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Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility [Beirut und die Goldenen Sechziger: Ein Manifest der Fragilität] lässt ein bewegtes Kapitel der jüngeren Geschichte Beiruts wieder aufleben: die Zeit zwischen der Libanonkrise im Jahr 1958 und dem Ausbruch des Libanesischen Bürger*innenkrieges 1975. Die Ausstellung untersucht diese romantisch verklärte Phase des globalen Einflusses und zeigt, wie der Zusammenprall zwischen Kunst, Kultur und polarisierten politischen Ideologien die Beiruter Kunstszene in einen Mikrokosmos größerer, transregionaler Spannungen verwandelte.
Die Ausstellung zeichnet eine kurze, aber intensive Periode des künstlerischen und politischen Aufbruchs nach. Nachdem der Libanon 1943 seine Unabhängigkeit von der französischen Kolonialherrschaft erlangt hatte, strömten viele Intellektuelle und Künstler*innen aus dem Nahen Osten und dem arabischsprachigen Nordafrika nach Beirut. Während diese Regionen in den folgenden drei Jahrzehnten von Revolutionen, Putschen und Kriegen erschüttert wurden, setzte sich diese Entwicklung fort. Infolge des 1956 erlassenen libanesischen Bankgeheimnis-Gesetzes floss zudem immer mehr ausländisches Kapital in die Stadt; neue kommerzielle Galerien, freie Kunsträume und Museen florierten. Beirut war geprägt durch eine außergewöhnliche Vielfalt von Menschen und Ideen. Doch unter der Oberfläche dieses „Goldenen Zeitalters“ schwelten auch die zunehmend unüberbrückbaren Gegensätze, die sich schließlich in einem 15 Jahre andauernden Bürger*innenkrieg entladen sollten.
Beirut and the Golden Sixties untersucht einen entscheidenden Moment in der Geschichte der Moderne, der aus dem Blickwinkel der anhaltenden Krise einer Neubetrachtung unterzogen wird und den Zusammenhang zwischen vergangenen und gegenwärtigen Kämpfen deutlich macht. Eine Multimedia-Installation, die Joana Hadjithomas und Khalil Joreige eigens für diese Ausstellung konzipiert haben, beleuchtet die transformativen Auswirkungen von Gewalt auf Kunst und künstlerische Produktion sowie die Macht der Poesie in Opposition zum Chaos. Mit umfassenden Archivmaterialien und künstlerischen Arbeiten bietet die Ausstellung neue Betrachtungsweisen einer entscheidenden Phase in der Geschichte Beiruts – einer Stadt, die die Last ihrer Ambitionen trägt und in der die Rolle der Kunst in Krisenzeiten immer wieder zur Debatte gestellt wurde und wird.
Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility, 2022, Installationsansicht, Simone Baltaxé Martayan, Poéme orientale, 1976
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Beiruts multikulturelle Geschichte reicht bis in die Antike zurück, und viele Gemeinschaften mit unterschiedlichen Ideologien betrachten die Stadt als ihre Heimat. Verschiedene politische Projekte und künstlerische Positionen haben versucht, die Wurzeln des kosmopolitischen Charakters Beiruts in präkolonialen und vormodernen Traditionen und Legenden zu verorten. In jüngerer Zeit hat Beiruts Rolle als diskreter Umschlagplatz für ausländisches Kapital zu einem ebenso beständigen wie zweifelhaften Mythos des Libanon als „Schweiz des Nahen Ostens“ beigetragen. Diese Sektion präsentiert moderne künstlerische Perspektiven, welche die einseitige und ausschließende Natur der zahlreichen Charakterisierungen Beiruts offenlegen.
Weltweit waren die 1960er Jahre von sexuellen Befreiungsbewegungen geprägt, und auch in Beirut spiegelten sich diese wechselnden sozialen Werte der Zeit. Die gegen das Establishment gerichtete Botschaft der Student*innenbewegung von 1968 in Frankreich fand Widerhall bei der libanesischen Jugend, die bereits im Jahr zuvor – nach der Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 – auf die Straße gegangen war. Im Westen entstandene Frauenrechtsbewegungen initiierten Gespräche in lokalen Lifestyle-Magazinen und politischen Zeitschriften. Die Beiruter Kunstszene beteiligte sich maßgeblich an den damit einhergehenden kulturellen Debatten. Die vielen Künstler*innen inner- und außerhalb der Community, die in queeren Beziehungen lebten und sich jenseits des binären Geschlechtermodells verorteten, fanden einen sicheren Raum, um künstlerisch tätig zu sein und sich frei auszudrücken. Diese Sektion präsentiert Beirut als einen Ort, an dem sich neue Lebensweisen jenseits der Grenzen der traditionellen, bürgerlichen Gesellschaft herausbildeten.
Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility, 2022, Ausstellungsansicht, Sektion Lovers: Der Körper
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility, 2022, Ausstellungsansicht, Sektion Takween (Composition): Die Form
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
In der Beiruter Kunstszene der 1960er Jahre waren Künstler*innen aktiv, die eine breite Palette von Techniken, Materialien und Stilen nutzten. Ihre vielfältigen Interessen beeinflussten die aufstrebende Kulturlandschaft, welche von einem wachsenden Netzwerk an Förderer*innen und Ausstellungsräumen unterstützt wurde. Das Sursock Museum eröffnete 1961 in der ehemaligen Villa des bekannten libanesischen Aristokraten Nicolas Ibrahim Sursock und etablierte umgehend den Salon d’Automne [Herbstsalon], eine jährlich stattfindende Ausstellung, in deren Rahmen Künstler*innen wie Saloua Raouda Choucair, Aref El Rayess und Huguette Caland ihre Arbeiten präsentierten. Das Centre d’Art, das von dem surrealistischen Schriftsteller Georges Schehadé und seiner Frau, der Kunstförderin und Galeristin Brigitte Schehadé geleitet wurde, zeigte Druckgrafiken von Max Ernst, André Masson und anderen einflussreichen Surrealist*innen. 1967 eröffnete die politisch linksgerichtete Prominente Janine Rubeiz den Kunstraum Dar El Fan, um die sich entfaltende künstlerische Community zu unterstützen und parallel hierzu Ausstellungen polnischer Tapisserien und Vorführungen sowjetischer Filme zu veranstalten. Das Delta International Art Center machte das Publikum mit weiteren Entwicklungen aus dem Ausland vertraut; 1975 etwa mit einer Ausstellung abstrakter Malereien des chinesisch-französischen Künstlers Zao Wou-Ki. Diese Sektion befasst sich mit den lokalen Artikulationen verschiedener modernistischer Tendenzen in Beirut und widmet sich dabei vor allem der von den 1950er bis zu den 1960er Jahren vorherrschenden Abstraktion.
In den 1970er Jahren begannen die sozialen Spannungen in Beirut zusehends zu eskalieren. 1972 kam es zu Protesten von Studierenden an der Libanesischen Universität und Streiks von Arbeiter*innen der Schokoladenfabrik Gandour. Coca Cola-Betriebe stießen als Symbole des westlichen Imperialismus auf die Ablehnung der lokalen Bevölkerung. An der Südgrenze des Libanon brachen immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen aus, vor allem nachdem die Palästinensische Befreiungsorganisation infolge ihrer Niederlage in Jordanien 1970 ihr Hauptquartier nach Beirut verlegte. Regionale Krisen wie etwa der vierte arabisch-israelische Krieg (1973) und das darauf folgende, von Saudi-Arabien und weiteren Staaten gegen die Verbündeten Israels verhängte Ölembargo trugen ebenfalls zur Verschlechterung der politischen Lage in Beirut bei. Diese Sektion nimmt die Beziehung zwischen Kunst und Politik in den Jahren vor dem Ausbruch des Libanesischen Bürger*innenkriegs 1975 in den Blick. Der Sektarismus wurde zu einem systemischen Problem in sozialen wie politischen Institutionen, das alle Aspekte des Lebens in der Stadt destabilisierte.
Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility, 2022. Installationsansicht, The Politics
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility, 2022, Installationsansicht, Nicolas Moufarrege, Le sang du phenix (The Blood of the Phoenix), 1975
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Der Ausbruch des Libanesischen Bürger*innenkriegs wirkte sich auch stark auf die Beiruter Kunstszene aus, denn der Krieg forderte seinen Preis: Galerien und unabhängige Kunsträume mussten schließen, und Künstler*innen wanderten nach Europa, in die USA oder an den Persischen Golf aus. Einige politisch aktive Künstler*innen, die in Beirut blieben, schlossen sich der kurzlebigen Libanesischen Nationalbewegung an – einer Koalition aus verschiedenen linksorientierten politischen Parteien und unabhängigen Gruppen, die gegen die christliche Nationalmiliz kämpften und den libanesischen Staat reformieren wollten. Künstler*innen gestalteten auch Poster für die sektaristischen Parteien, die sie unterstützten. In den späten 1970er Jahren wurde dann offenkundig, dass kein Widerstand zur Befreiung des Landes führen wird. Diese Sektion untersucht die anhaltenden Auswirkungen des Libanesischen Bürger*innenkriegs auf die Kulturproduktion in Beirut.