duos Radio Diaspora, das sich aus dem Schlagzeuger Wagner Ramos und dem Trompeter Rômulo Alexis zusammensetzt. Auf den mehr als zehn Alben des Duos hört man musikalische Phrasen, die wie präzise Schüsse starten, um sich dann entlang bunter Linien und Wellen zu entfalten. Wie der Name schon sagt, ist die Musik von Verweisen auf die Klänge der afrikanischen Diaspora geprägt, einschließlich der Dekonstruktion – oder Hervorhebung – dessen, was etwa im Samba oder in der Schwarzen Popmusik die wichtigsten Rhythmen der brasilianischen Musik prägt. Mit Samples von Reden oder markanten Stimmen wie der von Martin Luther King oder Muhammad Ali stellt Radio Diaspora auch Bezüge zum kollektiven Gedächtnis der afroamerikanischen Community her.

Rádio Diáspora

Radio Diaspora im Porträt

© Pérola Mathias, Bruno Rico, Diego Arvate

AFROJAM-​SP

AFROJAM-​SP ist ein Musikprojekt, das sich die Verbreitung der Musik und Förderung der Bekanntheit unabhängiger schwarzer Künstler*innen zur Aufgabe gemacht hat. Bei jeder Ausgabe werden neue Künstler*innen eingeladen, sich vorzustellen und an einer großen gemeinsamen Session teilzunehmen, um das Treffen zu einem Austausch von Wissen und Erfahrungen zu erweitern und gleichberechtigtere Beziehungen und Räume zu schaffen.

AFROJAM-​SP

AFROJAM-SP

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Jenseits von Genregrenzen

Popkultur trifft Avantgarde

An den Schnittstellen von Sprachen und Genres hat sich die urbane Szene São Paulos als fruchtbarer Nährboden für so widerspenstige musikalische Bewegungen wie die Vanguarda Paulista erwiesen, die seit den 1980er-Jahren die Grenzen der für die brasilianische Kultur so bedeutsamen Liedform immer wieder neu auslotet. Künstler*innen wie Arrigo Barnabé, Itamar Assumpção und die Schwestern Tetê und Alzira Espíndola haben die kreativen Möglichkeiten des Genres erforscht und dabei so unterschiedliche Einflüsse wie den Serialismus und die Comic-Buchkultur mit Traditionen afrikanischen Ursprungs wie dem batuque de umbigada verbunden.

Jahre zuvor hatten andere Künstler*innen auf unterschiedliche Weise ähnliche Erfahrungen gemacht, darunter Walter Franco, der konkrete Poesie in seine Musik einbezog, und Tom Zé, der zwar aus Bahia stammt aber in São Paulo lebt und einer der Vorreiter der Tropcália-Bewegung war. Sie ebneten den Weg für Vertreter*innen jüngerer Generationen, mit denen einige von ihnen auch künstlerische Partnerschaften pflegen, wie im Fall von Arrigo Barnabê und den Musiker*innen von Quartabê, von denen die meisten einst Mitglieder seines Ensembles waren.

74 CLUB

Am Rande des riesigen Stadtgebiets von São Paulo gibt es eine Region, die als ABC Paulista bekannt ist und heute aus sieben Städten besteht. Eine davon ist Santo André, wo mehrere Musiker*innen herkommen, die heute die regionale und nationale Szene prägen. Einer der Orte, an denen diese Musiker*innen anzutreffen sind, ist der 74 Club, wo von experimentellem Jazz bis Punk- und Hardcore-​Bands alles vertreten ist.

74 CLUB

74 Club

Ein weiterer zeitgenössischer Vertreter dieser (Anti-)Tradition ist Negro Leo. Die Kompositionen seines umfangreichen musikalischen Œuvres bewegen sich fließend durch verschiedene Genres und bringen das präzise Zusammenspiel von Text und Melodie, das für das Handwerk des brasilianischen Volkslieds charakteristisch ist, an die Oberfläche. Zugleich verstricken sie sich in Fäden der rhythmischen Dekonstruktion, verweben unterschiedliche Klangtexturen und spielen mit Improvisationen. Musik und Text sind mal provokant, mal amüsant. Mit einem ausgeprägten Verständnis und kritischen Blick auf die ihn umgebende Realität bringt er die strukturellen Defizite der Gesellschaft im Großen und Ganzen zum Ausdruck – teils auf krude und teilweise auf spöttische Weise. In einer Art soziologischem Zoom-out und anthropologischem Zoom-in spricht er dabei konkrete Problemstellungen an.

Negro Leo

Negro Leo im Porträt

© Pérola Mathias, Clara Lobo

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Neuer Umgang mit dem musikalischen Erbe

Tradition neu denken – Experiment & Improvisation

Der Laborcharakter der kreativen Musikszene São Paulos zeigt sich auch im wachsenden Interesse an Improvisation, insbesondere an der freien Improvisation, die in den letzten zehn Jahren mit neuen Künstler*innen, Veranstalter*innen, Produzent*inneen, Labels, Websites und multidisziplinären, unabhängigen Räumen an Boden gewonnen hat – und ebenso in großen Festivals wie dem Sesc Jazz und dem Nublu Jazz Festival vertreten ist.

Sesc Jazz Festival

Was die lokale Szene wiederum einzigartig macht, ist die Tatsache, dass die Bewegung der freien Improvisation hier in einem breiten Spektrum von Stilen und musikalischen Kontexten verwurzelt ist. Statt in einer elitären Geste der Emanzipation die Augen vor der Tradition zu verschließen, bezieht sie das musikalische Erbe sowohl der Stadt als auch der umliegenden ländlichen Regionen mit ein. Musiker*innen wie Juçara Marçal und Thiago França von Metá Metá und Mauricio Takara von São Paulo Underground sind in ganz verschiedene musikalische Projekte und Szenen innerhalb der Szene involviert und repräsentieren sowohl traditionelle Aspekte der urbanen Musikkultur und regionale Stile als auch hochgradig experimentelle Ansätze und freie Improvisation.

Leviatã

Leviatã ist ein Verlag und Kulturzentrum in der Innenstadt von São Paulo. Seit März 2018 werden dort eigene Veranstaltungen und redaktionelle Projekte in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstler*innen aus Brasilien und anderen Ländern rund um Klang-​, Bild-, Körper-​ und Textkunst entwickelt, die sich in Videoperformances, audiovisuellen Arbeiten, Filmen, Videoclips, Musikalben, Dokumentationen und Artikeln entfalten und auf den digitalen Plattformen des Verlags verfügbar sind.

Leviatã

Leviatã

Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses spezifische Verhältnis von Experiment und Tradition wurde in einem noch unveröffentlichten Filmprojekt von Luan Cardoso dokumentiert. Es konzentriert sich auf die unter dem Titel Tradição Improvisada laufende Zusammenarbeit zwischen dem experimentellen Geiger Thomas Rohrer und dem Folkloristen Nelson da Rabeca, einer lokalen Legende im Bau und Spiel einer traditionellen Geigenart, sowie anderen Musiker*innen. Der Regisseur hat sich bereit erklärt, für das Jazzfest Berlin eine exklusive Vorschau auf den Film zu geben.

 

Die Geige kam mit den Kolonisatoren nach Brasilien und ist heute vor allem im Nordosten des Landes mit der traditionellen Volkskultur verbunden. Ihr Klang wird immer als rau charakterisiert, aber sie hat auch eine schrille Stimme, die den Stimmen früherer Sänger*innen von Arbeitsliedern ähnelt, oder denen der Troubadoure, die vom täglichen Leben sangen. In Tradição Improvisada trifft diese Welt eines ‚tiefen‘ Brasiliens, repräsentiert durch Nelson da Rabeca und seine Frau Benedita aus Alagoas, auf die Experimente mit freier Improvisation von Thomas Rohrer, einem in São Paulo lebenden Schweizer Musiker.

Das Ergebnis erweitert den kreativen Spielraum und stellt – ganz im Sinne des Projektnamens – einen Dialog zwischen zwei zeitlich völlig unterschiedlichen Traditionen her. Dabei wird die Melodie oft erst während des Spielens erfunden, aber von brasilianischen Rhythmen wie dem Xaxado beeinflusst, und die Aufführungen orientieren sich weniger an rhythmischen Mustern als vielmehr an Klangfarben – in Anlehnung an den Free Jazz und europäische Improvisationsschulen. In São Paulo mündete diese Zusammenarbeit in einem Album, das 2018 bei Selo Sesc erschien.

Tradição Improvisada

Tradição Improvisada im Porträt

© Luan Cardoso

Cadós Sanchez

Cadós Sanchez im Porträt

© Pérola Mathias, Cadós Sanchez

Text verfasst von:

Pérola Mathias

Pérola Mathias hat einen Doktortitel in Soziologie und arbeitet als freie Musikjournalistin. Im Jahr 2015 gründete sie den Blog Poro Aberto, der auch in das Programm des Online-Radio-Senders Antena Zero aufgenommen wurde, für das sie zwischen 2019 und Anfang 2020 Sendungen kuratierte. Pérola hat eine monatliche Kolumne in der Zeitschrift A Palavra Solta und veröffentlicht wöchentlich in @resenhasmiudas, einem Instagram-Magazin. Außerdem macht sie einen Podcast für die Kulturabteilung der Stadt São Paulo.

Manoela Wright

Die Kuratorin und Booking Agentin Manoela Wright ist künstlerische Leiterin des CHIII - Creative Music Festival. 2012 gründete sie die Agentur Uirapuru Produtora in São Paulo, die in den Bereichen Management und Booking sowie Konzeption und Realisierung von Projekten mit einem Schwerpunkt auf experimenteller Musik arbeitet. Sie organisierte Konzerte mit brasilianischen Künstler*innen in Lateinamerika, Europa und Asien sowie mit europäischen, nordamerikanischen und lateinamerikanischen Künstler*innen in Brasilien.

Juliano Gentile

Juliano Gentile ist Musiker und Kurator. Er ist Gitarrist und Komponist in der Band Berberes sowie Teil des Duos César & Juliano, mit dem er in interdisziplinären Projekten arbeitet. Als Kurator hat Juliano mit Institutionen wie dem Centro Cultural São Paulo, einem der größten Kulturzentren Lateinamerikas, zusammengearbeitet, wo er eine Reihe von Konzerten und Workshops zum Thema Improvisation koordiniert hat. Derzeit ist er einer der Musikkuratoren des CHIII – Creative Music Festivals und des Instituto Moreira Salles (IMS).