Konferenz | Thinking Together
Flussdelta in Island © iStock.com / Oleh Slobodeniuk
Thinking Together 2019 betrachtet Geschichte und Geschichtsschreibung durch eine politisch geschärfte Linse der Zeit. In ihrem fünften Jahr untersucht die Thinking Together Konferenz überkommene und hartnäckige Vorstellungen von linearer Zeit und Geschichte sowie die ihnen zugrunde liegenden politischen Matrizes. Welche politischen Einstellungen stecken hinter historisch kontingenten Geschichtsphilosophien? Auf welchen Zeitvorstellungen basieren sie? Und wie beeinflussen sie wiederum den Blick auf die Gegenwart, die Beziehung zur Vergangenheit und die Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten? „Circluding History“ – der Titel der Konferenz – deutet einen anderen Ansatz beim Nachdenken über Geschichte an. Der Begriff „Zirklusion“ (geprägt von Bini Adamczak) ist das Antonym von Penetration. Ein Begriff, der auf nichtlineare Verständnisse hinweist, der das Verhältnis von Aktivität und Passivität umdenkt und eine symmetrische Verteilung von Handlungsfähigkeiten einfordert. Seinen spekulativen Bahnen folgend, erforscht und imaginiert die Konferenz Relationen zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alternative Genealogien sowie dekolonisierte, globale, zusammenhängende und queere Geschichte(n).
Elizabeth Freeman
On Libidinal Historiography
Im Rückgriff auf mein Buch „Time Binds“ über Chrononormativität (die Politik der normativen zeitlichen Bestimmung des Körpers) und Erotohistoriografie (die Darstellung echter oder fantasierter körperlicher Begegnungen mit der Vergangenheit), soll in diesem Vortrag ein Modell historischen Denkens und Schreibens erforscht werden, das das Begehren in den Mittelpunkt stellt. Ich argumentiere, dass der Roman „Of One Blood“ (1908) der afro-amerikanischen Schriftstellering Pauline Hopkins die Geschichte als Gegenstand einer körperlichen Verflechtung behandelt und die Interessen der Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts an körperlicher Anziehungskraft, Spiritualität und Ägyptologie dazu verwendet, die Gegenwart als eine Membran neu zu denken, die der Vergangenheit gegenüber durchlässig ist. Pauline Hopkins‘ Arbeit erinnert uns daran, dass historisches Denken immer libidinös ist und es immer darum geht, vergangene Materialien aufs Neue interessant zu finden und zu entzünden, damit sie Schnittstellen mit der Gegenwart bilden können – ein Prozess, der vor allem in der queeren Politik und Theorie von Bedeutung ist. Dieser Prozess des Begreifens von Geschichte als Membran spiegelt nicht nur, so behaupte ich, das Modell der Zirklusion, an dem sich diese Konferenz ausrichtet, sondern konfrontiert und überwindet auch die Rassifizierung von Afro-Amerikanern, durch die deren Reduktion auf ihre Haut.
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Björn Schmelzer
„Nous faysons contre nature“ – Polyphony, Sex and the Machine
Dieser Vortrag basiert auf neuen, derzeit laufenden Forschungsarbeiten, die mir verstehen helfen, welche Art von Ereignis die Erfindung der Pariser Polyphonie im 12. Jahrhundert war und welchen Bruch in der kosmologischen und religiösen Wahrnehmung bedeutete.
Der Protagonist dieser Wahrnehmung ist eine der spannendsten und ambivalentesten Figuren der westlichen Philosophie, Alain de Lille (Lateinisch: Alanus ab Insulis, 1128-1202/03) mit seinem Opus Magnum „De Planctu Naturae“ (Die Klage der Natur). In dieser Schrift beschreibt Alain de Lille einen Traum, in dem er der Natur in Person begegnet, die sich über die Degeneration und den Niedergang der Menschheit beklagt.
De Lilles Welt ist eine vollständig sexualisierte – an sich nicht ungewöhnlich, da dies ein wichtiger Aspekt traditioneller Kosmologie ist, in der die Vorstellung herrscht, dass die Dinge Harmonie und Gleichgewicht durch binäre sexualisierte Kräfte herstellen. Die Menschheit wird nicht nur für einen radikalen Bruch mit dieser Ordnung verantwortlich gemacht, sondern es wird auch klar, dass die Natur selbst schließlich aus dem Gleichgewicht gerät und Sex zu einem Problem wird, das sich der binären Logik verweigert. Wenn de Lille auch das verurteilt, was er sieht, so eröffnet doch die Ambivalenz der Beschreibung selbst den Weg zu einer langfristigen künstlerischen und musikalischen Queerness.
Musik artikulierte traditionsgemäß die heiligen Proportionen und die Harmonie der Sphären: Was wäre aber, wenn die neue Kunst der Polyphonie mit der Harmonie bräche um eine gegen-natürliche Praxis zu betreiben, wie es der französische Komponist eines ars subtilior-Chancons des 14. Jahrhunderts nennt, auf den sich der Titel „Nous faysons contre nature“ bezieht? Dies ist erst der Beginn einer fortlaufenden moralischen Kritik an der Polyphonie, der Verbindung von Körpern, die nicht verbunden werden sollten, die die natürliche Vokalität deformiert und letztlich eine Schreibpraxis anwendet, die die Akteure von einer oralen Tradition entfremdet und sie zu Teilen einer polyphonischen Maschine macht. Gibt es in der westlichen Musik ein emanzipatorisches Potential, das wir schon seit Jahrhunderten übersehen?
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Amelia Groom
All a Blur
Ausgehend von unscharfen Formen auf einer alten, beschädigten Daguerreotypie und Lesarten der Unschärfe in verschiedenen zeitgenössischen Kunstwerken, wird sich dieser Vortrag auf Orte der Unschärfe konzentrieren und gleichzeitig die unheroischen Zeitlichkeiten des Beibehaltens und sich Begnügens betrachten. Im Hintergrund der Ereignisse und Namen, aus denen historische Aufzeichnungen bestehen, steht die unendliche, aber stets verborgene / übersehene Unterstützung, die die Bedingungen aufrechterhält, unter denen die Aufzeichnungen gemacht werden. Mit trüben Augen ist es mitunter schwer zu unterscheiden, wo eine Sache aufhört und die nächste beginnt. Als fehlgeschlagene ordnungsgemäße Einschreibungen können Unschärfen die Zeitlichkeiten der mühevollen, monotonen Arbeiten sichtbar machen, die ständig um die vermeintlich autonomen Individuen herum geschehen, deren sich die Geschichte erinnert.
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Vali Mahlouji
For a History of the Defeated: Archaeology of the Final Decade
Walter Benjamin forderte, die „Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ und die Plattform Archeology of the Final Decade (AOTFD) folgt dieser Forderung mit einer konstruktiven Neu-Interpretation von (Kunst-)Geschichte aus dem Blickwinkel der Besiegten, der Opfer. Dieser Vortrag plädiert für ein kontinuierlich weiterentwickeltes, in vielfacher Form auftretendes Engagement dafür, gegen eine vergiftete Geschichte zu kämpfen, die von Sieger*innen zu Sieger*innen weitergegeben wird, und stattdessen an diejenigen zu erinnern, die gewaltsam aus ihr gelöscht wurden.
Die Methode besteht darin, Kultur neu zu untersuchen, und zwar nicht als gemeinsamen Raum einer harmonischen Existenz, sondern vielmehr als Bereich konfliktbeladener Verhandlungen; die Kunst selbst muss in diesem Kreuzfeuer verortet sein, um ihre historische Bedeutung zu begreifen.
AOFTFD richtet ihre Aufmerksamkeit vor allem auf kulturelle Erinnerung und erobert „Orte des Verschwindens“ zurück – Bereiche der Geschichte, die ausgelöscht, zerstört, verboten wurden oder davon bedroht sind. Die Praxis beschäftigt sich mit dunklen und blinden Flecken der Geschichten – der Geschichten von Nationen, die von sozialer Vertreibung, kultureller Vernichtung oder absichtlichem Verschwindenlassen betroffen sind. Sie erforscht Berichte über Kultur, die durch Zerstörung von Material, Zensur oder andere politische, wirtschaftliche oder menschliche Kontingenzen verloren ging.
Dieser Vortrag schlägt eine prozesshafte Zurückverfolgung und Reintegration in die kulturelle Erinnerung und den kulturellen Diskurs vor, als performative Gegenmaßnahme zu gewaltsamen, systematischen Auslöschungen. Er legt eine pädagogikorientierte und anti-hegemoniale Art der Ausstellungsproduktion nahe, die ihre Gegenstände in ein Umfeld aus unterdrückter geschichtlicher Narrative einbettet, um sorgsam auf die marginalisierten Geisterstimmen der Vergangenheit hören zu können.
Vali Mahlouji wird die Arbeitsmethoden von „A Utopian Stage“ darlegen. Dieses facettenreiche und kontinuierlich weiterentwickelte Projekt nimmt das radikale Festival of Arts, Shiraz-Persepolis, das zehn Jahre lang bestand (1967 – 1977), als Ausgangspunkt für eine Reise durch die zahllosen utopischen Episoden und Ideale, durch die das 20. Jahrhundert definiert wurde: transzendentale Internationalismen, radikale Befreiungen, emanzipatorische Solidaritäten.
Obwohl es heute beinahe vergessen ist, versetzt uns das Festival in die Lage, einen komplexen Raum der internationalen Moderne zu rekonstruieren, die mit den Empfindungen einer „dritten Welt“ der unmittelbaren Nach-Kolonialzeit durchsetzt war. Das Festival führte ferne Stimmen aus Asien und Afrika in den internationalen Kulturdiskurs ein und stellte sie neben neo-avantgardistische Ausdrucksweisen. Damit ermöglichte es einen ungehinderten künstlerischen Austausch über Geographien, Geschichten und Formen hinweg, auf bisher undenkbare Weisen und in ungekanntem Ausmaß. In der Folge des Kollapses europäischer Hegemonien und des Aufstiegs des globalen Südens gab das Festival den verbreiteten Rufen nach einer „globalen Umorientierung“ eine Stimme, unterlief die bisher einzige Interpretation vom Westen hin zum Osten mit einem eher zyklisch gearteten Modell und begab sich in kulturelle Verhandlungen von Osten zu Osten, Osten zu Westen, Süden zu Osten, Süden zu Süden.
Wenn man das Festival vor dem Hintergrund gleichzeitig stattfindender politischer Ereignisse wie dem Non-Aligned Movement und dem Pan-Afrikanismus betrachtet, fällt auf, dass Shiraz-Persepolis ein umkämpfter Ort konkurrierender Solidaritäten und sich vervielfachender Visionen einer miteinander verbundenen Welt war – und wie es, was besonders wichtig ist, die Begegnung internationaler und ethnischer Avantgarden ermöglichte. Es sind genau diese erklärte Absage des Festivals an eine konfliktlose, homogenisierende Fusion der Kulturen und seine Ausrichtung an den Prinzipien des Partikularismus, der kulturellen Unterschiedlichkeit und der Alterität, die wir heute besonders aufmerksam betrachten sollten. Denn diese Eigenschaften sorgen nicht nur dafür, dass das Festival ein einzigartiger historischer Gegenstand ist, sondern weisen auch auf die noch immer latenten Möglichkeiten der utopischen Impulse hin, die die kulturübergreifenden Geschichten der Kunst und des Kampfes gegen den Kolonialismus in den 60er- und 70er-Jahren kennzeichnen.
14:00 – 15:00
On Libidinal Historiography
mit Elizabeth Freeman (USA)
15:00 – 16:00
„Nous faysons contre nature“ – Polyphony, Sex and the Machine
mit Björn Schmelzer (BE)
16:00 – 17:00
All a Blur
mit Amelia Groom (AU/DE)
17:00 – 18:00
For a History of the Defeated: Archaeology of the Final Decade
mit Vali Mahlouji (GB)