Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie hat sich die Bedeutung des Atmens von einem individuellen hin zu einem sozialen Akt gewandelt, der mit medizinischen, historischen und politischen Nachwirkungen weltweit verbunden ist. In der Vielzahl der Bilder, die in dieser katastrophalen Zeit der Ansteckung durch die Medien kursierten, registriert Pallavi Paul – als Künstlerin, Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin – eine Krise der Visualität. Durch die Linse der Poesie und des Filmischen wendet sie sich in How Love Moves den unsichtbaren Aspekten des Atems zu, die am Rande des Dokumentierbaren liegen.
Nach ihrem einjährigen Aufenthalt als Artist in Residence 2023 am Gropius Bau treten in dieser Einzelausstellung früheste und aktuelle filmische Werke Pauls in einen Dialog mit immersiven Rauminstallationen. Ihre neu produzierten Filme verweben die globalen Krisen im Gesundheitswesen mit Erinnerungen an die Ausbreitung der Tuberkulose in Deutschland um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Dabei verhandeln sie Krankheit nicht als Metapher, sondern als ein ethisches, spirituelles und biopolitisches Phänomen in Neu-Delhi, Berlin und darüber hinaus.
How Love Moves zeichnet den Kreislauf des Atems zwischen Liebenden, kollektivem Sterben, Zerstörung, Verfall und Trauer in industriellen Gesellschaften nach und blickt kritisch auf die Konsequenzen kollabierender Gesundheitsinfrastrukturen. Zugleich reflektiert die Ausstellung den Atem als planetarische Sprache und einen kontinuierlichen Prozess der Zirkulation, der das Individuum mit allen Lebewesen verbindet.
Diese Installation imaginiert den Friedhof als ein Tor zur Trauer, aber auch als einen Ort der Ruhe, der Erholung und des Gedenkens. Skulpturen, die an Gräber erinnern, werden hier zu Projektionsflächen für Aufnahmen vom Leben der Tiere auf dem Delhi Gate Cemetery, einem Friedhof in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Umgeben von einer Klanglandschaft aus Gebeten und Sprechchören, schafft Salt Moon einen Grenzraum der Trauer, der Erinnerung und der Sehnsucht. Die Arbeit versteht sich auch als Impuls, die Liebe der Abwesenden zu würdigen – ein Motiv, das sich im Verlauf der Ausstellung weiter entfaltet.
Pallavi Paul, Salt Moon, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Pallavi Paul, Slumber, Installationsansicht (Detail), Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul Foto: Luca Girardini
Dieser Kurzfilm verhandelt Vorstellungen von Autor*innenschaft und Wahrheit durch ein fiktives Gespräch dreier Dichter aus verschiedenen Zeiten und Geografien – Jack Spicer, Federico García Lorca und Ramashankar Yadav (auch bekannt als Vidrohi). Beeinflusst von Jack Spicers Buch After Lorca (1957), in dem der US-amerikanische Dichter in einen imaginierten Dialog mit dem spanischen Dichter und Dramatiker Federico García Lorca fast 20 Jahre nach dessen Tod tritt, stellt sich Nayi Kheti / New Harvest die Frage: Was passiert mit einem Gedicht, nachdem es vorbei ist? Paul entwirft mögliche Antworten Lorcas aus dem Jenseits, die eine neue Perspektive auf das Nachleben von Dokumenten eröffnen. Indem die Künstlerin das filmische Material mit den Schriften des indischen Dichters und Campus-Aktivisten Ramashankar Yadav verbindet, dessen Werk hauptsachlich mündlich überliefert wurde, wird der Frage nach dem (Post-)Dokument aus einem weiteren Blickwinkel begegnet.
Slumber lädt dazu ein, sich auf den lebendigen Boden unter unseren Füßen einzulassen und die menschlichen Perspektiven auf Zeit, Liebe und Raum zu überschreiten. Pallavi Paul collagiert gefundenes filmisches Material zu kurzen Liebesgeschichten, in denen Bilder aus Bereichen der Poesie, der industriellen Arbeit, der Geologie und des Mehr-als-Menschlichen miteinander verwoben werden. Eingebettet in organische Materie, verhandelt die immersive Videoinstallation Erde als Material und als Lebensraum, in dem aus Verfallsprozessen immer wieder neues Leben entsteht.
Pallavi Paul, Slumber, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Pallavi Paul, Twilight’s Envelope / Und in der Dämmerung Hülle, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
In einer Verschmelzung verschiedener dokumentarischer Zeit- und Erzählstränge widmet sich Twilight’s Envelope / Und in der Dämmerung Hülle der unbewältigten Vergangenheit der Heilanstalten Hohenlychen. Das ehemalige Tuberkulose-Sanatorium, das 1902 in Brandenburg in der Nähe von Berlin seinen Betrieb aufnahm, war nicht nur ein Ort für Heilverfahren, sondern steht auch in enger Verbindung mit gewaltvollen medizinischen Experimenten. Nachdem die Heilstätte im Ersten Weltkrieg in ein Lazarett und während des Nationalsozialismus in ein Sportkrankenhaus umgewandelt worden war, veranlassten und begingen die verantwortlichen Ärzte und das medizinische Personal ab 1942 brutale Versuche an Menschen, die in Ravensbrück – dem damals größten Frauenkonzentrationslager in Deutschland – inhaftiert waren.
Begleitet durch Tagebucheintrage von Moritz Theodor William Bromme, der seinen Alltag als Tuberkulose-Patient in einem Sanatorium zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters (1905) festhielt, führt der Film durch die heutige Ruine in Hohenlychen. Bedeckt von Ablagerungen aus Staub und Wildwuchs, trägt der Gebäudekomplex noch heute die Spuren psychologischer, körperlicher und spiritueller Erschütterungen aus der Vergangenheit.
Leichensäcke sind zu einem schmerzhaften Symbol dafür geworden, wie der Tod in Zeiten von Krisen und Ansteckung anonymisiert und verhüllt wird. Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle der COVID-19-Pandemie, als die Infektionszahlen einen Höchststand erreichten und in Nordindien Sauerstoffmangel herrschte, zirkulierten Bilder von Leichen in verschlossenen Säcken massenhaft in den Nachrichten. Um die Würde und die Intimität des Sterbens und der damit verbundenen Trauer zurückzugewinnen, wurden für Trousseau Leichensäcke von Näherinnen in Neu-Delhi mit Motiven nach dem Vorbild von Brautgewändern bestickt, die mit Fruchtbarkeit assoziiert werden. Durch ihre handwerkliche Tätigkeit, ihr Gebet und das Garn werden so Erinnerungen an die Leben der Verstorbenen in die ansonsten sterilen medizinischen Massenprodukte eingewoben.
Pallavi Paul, Trousseau / Everything is Still Damp, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Pallavi Paul, Trousseau, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Auch in der Serie Everything is Still Damp tauchen florale und ornamentale Motive auf, die sich sowohl dem Fortbestehen als auch dem Verblassen von Erinnerungen widmen. Die Siebdrucke auf Schleifpapier zeigen Rosen und die Muster eines Chadars, jenes Stoffs, der in der islamischen Tradition als Symbol des Respekts und der Fürsorge für die Verstorbenen auf deren Gräber gelegt wird. Durch den manuellen Herstellungsprozess der Drucke auf der rauen Oberfläche entstehen Variationen der Motive, die auf das Auflösen, die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit von Erinnerung hinweisen.
The Heart of the Heart nimmt Bezug auf die Zirkulation journalistischer Bilder der katastrophalen zweiten Welle der COVID-19-Pandemie in Neu-Delhi. Digital geschichtet und invertiert, erzeugen die Aufnahmen eine bildliche Leerstelle, die sich als eine Art Leichentuch materialisiert und der Amnesie rasanter Nachrichtenzyklen widersetzt.
Pallavi Paul, Trousseau, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Pallavi Paul, How Love Moves, Installationsansicht, Gropius Bau, 2024
© Pallavi Paul, Foto: Luca Girardini
Dieser experimentelle Dokumentarfilm entstand auf einem der größten islamischen Friedhöfe in Neu-Delhi, der sowohl von der Schönheit des artenreichen und spirituellen Lebens als auch von der Brutalität politischer und rassistischer Gewalt umgeben ist. How Love Moves begleitet den Totengräber Shamim Khan und seine Arbeitskollegen über zwei Jahre auf dem Delhi Gate Cemetery und versucht durch das Beobachten ihrer täglichen Arbeit, ein in der jüngeren Weltgeschichte beispielloses Ereignis – die COVID-19-Pandemie – zu begreifen.
Die Zeitspanne eines Atemzugs dient hierbei als filmische Grundstruktur, die sich in fünf Kapiteln in Anlehnung an die islamischen Gebetszeiten – فجر (Fadschr, Morgendammerung), ظُهْر (Zuhr, Mittag), العصر (Asr, spater Nachmittag), مَغْربِ (Maghrib, Sonnenuntergang) und عائشة (Ischā, Nacht) – entfaltet und eine Unterbrechung der Verbindung zwischen dem Gebet und dem Kreislauf des Lebens markiert. Schließlich erzählt diese filmische Arbeit auch von einer grenzüberschreitenden Liebe, die sich über religiöse Barrieren hinwegsetzt und doch im Verlust endet. Während How Love Moves auf den Preis der Sterblichkeit in einer autoritären Nation blickt, wird zugleich sichtbar, wie sich Fürsorge in hingebungsvollen Handlungen über den Tod hinaus manifestieren kann.