Ausstellungstexte

Ayumi Paul: The Singing Project

Was wäre, wenn sich Menschen frei singend begegnen würden?
Was wäre, wenn ein Ausstellungshaus ein Ort des fortwährenden Gesangs wäre?

 

Einleitung

Ayumi Paul, Artist in Residence 2022, beschäftigt sich mit der Frage, wie durch Gesang – als einer der ältesten Formen von Kommunikation – eine Verbundenheit entstehen kann, die über die lineare Zeit hinausgeht. Singen versteht Paul dabei nicht als etwas, das bestimmtes Wissen oder Können voraussetzt, sondern als einen offenen Raum des Miteinanders, der durch das gemeinsame Praktizieren entsteht.

Geleitet von diesem Verständnis entfaltet sich Pauls The Singing Project als singende Skulptur und kollektive Praxis seit Sommer 2021 in unterschiedlichen Formen im Gropius Bau und nimmt hier eine neue räumliche Gestalt an. Paul hat diese fünf Räume als offene Partitur konzipiert: Sie bringen Teile ihres wachsenden Archivs zusammen und sind gleichzeitig ein Ort, der sich durch Singen formt. Unter Anwendung grundlegender Prinzipien aus der Klangforschung erweitert The Singing Project Perspektiven, indem es das subjektive Erleben unterschiedlicher Gemeinschaften als Polyphonie wahrnimmt.

In einer Reihe von Workshops und Gatherings (Zusammenkünfte) werden in Kollaboration mit anderen Künstler*innen und Besucher*innen Verbindungen zwischen der Stimme und verschiedenen feministischen, ökologischen und sozialen Anliegen hergestellt. Als Teil ihrer fortlaufenden Forschung zur Entstehung von Resonanzräumen beschäftigt sich Paul auch mit der energetischen Struktur des Hauses, dessen Geschichte von Teilung und Umbrüchen geprägt ist. Sie untersucht, wie sich Klang gegenwärtig im Raum auswirkt.

Written in Water (2021–heute)

Arbeitsnotizen, Bilder, Klang- und Traumstudien geben Einblicke in das Archiv von The Singing Project und ermutigen zum aktiven und unmittelbaren Mitwirken. Ayumi Paul bezieht auch das mündliche Erzählen von Geschichten und das Element Wasser mit ein und nennt das „sanfte Archivierung”. Als Medium in unseren Körpern und unserer Umgebung enthält Wasser für Paul auch kollektive Erinnerungen. Diese Vielstimmigkeit von Erzählungen formt einen Raum für Echo und neue Zusammenhänge.

Ayumi Paul, The Singing Project, 2022

Foto: Luca Girardini

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

Sounding Seeds (2022–heute)

Die im Rhythmus der wechselnden Jahreszeiten entstandenen Soundarbeiten verbinden Atemmeditationen und Geschichtenerzählen und stimmen auf Klangwahrnehmung, Deep Listening und Singen ein. Die Arbeiten sind auch online auf der Website des Gropius Bau abspielbar und werden zu Samen, die über die Gebäudegrenzen hinaus verteilt werden.

Here as well as elsewhere (2022–heute)

Die Salzlieder entstehen durch das Zusammenspiel von Ayumi Pauls Stimme und Atem, Salz und Wasser. Zufall und Naturvorgänge wirken dabei mit und vermitteln, wie Klang Materie beeinflusst und wie sich Vorhaben und Erinnerungen kristallisieren. Im Entstehungsprozess wird auch eine Resonanz zwischen Pauls Körper und einer Zeitspanne von 4,5 Milliarden Jahren erzeugt: Ihr Körper trägt dieselben Elemente in sich, wie das Salz, das sich durch chemische Prozesse, ausgelöst von heißer Lava, an der Oberfläche unserer Erde bildete.

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

Ayumi Paul, The Singing Project, Installationsansicht, Gropius Bau, 2022

I Hear You (2006–heute)

Ayumi Paul verwebt persönliche und erdgeschichtliche Ereignisse aus der Vergangenheit und der Zukunft in diesen gestickten Partituren. Als eine Art des Komponierens verbindet sie Planetenkonstellationen mit den Zeitpunkten, in denen die Ereignisse stattgefunden haben. Paul begann bereits 2006 mit dem Sticken dieser Partituren. Sie suchte nach einer musikalischen Sprache, die jenseits des Rahmens einer singulären Tradition von Partituren und musikalischer Grammatik lesbar ist. Jede Partitur klingt für sich, doch alle Partituren klingen zusammen wie ein Netz. Sie werden zu einem unendlichen Musikstück, von dem wir als Menschen kurzzeitig ein Teil sind. Paul bezeichnet diese Werke als Partituren, weil sie verändert, gelesen, gehört und in Klang übersetzt werden können.

Übungsraum

Sie sind herzlich eingeladen, hier ihre Schuhe auszuziehen und auf den Reisstrohmatten zu verweilen, die unserem Atmen zugutekommen und ein Gefühl der Erdung vermitteln. Eine Auswahl von Büchern, die Pauls Forschung für The Singing Project inspiriert haben, steht zum Studium zur Verfügung. Pauls Praxis verdeutlicht, wie sehr alles, was wir lernen und verlernen, aktives Umsetzen und Ruhe erfordert. Ohne Ruhe gäbe es keinen Rhythmus, ohne Rhythmus gäbe es kein Leben.

Ein heller Raum mit Tatami-Matten und einfallenen Sonnenstrahlen

Ayumi Paul, The Singing Project, 2022

Foto: Luca Giradini