— Vaginal Davis
Vaginal Davis ist eine Ikone. Ihr über fünf Jahrzehnte andauerndes, vielseitiges Schaffen widersetzt sich jeglichen Kategorien. Als Autorin, bildende Künstlerin, selbsternannte Blacktress (Wortschöpfung aus Schwarz und Schauspielerin), Drag-Terroristin, Filmemacherin, Klatschkolumnistin, einflussreiche Prominente, Performancekünstlerin und Lehrende ist sie eine wichtige Stimme der queeren, Schwarzen Gegenkultur. Inspiriert vom politischen Kampf der Black Panthers in den USA gab sie sich in den 1970er Jahren ihren Namen in Anlehnung an die Kommunistin, Feministin und Black-Power-Aktivistin Angela Davis.
Vaginal Davis erschafft Szenen. Sie ist in Los Angeles aufgewachsen und gehört zu den Gründer*innen des queeren Punk-Undergrounds der 1980er Jahre. Im Jahr 2005 zog Miss Davis nach Berlin, wo sie bereits mehrfach mit dem Kunstkollektiv CHEAP zusammengearbeitet hatte. Auch hier spielt sie bis heute als Künstlerin und Gastgeberin verschiedener Veranstaltungsformate eine wichtige Rolle. Die Ausstellung Fabelhaftes Produkt zeigt zu Miss Davis’ persönlichem 20-jährigen Berlin-Jubiläum sieben große Installationen. Sie erzählen von Geschichten, die sich auf der Bühne, in Nachtclubs und selbstorganisierten Ausstellungsräumen abgespielt haben und immer wieder in ihren Zines und umfang reichen Korrespondenzen auftauchen. Miss Davis’ Installationen erwecken ihr Archiv zum Leben und setzen es neu in Szene.
Naked on my Ozgoad: Fausthaus – Anal Deep Throat nimmt Bezug auf die erste Kunstausstellung von Vaginal Davis, die sie im Alter von acht Jahren in der Pio Pico Library in Los Angeles zeigte. Beide Präsentationen sind Interpretationen von L. Frank Baums Oz-Büchern. Sie spielen im erdachten Land Oz – ein Ort auf der Erde, der voller Magie steckt. Das erste Buch, Der Zauberer von Oz (1900), war in den USA ein Kinderbuchklassiker und wurde 1939 mit Judy Garland in der Hauptrolle verfilmt. Es folgten 13 weitere Bände mit zahlreichen gesellschaftskritischen Charakteren und Handlungssträngen. Aufgrund ihrer unterschwelligen politischen Botschaften und der revolutionären Erzählweise gelten Baums Bücher seit langem als Inspiration für queere Lesende. Miss Davis war schon früh fasziniert von Baums Engagement für die feministische Bewegung jener Zeit: Der Schriftsteller war beeinflusst von seiner Ehefrau und deren Mutter, die sich als Suffragetten für die politische Gleichberechtigung von Frauen einsetzten.
Eine Klanglandschaft aus inneren Monologen, die von Miss Davis geschrieben und von verschiedenen Beitragen den eingesprochen wurden, erfindet die Identitäten und Persönlichkeiten der Oz-Charaktere neu. Miss Davis’ bisher größte Malerei erstreckt sich über die Wandflächen und schafft einen vielschichtigen erzählerischen Raum. Die mit Schminke verzierten Skulpturen stellen die Hauptfiguren von Oz dar. Sie wurden in einer Industriegießerei, die normalerweise Rohre und Maschinenteile herstellt, in Aluminium gegossen. Ausgaben von Miss Davis’ kürzlich veröffentlichtem Zine Middle Sex, erschienen in der Größe einer Taschenbibel, sind bei den Fenstern ausgestellt.
Mit Beiträgen von Shadi Farid, Richard Gabriel Gersch, Salome Gersch, Hands On Press, Kathleen Hanna, Daniel Hendrickson, Adam Horovitz, Ricardo Montez, Miss Joan Marie Moossy, Maria Norman, Uzi Parnes, Susanne Sachsse, José Segebre, Angela Seo, Carmelita Tropicana, Ela Troyano.
– Vaginal Davis
Diese Installation greift die ikonische Architektur des Cinerama Dome am Sunset Boulevard in Los Angeles aus den 1960er Jahren auf. Gezeigt werden mehrere frühe Filme von Vaginal Davis, die ihre Rolle in der queeren Undergroundszene von Los Angeles beleuchten. Die Installation ist ihrer Cousine Carla „Maddog“ DuPlantier gewidmet, der Schlagzeugerin der Band The Controllers. DuPlantier hatte Miss Davis in die Punkszene eingeführt.
In den späten 1970er Jahren gründete Miss Davis die Band Afro Sisters und später weitere Gruppen wie ¡Cholita! The Female Menudo, Pedro, Muriel & Esther (PME) und black fag. Sie wurde zu einer festen Größe in der „Homocore“-Szene: Die Bewegung forderte sowohl den schwulen Mainstream als auch die verzerrte Darstellung von Punk als weiß und heterosexuell heraus. Zu Beginn der HIV/AIDS-Epidemie schuf Miss Davis – inspiriert von Punks und Queers – anti-kapitalistische Räume jenseits der vorherrschenden Wertevorstellungen. In ihren eigenen Worten war sie „zu schwul für die Punkszene und zu punkig für die Schwulen“. Sie spielte auf den Bühnen von Nachtclubs und Punkläden und schuf durch die Auftritte ihrer Bands eine eigene Mythologie und Ästhetik.
The Carla DuPlantier Cinerama Dome wurde entworfen von MYCKET: Mariana Alves Silva, Katarina Bonnevier, Thérèse Kristiansson
Vaginal Davis betrieb von 1982 bis 1989 eine Kunstgalerie in ihrer Wohnung am Sunset Boulevard in Los Angeles. Unter dem Namen HAG Gallery stellte sie die Werke von Leuten aus, die sich nicht unbedingt als Künstler*innen betrachteten oder Kunst studiert hatten.
Für ihre Einzelausstellung bei Participant Inc. in New York zeigte Miss Davis 2012 eine eigene Arbeit über die „Hag“ – eine abwertende Bezeichnung für eine ältere Frau. Das Werk besteht aus einem Raum, dessen Fenster den Blick in die Gedankenwelt von Miss Davis freigeben. Gewohnte Perspektiven und Erfahrungen werden hier verzerrt. An den Wänden sind Porträts von „Hags“ zu sehen, sowie zwei Skulpturen aus Brot mit den Titeln Dirty Mariah und Justin T., die an Darstellungen von Fruchtbarkeitsgött*innen erinnern.
The Fantasia Library ist Teil von Vaginal Davis’ Installation The Wicked Pavilion, die nach dem gleichnamigen Roman von Dawn Powell aus dem Jahr 1954 benannt ist. In dem Buch geht es um die Vergnügungen und Skandale, die sich durch alle New Yorker Gesellschaftsschichten ziehen. Die Bibliothek beherbergt eine Sammlung von über 500 fiktiven Büchern in pastellrosa – ein Ausdruck von Miss Davis’ literarischer Vorstellungskraft und ihrer Fähigkeit, ihre Welt in Sprache zu übersetzen. Die Autorin Dodie Bellamy bemerkte kürzlich: „[Vaginal] Davis hat mehrfach erklärt, dass sie nirgendwo hineinpasst… Die Sprache ist der Ort, an dem sie einen ausschließenden Kosmos umdeutet und dabei eine Alternative erschafft, in der sie einen Platz hat.“
In den Regalen stehen Bücher mit Titeln wie My Deliberative Body, The Fiscal Clit, Hollywood Speaks und The Hottentotten. Die Vitrinen enthalten Gegenstände aus Miss Davis’ berüchtigten Performances, eine Auswahl von Briefen und Collagen sowie Bücher von wichtigen queeren Schwarzen und Punk-Autor*innen, die ihr Schreiben geprägt haben. Dazu zeigen Miss Davis’ Porträts berühmte Persönlichkeiten aus Literatur und Kultur wie Wanda Coleman, Joan Didion, Audre Lorde und Minnie Riperton.
Dieser riesige Dildo aus Gips ist ein Requisit aus früheren Performances von Vaginal Davis, in denen sie Sexualität feierte und Männlichkeit verspottete. Auf dem kleinen Schminktisch in der Ecke befinden sich neben einem Tagebuch die wichtigsten Materialien für die Gestaltung von Miss Davis’ Erscheinungsbild und ihrer Kunst: Nagellack in verschiedenen Farbtönen, den sie zum Hübschmachen und zum Malen ihrer Porträts verwendet. Plakate ihrer Art-Punk-Band Afro Sisters tragen den Slogan „Jung, frei und berühmt, von allen beneidet“. An einer Wäscheleine hängen Bilder verschiedener Persönlichkeiten: Hier trifft die Boulevardjournalistin Elsa Maxwell auf den Schauspieler Michael Pitt, Seite an Seite mit der Autorin Christiane F. und der Motown-Sängerin Gloria Williams. Die Schauspielerin Isabella Rossellini hängt neben einem schwulen Dreier, einem Flyer für das Kunstkollektiv CHEAP und einem Covermodel des Magazins S.T.H. Straight To Hell.
Teil der Installation ist eine Soundarbeit, die verschiedene Aufnahmen zusammenbringt: ein Auszug aus dem Lied A Love Like Ours, gesungen von Gloria DeHaven und June Allyson für den Metro-Goldwyn-Mayer-Film Two Girls and a Sailor aus dem Jahr 1944, die Sprachnachricht eines heimlichen Verehrers und zwei Interviews, die Miss Davis und Ron Athey 1996 für das Magazin LA Weekly führten.
In diesem Raum erfahren wir endlich, wer The Wicked Pavilion bewohnt: die fantastische Vorstellung einer neugierigen Miss Davis als Jugendliche – eine radikale Denkerin und Performerin, die von Schwulenpornos besessen ist, Tratsch liebt und ein umfassendes Wissen über Literatur- und Filmgeschichte besitzt.
Die Installation Hofpfisterei stellt Vaginal Davis’ Schreibpraxis in den Mittelpunkt. Sie zeigt eine umfangreiche Sammlung von Textmaterial, das seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart entstanden ist. Das breite Spektrum reicht von Lyrik über journalistische Beiträge bis hin zu fiktiver Bekenntnisliteratur und Klatschspalten in Boulevardzeitungen. Durch die Präsentation wird deutlich, wie sich Miss Davis fließend zwischen dem großstädtischen Nachtleben, akademischen Vorträgen und der Kunstszene bewegt.
Die hier ausgestellten Formate veranschaulichen die unterschiedlichen Verbreitungswege, die Miss Davis im Laufe der Jahrzehnte genutzt hat: Sie verteilte Flugblätter in Clubs, verschickte Fanzines per Post, verfasste Community-Rundschreiben als eine Form von Mail Art und ebnete damit den Weg für zahllose digitale Formen des Selbstverlags. Miss Davis’ seit langem geführter Blog Speaking from the Diaphragm entstand in den Anfängen des Internets, als es dafür noch keine vorprogrammierten Plattformen gab. Besuchende sind eingeladen, in den ausgestellten Schriften zu blättern: Klatsch und Tratsch, Enthüllungen und scharfe Kulturkritiken der letzten Jahrzehnte.
Der Titel der Installation verweist auf eine der wichtigsten Methoden von Miss Davis: die Aneignung und Umdeutung von Sprache. „Hofpfisterei“ ist der Name einer bayerischen Bäckereikette, dem Miss Davis im Stadtbild immer wieder begegnete. Sie mochte den Klang und dessen Nähe zur Sexpraktik des Fistings und übernahm das deutsche Wort als Titel ihrer Arbeit.
– Vaginal Davis
Das Video in der Installation Choose Mutation kombiniert vorgefundenes und eigenes Filmmaterial zu einer dystopisch anmutenden Collage. Die Arbeit thematisiert Paranoia und die Auswirkungen sozialer und politischer Kontrolle auf Sprache und Körper. Ihr Titel ist inspiriert von dem Artikel Learning from the Virus des Schriftstellers und Philosophen Paul B. Preciado aus dem Jahr 2020. Der Text behandelt die politischen Dimensionen von Krankheiten und Immunität. Der Ton und die Objekte im Raum werden von neun überlebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien von Annette Frick begleitet: Porträts von CHEAP aus einigen ihrer frühesten Projekte, unter anderem CHEAP Klub.
Das Kunstkollektiv CHEAP wurde 2001 in Berlin von Übersetzer Daniel Hendrickson, Schauspielerin und Künstlerin Susanne Sachsse und Film- und Queer-Studies-Wissenschaftler Marc Siegel gegründet. Die Arbeit von CHEAP findet in Form von Auftritten, Videos, Festivals, Konzerten, Installationen und Radiosendungen statt. In jedem Format verbindet ihre Praxis Theorie und Vergnügen, Politik und Laune, Ästhetik und Sex. Das Kollektiv arbeitet häufig mit Künstler*innen aus unterschiedlichen Feldern zusammen, darunter Jonathan Berger, Bruce LaBruce, Pola Sieverding und Xiu Xiu. Miss Davis hat schon früh mit der Gruppe zusammengearbeitet, zunächst als Gästin, dann als wichtiges Mitglied des Kollektivs.