Lucia Dlugoszewski am Timbre-Piano
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„Contemplations into the Radical Others: The Story of Lucia Dlugoszewski“ ist der Versuch, die Geschichte Lucia Dlugoszewskis (1925 – 2000) zu erzählen – einer polnisch-amerikanischen Komponistin, einer Erfinderin, Dichterin, Lehrerin, Choreografin, Philosophin und Avantgarde-Künstlerin. Sie handelt von Reflexionen, Erwartungen und radikalen Wandlungen. Im Laufe ihrer Karriere und ihres Lebens komponierte Dlugoszewski Orchesterwerke, Stücke für Ensemble sowie Musik für Tanz. Sie war eine zentrale Figur in der Erick Hawkins Dance Company und übernahm nach dem Tod Hawkins die künstlerische Leitung der Kompanie. Dlugoszewski entwickelte über 100 Schlaginstrumente, schrieb Gedichte und Prosatexte. Ihre Kompositionen umfassen Partituren, verbildlichte Notationen (vor allem aus ihrer Frühphase), Anweisungen für Tanz sowie eine Fülle an ästhetischen Karten – sogenannten Maps –, die ihre Musik begleiten. Sie studierte Komposition bei Edgard Varèse – zeitweise bei John Cage – und Klavierspiel bei Grete Sultan. Mit ihrer radikalen Suche nach neuen Spieltechniken und subtilen Klängen gehörte Dlugoszewski zu den Wegbereiter*innen am präparierten Klavier. Sie entwickelte ihre eigenen Aufführungstechniken für das Timbre-Piano, stand in enger Verbindung mit Komponist*innen wie Morton Feldmann, Pierre Boulez, John Cage oder Virgil Thomson und war darüber hinaus gut in der Kunstwelt verknüpft. Obwohl Dlugoszewski ihre frühesten Stücke mit bereits 15 Jahren komponierte, begann ihr Schaffen erst zunehmend in den 1950er-Jahren zu florieren. Nachdem sie und Hawkins sich kennenlernten, startete unmittelbar danach ihre enge Zusammenarbeit. Eine Zusammenarbeit, bei der Dlugoszewski Hawkins Choreografien um ihre Gedankenwelt, erfundene Instrumente und Kompositionen ergänzte und kreativ inspirierte.
Zwischen den späten 1970er- und frühen 1990er-Jahren erhielt Dlugoszewskis Arbeit vermehrt positive Resonanz und markierte zugleich eine Schaffensphase mit nur wenigen kollaborativen Projekten mit Hawkins. Eines der bemerkenswerten Werke aus dieser Zeit ist „Abyss and Caress“, das von den New York Philharmonikern beauftragt, für Pierre Boulez geschrieben und 1975 mit Boulez als Dirigent uraufgeführt wurde. Die Arbeit ist ein Exempel für mehrere musikalische Konzepte Dlugoszewskis, ähnlich wie „Opening of the Eye“ oder „Amor Elusive Empty August“. Trotz starken Lobs von Musikkritiker*innen schien ihr Werk in den folgenden Jahrzehnten beim Publikum und der Musikindustrie in Vergessenheit geraten zu sein. Dank des WDR Sinfonieorchesters wurde „Abyss and Caress“ 2022 erstmals in Deutschland aufgeführt, 40 Jahre nach seiner Entstehung.
In den letzten zwei Jahren hat sich MaerzMusik gemeinsam mit Kollaborationspartner*innen und Mitstreiter*innen intensiv mit der Erforschung des Werks von Lucia Dlugoszewski beschäftigt. Im Rahmen dessen wurde die Musikabteilung „Erick Hawkins and Lucia Dlugoszewski Papers“ der Library of Congress in Washington, D.C. besucht und Partituren, Skizzen, Konzepte, Kritzeleien, Fotos und vieles mehr untersucht. Außerdem wurden ausführliche Gespräche mit Katherine Duke, der derzeitigen Leiterin der Erick Hawkins Dance Company, sowie mit Christine Chapman, Marco Blaauw und weiteren Mitgliedern des Ensemble Musikfabrik geführt.
Fasziniert von philosophischen Fragen zum Begriff der Unmittelbarkeit, experimentierte Dlugoszewski mit experimentellem und situiertem Hören. Als Teil dessen schlug sie vor, normative Strukturen des Hörens zu „erschüttern“, um sich spezifischen Verfahren zu nähern, durch die Klänge erfahrbar werden. Dies lässt sich etwa anhand ihres Werkes „Tender Theater Flight Nageire“ (vom Ensemble Musikfabrik am 24.03.2023 bei MaerzMusik aufgeführt) nachvollziehen. Sie schreibt: „[D]ie einfachste der kreativen Begegnungen mit Klang ist zugleich der wahrhaftigste Ausgangspunkt für eine Hinwendung zum aktiven Hören.“ [2] In ihrem Frühwerk beschäftigte sich Dlugoszewski mit dem Profanen, ihrem Lebensumfeld und dazugehörigen Kategorien, die helfen „Geräusche zu erschließen, mit denen man täglich zu tun hat – das Gießen von Wasser, das Pfeifen eines Teekessels, das Klirren on Gläsern, der Aufprall eines Balls, das Rascheln von Papier und so weiter“. [3] (Die Arbeit wird im Rahmen der Programmreihe „Contemplations into the Radical Others: Laboratory“ von Katherine Duke und Kate Doyle am 23.3.2024 aufgeführt). Es ist durchaus naheliegend, dass Dlugoszewskis Suche nach der Körperlichkeit des Klangs durch ihre Begegnungen mit Varèse und Cage beeinflusst wurde. Obwohl sie zu gänzlich abweichenden stilistischen und ästhetischen Einschätzungen kam, führte sie deren Tradition des Experimentierens mit Klang und Raum fort. Dadurch verlagerte sie ihre Aufmerksamkeit von technischen Aspekten hin zum Experimentellen und Akustischen. Sie selbst formulierte ihre Ablehnung des Technischen wie folgt: „Das Magnetband ist nur eine Maschine, ein Werkzeug, eine Erweiterung von uns selbst. Wie Proust einmal sagte, wenn wir zum Mond reisen, werden wir dort nur das hören, was unsere Ohren wahrnehmen. Keine Maschine kann das Ohr verändern, höchstens reinigen oder stimulieren.“ [4]
Es verwundert kaum, dass sich Dlugoszewski, nachdem sie mit der Ausgestaltung alltäglicher Klänge und deren Organisation im Raum begonnen hatte, dem Tanz zuwandte und dabei traditionelle Instrumentarien sowie Kompositionstechniken hinterfragte. Ihre Zusammenarbeit mit der Erick Hawkins Dance Company, die im Jahr 1953 begann, inspirierte nicht nur sie, sondern auch Erick Hawkins: Beide fanden Zugang zur Realität des Körperlichen, einer ausgeglichenen Kollaboration aus Musik, Klang und Bewegung, Unmittelbarkeit und der Intimität der theatralen Eigenschaft von Klang und seiner Performativität. Obwohl Dlugoszewski weiter im Stil der zeitgenössischen klassischen Musik komponierte, widmete sie sich zudem der Erfindung neuer Instrumente, um vorgefundene Grenzen immer wieder zu verschieben. Als sie gefragt wurde, warum sie neue Instrumente entwickelt, antwortete Dlugoszewsi: „Wenn ich mir klassisch ‚westliche‘ Perkussion anschaue, ist sie so flach, es ist lediglich ein Bumm-Bumm-Bumm. Als würde eine Art ‚Macho‘ auf eine Sache einprügeln. Das hat mich nicht angezogen (...) Ich wollte vielmehr einen reineren, nicht emotionsgeladenen Klang finden.“ [5] In ähnlicher Weise verwies Christine Chapman – nach intensivem Studieren von Dlugoszewskis Musik und der Rekonstruktion ihrer Instrumente für dieses Programm – auf Dlugoszewskis erfundene Instrumente: „Perkussion klingt wie Schlagen, aber ich weiß, dass es in ihrer Musik ein Streicheln ist (...) es sind keine Instrumente für plötzliche Schreie und Schläge, sie sollen gestriegelt werden, gebürstet und gestreichelt, um die gewünschten Töne hervorzubringen.“ [6]
In einem Gespräch mit Marco Blaauw, das während des Rechercheprojekts 2023 stattfand, rekapitulierte dieser die Arbeit an „Space is a Diamond“ und hielt fest: „Es gibt diesen physischen Aspekt des Trompetenspiels, der mit dem Atem verbunden ist, mit den vibrierenden Lippen, die den Klang erzeugen, und dann gibt es diese eine Sache, das Moment, bei dem sich der Tonumfang – beinahe – endlos ausdehnt, doch wie gelingt dies? Weil wir körperlich begrenzt sind, sind wir auch kognitiv begrenzt. Wir werden also aufgefordert, unsere Köpfe/Konzepte zu sprengen und zu versuchen, sie aufzulösen und wieder frisch und neu zu denken. Mir fiel es schwer, diesen Bereich zu erforschen. Ich hatte noch nie in diesem hohen Bereich gespielt und hatte zugleich nie darüber nachgedacht.“ [8] Dies folgt den Worten des Komponisten Virgil Thomson, der 1971 feststellte, dass Dlugoszewskis Komposition „die technischen Möglichkeiten des Instruments praktisch ausschöpft, ohne dabei didaktisch zu werden“. [9]
Als Komponistin hat Dlugoszewski Musiker*innen, die ihre Kompositionen spielten, herausgefordert – und zwar in dem Maße, dass sie zum Teil Musik geschrieben hat, die nahezu unmöglich aufzuführen war. Gleichzeitig wird deutlich, dass ihre Erforschung von Musik eine Erkundung in die Sphären der unmöglichen Formen umfasste. Ihre Kompositionen sind inspiriert vom Unkonventionellen, im Sinne der „Vermeidung fester Tonhöhen durch gleitende Töne, den Glissandi und einem Faible für das Ausreizen dynamischer Extreme.“ Zahlreiche ihrer Werke erweisen sich als Provokationen, die dazu anregten, Musik unmittelbar zu erleben – und damit Klang oder Musik um ihrer selbst willen wahrzunehmen. Daran zeigt sich die konkrete Qualität ihrer Arbeit, die das herausforderte, was Dlugoszewski einen „sinnlichen Realismus“ nannte.
Eine wesentliche Rolle in ihrem Schaffen nahmen Dlugoszewskis erweiterte Klangexperimente ein, die auf ihrer kompositorischen Vorstellungskraft, umfassenden Vorbereitungen und auf Interpretation basierten. Zu diesen Vorbereitungen gehörte neben einer Partitur eine ausführliche Anleitung zur Einbindung materieller Objekte, die dann mit dem Instrument (Klavier, Schlagzeug, Trompete oder einem Kollektiv von Instrumenten) in Austausch treten sollten. Ebenso grundlegender Bestanteil war eine Fülle an philosophischen Texten und ästhetischen Karten – sogenannten Maps –, die in der Library of MaerzMusik während des Festivals zur Verfügung gestellt werden.
Dieses Projekt plädiert für einen Paradigmenwechsel, hinsichtlich dessen, wie Geschichten erzählt und gestaltet werden und wie wir uns auf einer Zeitachse neu orientieren können. Es ist ein Versuch, die lineare Geschichtsschreibung der zeitgenössischen klassischen Musik, die geprägt ist von patriarchalen, ausgrenzenden Systemen und Geschichten, zurückzuweisen. Dafür ist es notwendig, sich die Zeit zum Zuhören zu nehmen, um die Werke von Komponist*innen wieder zu entdecken, die im Dunkeln stehen gelassen wurden und deren Arbeit für nicht „ernsthaft genug“ befunden wurde. Komponist*innen, die dazu verurteilt wurden, im Schatten, in Fußnoten und historischen Anekdoten ihr Dasein zu fristen – und die im Programm großer Festivals für zeitgenössische Musik bis heute teilweise keine Beachtung finden.
Das diesjährige Programm zu „Contemplations into the Radical Others“ bringt sowohl Dlugoszewskis Kosmos der Musik als auch den des Tanzes in das Festival ein. Mit der Pianistin Agnese Toniutti nehmen Dlugoszewskis klangvolle Klaviertechniken und ihre eigenen musikalischen Idiome, die Toniutti seit vielen Jahren erforscht, Einzug ins Programm. Viele der Partituren wurden von Mitgliedern des Ensemble Musikfabrik und Agnese Toniutti auf Grundlage von Dlugoszewskis Kommentaren rekonstruiert, die einen Einblick in ein tieferes Verständnis ihrer Notation geben. Aufbauend auf Überlegungen, welche neue Formen und Kollaborationen möglich sind, konnten zudem weitere Verbindungen zwischen Dlugoszewskis Musik, Choreografien und Tanz gefunden werden. Mit der aktuellen Leiterin der Erick Hawkins Dance Company, Katherine Duke, werden eine Auswahl an Kompositionen und Choreografien aus Dlugoszewskis Zeit bei der Kompanie musikalisch als auch tänzerisch auf die Bühne gebracht. Der Choreograf und Tänzer Edivaldo Ernesto hat neue Beziehungen und Bewegungen zu ihrer Musik entwickelt und wird zwei von Dlugoszewskis berühmtesten Werken präsentieren, „Space is a Diamond“ und „Tender Theater Flight Nagerie“. Außerdem wurden die Komponist*innen Bethan Morgan-Williams, Mazyar Kashian und Elena Rykova beauftragt, sich von Dlugoszewskis Philosophie und Musik inspirieren zu lassen. Als Projektteam sind wir in den letzten zwei Jahren immer wieder auf neue Fragen gestoßen: Wie rekonstruieren wir Dlugoszewskis Instrumente und auf welche Weise sollen diese Instrumente gespielt werden? Wie können wir ein so anspruchsvolles und umfassendes Archiv präsentieren und wie können wir sowohl das Archiv in der Musik als auch die Reihe von Austauschveranstaltungen im Labor, die im Rahmen des Festivals organisiert werden, ins Hier und Jetzt übertragen?
Die gemeinsame Suche nach Antworten als Prozess verstehend, will das Projekt keine abschließenden Ergebnisse präsentieren. Es könnte und sollte sich daraus vielmehr ein neuer Modus operandi entwickeln, der bereits auf die Planung, die Programmierung und Verbindungen einwirkt, die vor, während und nach dem Festival entstehen. Ein Ansatz, der Diskussionen und Fragen fördert statt neue Binaritäten, Gegensätze oder Hierarchien zu schaffen.
Veranstaltungen zu Lucia Dlugoszewski
[1] Solnit, Rebecca (2023). Men explain things to me. Faber & Faber.
[2] Beal, A. C. (2022). Expanding Creativity and Collaboration (1953-1960). In: Terrible freedom: The life and work of Lucia Dlugoszewski (S. 162 ff.). University of California Press.
[3] Hughes, Allen (1971). And Miss Dlugoszewski Experimented - A lot, The New York Times.
[4] Magnetic Tape, Mathematics, and Music for the Dance, 1960, BOX-FOLDER 21:15 Erick Hawkins and Lucia Dlugoszewski Papers, Music Division, Library of Congress, Washington, D.C.
[5] Duke, Katherine. Interview with Lucia Dlugoszewski by Katherine Duke. unveröffenlticht, 1992.
[6] Blaauw, Marco, Christine Chapman, Sophie Emilie Beha, and Kamila Metwaly. Interview with Members of Ensemble Musikfabrik. Köln, unveröffentlicht, 2023.
[7] Duke, Katherine. Interview with Lucia Dlugoszewski by Katherine Duke. unveröffentlicht, 1992.
[8] Blaauw, Marco, Christine Chapman, Sophie Emilie Beha, and Kamila Metwaly. Interview with Members of Ensemble Musikfabrik. Köln, unveröffentlicht, 2023.
[9] Thomson, Virgil und Nabokov, Nicolas (1971). American music since 1910. New York: Holt, Rinehart and Winston.