Konzert
Marlies Debacker // Johan Graden, Ellen Arkbro // Henry Threadgill, Silke Eberhard’s Potsa Lotsa XL © Rebecca Ter Braak, Miki Anagrius, Alan Nahigian, Ruth Hommelheim
Marlies Debacker, eine Schlüsselfigur der Jazz- und zeitgenössischen Musik-Szene Kölns, eröffnet den Abend mit einem Solokonzert. Im Anschluss präsentieren die schwedische Komponistin und Wahl-Berlinerin Ellen Arkbro und der Pianist Johan Graden die Deutschlandpremiere ihres herrlich düsteren und einfühlsamen Kollaborationsprojekts. Das große Finale des Samstagsprogramms auf der Großen Bühne gilt Henry Threadgill mit einem großangelegten Kompositionsauftrag des Jazzfest Berlin: Threadgill präsentiert ein Stück in Konzertlänge für eine Kombination aus seinem Quintett Zooid und Silke Eberhards hoch angesehenem Large Ensemble Potsa Lotsa XL.
18:00
(BE)
Die belgische Pianistin Marlies Debacker steht für eine neue Generation von Musiker*innen, die sich der Kunst der Improvisation und der komponierten Musik gleichermaßen verschrieben haben. Seitdem sie für ihren Master an der Hochschule für Musik und Tanz nach Köln gezogen ist, bewegt sie sich geschickt zwischen beiden Welten. 2016 gründete sie mit dem Saxofonisten Salim Javaid und dem Schlagzeuger Shiau-Shiuan Hung das Trio Abstrakt, das unter anderem Musik von Peter Ablinger, Mark Andre und Clemens Gadenstätter neu interpretiert, und hat seither mit einigen der prägendsten Ensembles der Neuen Musik, wie beispielsweise dem Ensemble Musikfabrik, kollaboriert. Über die Jahre hat Debacker enge Verbindungen in die lebendige Kölner Improvisationsszene aufgebaut, was zu Zusammenarbeiten mit Musiker*innen wie Carl Ludwig Hübsch und Etienne Nillesen führte. Doch auch solo weiß Debacker zu überzeugen, wie ihr Album „Shimmer“ von 2022 demonstriert: Auf beeindruckende Weise verwebt Debacker vielfältige musikalische Fäden zu einer facettenreichen Textur und ergänzt ihr Klavierspiel um ideenreiche Variationen auf dem Clavinet. Während sie bei einigen Stücken die motivische Gestaltung fortspinnt, scheint sie bei anderen den Klang entscheiden zu lassen, welche Richtung das Stück nimmt. Dabei experimentiert Debacker und präpariert das Innere des Klaviers, um das Timbre zu verändern und perkussive Effekte oder Klangfelder aus elektronisch anmutenden Tönen entstehen zu lassen. So basiert jede einzelne Performance auf einem umfassenden Wissen, übersetzt in abstrakte Klangportraits, die nie aus nur einer Tradition oder Praxis schöpfen.
Marlies Debacker – Klavier
18:30 / Deutschlandpremiere
(SE, UK, BE, JP)
Für ihren musikalischen Minimalismus, der durch harmonischen Tiefgang besticht, erhält die in Berlin lebende Komponistin Ellen Arkbro seit einigen Jahren erhöhte Aufmerksamkeit. Auf verschiedenste Weise bringt sie Kirchenorgeln und Blechblasinstrumente zusammen und verwendet dabei die so genannte reine Stimmung – ein in Westeuropa ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gebräuchliches musikalisches Tonsystem, das noch nicht auf der heute in Europa gängigen temperierten Stimmung beruht.
Doch ihr musikalisches Schaffen ist weitaus umfänglicher: Im Rahmen des diesjährigen Jazzfest Berlin präsentiert Arkbro gemeinsam mit ihrem langjährigen Mitstreiter, dem schwedischen Keyboarder Johan Graden, ihr 2022 erschienenes Kollaborationsprojekt „I get along without you very well“ – ein Trennungsalbum, das nicht nur Musik von tieftrauriger Schönheit, sondern auch Arkbros Fähigkeiten als Sängerin und Songwriterin offenbart. Schwebende und zugleich melancholische Rhythmen begleiten Arkbro, während sie gesangling in ihren Lyrics in aufsteigenden Melodien mit ihrer Einsamkeit ringt und dabei ein Gefühl für sich selbst zurückzugewinnen scheint. Ihre Stimme verbindet sich mit den schwerelosen Klängen der Bläser*innen, die sich wie eine weitere sanfte Schicht über Arkbros Gesang legen. Letzterer ist von einem erzählerischen Charakter, wie er oftmals in der Popmusik anzutreffen ist, während ihre nuancierte Artikulation und Tonalität auf ihre Jazzprägung hindeuten. Mit dem angemessenen Grad an Fingerspitzengefühl fügt Graden mit meisterhaftem Können nur das Nötigste zu den Arrangements hinzu und unterstreicht damit ihre Leichtigkeit. Für die Deutschlandpremiere des Projekts wird das Duo von einer Reihe von Musiker*innen begleitet, die mit großer Sicherheit ebenso Anklang finden werden: der Cellistin Lucy Railton, dem Bassisten Petter Eldh, dem Posaunisten Nabou Claerhout, der Klarinettistin Michiko Ogawa und Konrad Agnas am Schlagzeug.
Ellen Arkbro – Gesang, Trompete
Johan Graden – Klavier, Synthesizer, Klarinette
Lucy Railton – Cello
Petter Eldh – Kontrabass
Michiko Ogawa – Klarinette
Nabou Claerhout – Posaune
Konrad Agnas – Schlagzeug
20:00 / Weltpremiere
(US, DE)
Als der geplante Auftritt von Henry Threadgills Quintett Zooid beim Jazzfest Berlin 2020 pandemiebedingt abgesagt werden musste, wurde stattdessen die Berliner Saxofonistin Silke Eberhard mit einer Hommage an den legendären Musiker aus Chicago beauftragt. Mit Threadgills Zustimmung arrangierte sie eine Auswahl von dessen Stücken für ihr Large Ensemble Potsa Lotsa XL neu, das in diesem Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis als Großes Ensemble des Jahres ausgezeichnet wurde. Threadgill war von Eberhards Interpretation seiner Musik so angetan, dass er kurzerhand einwilligte, im Rahmen eines Kompositionsauftrags ein von Zooid und Potsa Lotsa XL gemeinsam gespieltes Stück in Konzertlänge für eine Weltpremiere beim Jazzfest Berlin 2023 zu schreiben.
Seit jeher vereint Henry Threadgill intellektuelle Neugier mit lebendiger Vorstellungskraft. Diese Qualitäten haben in den letzten fünf Jahrzehnten sein überaus einflussreiches, originelles und zeitloses Œuvre geprägt. Wie in seinem kürzlich erschienen Buch „Easily Slip Into Another World: A Life in Musik“, das tags zuvor im Rahmen eines Artists’ Talks präsentiert wird, ausführlich nachzulesen ist, trat Threadgill früh der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) in Chicago bei und leitete seitdem eine ganze Reihe innovativer Ensembles, angefangen mit dem heute legendären Trio Air in den 1970er-Jahren. Dabei hat sich seine Musik immer auch jenseits der Grenzen von Jazz bewegt. Inspiration boten nicht nur andere Musiktraditionen, sondern auch andere Kunstformen und Wissenschaften. Letzteren ist auch die Metapher für das Kompositionssystem seines langjährigen Projekts Zooid – ein Fachterminus für einen Organismus, der sich unabhängig innerhalb eines größeren Organismus bewegt – entlehnt.
Silke Eberhards Large Ensemble wiederum geht auf eine Gruppe zurück, die sich ursprünglich der Musik von Eric Dolphy verschrieben hatte. Das Ensemble wird Threadgills Zooid-System aufgreifen: den Musiker*innen sind bestimmte Intervalle zugewiesen, innerhalb derer sie sich frei bewegen können. So entsteht eine lebendige, bisweilen sehr dichte Polyphonie. Bei diesem geschichtsträchtigen Konzert – ein Auftragswerk des Jazzfest Berlin – trifft Threadgills Ensemble auf einige der spannendsten Improvisationsmusiker*innen der Berliner Szene. Ein Abend, der ein weiterer Beweis dafür ist, dass Threadgill auch nach 79 Jahren nicht nur aktiv, produktiv und begeisterungsfähig bleibt, sondern auch nach immer neuen Wegen sucht, seine humanistische Vision mit den Hörer*innen zu teilen.
Zooid
Henry Threadgill – Altsaxofon, Flöte, Bassflöte, Komposition
Liberty Ellman – Akustik-Gitarre
Christopher Hoffman – Cello
José Davila – Tuba, Posaune
Elliot Humberto Kavee – Schlagzeug, Perkussion
Potsa Lotsa XL
Silke Eberhard – Altsaxofon
Jürgen Kupke – Klarinette
Patrick Braun – Tenorsaxofon, Klarinette
Nikolaus Neuser – Trompete
Gerhard Gschlößl – Posaune
Johannes Fink – Cello
Taiko Saito – Vibrafon
Antonis Anissegos – Klavier
Igor Spallati – Kontrabass
Kay Lübke – Schlagzeug
Silke Lange – Dirigentin
Ein Auftrag von Berliner Festspiele / Jazzfest Berlin
Gefördert durch Hauptstadtkulturfonds