Inszenierung
Theaterlabor Neuperlach – Münchner Kammerspiele, München
TIME BUSTERS © Gabriela Neeb
Junge Menschen im Jahr 2433 entdecken eine Zeitkapsel, die jahrhundertealte Aufzeichnungen einer Schulklasse aus dem Jahr 2023 enthält, die sich mit der eigenen Gegenwart und nahen Vergangenheit befasst hat. Die Entdecker*innen stoßen auf Erzählungen einer gewaltvollen Vorzeit, die sie aus Geschichtsbüchern kennen, die jedoch nicht in ihren Familienerzählungen vorkommt.
Wie verbinden wir kollektive Erinnerung mit individuellen Familienbiografien? Die Inszenierung ist das Ergebnis eines langen Workshop-Prozesses, der im Mai 2022 in verschiedenen Schulen im Münchner Stadtteil Neuperlach begann und schließlich wöchentlich mit zwei Klassen der Mittelschule an der Albert-Schweitzer-Straße fortgesetzt wurde. Die Abschlusspräsentation dieses Projekts fand im neuen Theaterlabor Neuperlach der Münchner Kammerspiele zu dessen Eröffnung statt.
Zwölf Workshopteilnehmer*innen entschlossen sich, außerschulisch ihre Auseinandersetzung mit der Shoah und der deutschen Erinnerungstradition fortzusetzen. Dabei entstand unter der Regie von Martín Valdés-Stauber ein Theaterabend, der unsere Erinnerungskultur hinterfragt und unser Geschichtsverständnis erweitert: Wie funktioniert kollektive Erinnerung, wenn die NS-Vergangenheit immer weniger mit den Familienbiografien der Bürger*innen verwoben ist? Das Kollektiv schafft einen zeitgemäßen Theaterabend, der aktueller kaum sein könnte: Hier erinnern alle gemeinsam sowohl an das Leid der eigenen Familiengeschichte (Flucht, Vertreibung und Rassismus) als auch an eine kollektive Erinnerung, selbst wenn sie nicht mit ihrer Geschichte verbunden ist. So könnte ein möglicher Weg aussehen, wie Erinnerungskultur in einer postmigrantischen Gesellschaft funktionieren kann.
Jurykommentar von Antigone Akgün
Wessen Geschichten werden erinnert?
2433 – wie wird das Leben in diesem Jahr wohl aussehen? Wird es Leben überhaupt noch geben? Vielleicht. Vielleicht ist es ein ganz ruhiges Leben, mit angenehm leisen Tönen, kleinen Gewässern und bequemen Klamotten. Ein Leben, das entspannt und konfliktbefreit jede Person in seinen immerwährenden Sog hineinzieht.
So stellen sich zumindest die Performer*innen der Produktion „TIME BUSTERS“ die Zukunft vor. Eine schöne Vorstellung ist das. Ein Lichtblick einer Welt, in der das Gemeinsame im Vordergrund steht und nicht mehr das Unterscheidende. Auch wenn wir diese Zukunft in ihrer Ferne nicht mehr miterleben werden.
Zu einer Vorausschau gehört auch immer eine Erinnerung. In der Zukunftsutopie, die in „TIME BUSTERS“ skizziert wird, liegt die Erinnerung gut verstaut in einer Zeitkapsel und wird gemeinsam gesichtet: Es sind Rückblenden auf den Alltag im Münchener Stadtteil Neuperlach, freundschaftliche Unternehmungen in riesigen Einkaufzentren, Gespräche über Berufswünsche und Zukunftsperspektiven, ebenso wie Migrationserfahrungen und der tägliche Struggle mit einer ausgrenzenden Mehrheitsgesellschaft. Und auch Erinnerungen an deutsche Geschichte, an den Holocaust und die eigene Auseinandersetzung damit sind dabei. Denn – und das führt diese Produktion vorzüglich vor – Migrationsgeschichten sind niemals nur auf ein Narrativ reduzierbar, sondern hängen natürlich auch mit deutscher Geschichte zusammen.
Die deutsche Erinnerungskultur betrifft jeden Menschen der hiesigen pluralistischen Gesellschaft auf eine andere Art und Weise – das wird in dieser Produktion deutlich. Deutlich wird auch, dass die deutsche Erinnerungskultur, wenn sie denn all ihre Bürger*innen meinen möchte, in Zukunft viel mehr Geschichten erzählen sollte. Und zwar nicht nur solche, die Flucht und Migrationshintergründe verhandeln. Nein, auch Geschichten von Menschen, die die Gesellschaft mitgeprägt und zur ihrer positiven Verwandlung beigetragen haben.
Das wünschen sich die jungen Menschen der Produktion „TIME BUSTERS“ und gehen dafür mit bestem Beispiel voran. Erarbeitet wurde die Inszenierung in unterschiedlichen Workshops des Theaterlabors Neuperlach und somit nimmt sich eine diverse Gruppe die Bühne, um erfrischend aufgeschlossen und mit sehr viel Spielfreude einen unabdingbaren politischen Diskurs zu führen und zugleich Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu empowern. Dabei versuchen sie sich an zahlreichen performativen Mitteln mit großer Souveränität und Mut – allerspätestens wenn sie sich das Publikum dazu einladen, gemeinsam erinnerungswerte Erfahrungen in das Zeitkapselarchiv einzuschreiben.
Mit „TIME BUSTERS“ ist eine Inszenierung gelungen, die in einer gesellschaftspolitisch turbulenten Gegenwart Hoffnung macht auf ein pluralistisch denkendes und handelndes Morgen.
Marko Brkic, Nikola Bruder, Dilara Demiriz, Ela Demiriz, Hassib Fazli, Klarivio Karzan Hermiz, Jinan Jaballah, Karim Maamar, Amirhusyn Musawi, Ervin Nimanaj
Martín Valdés-Stauber – Text und Regie
Janina Sieber – Bühne und Kostüme
Amon Ritz – Licht und Video
Simon Räde – Ton und technische Assistenz
Elke Bauer, Pauline Hutterer – Theaterpädagogische Begleitung
Prodromos Tsinikoris – Dramaturgie
Rebecca Maria Fischer – Regieassistenz
Yue Ying – Bühnen- und Kostümbildassistenz
Angelika Koch – Künstlerische Produktionsleitung
Victoria Iglesias – Künstlerische Produktionsassistenz
Die Gründung des Theaterlabors unter der künstlerischen Leitung von Martín Valdés-Stauber, die mehrmonatige Erinnerungswerkstatt sowie die Inszenierung „TIME BUSTERS“ wurden in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.