„Mein Medium ist die Fotografie. Ich drehe und wende sie, ich ringe mit ihr – bis die Form sich mir offenbart. Darin besteht meine Arbeit als Künstlerin: die Möglichkeiten freizulegen, die die Fotografie in sich trägt.“ — Dayanita Singh
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Seit den 1980er Jahren verfolgt Dayanita Singh einen bahnbrechenden fotografischen Ansatz, der die Grenzen der Fotografie deutlich erweitert. Denn die Praxis der Künstlerin durchkreuzt verschiedene Medien – von Bildern bis zu Büchern, die sich in Ausstellungen und Museen verwandeln, bevor sie zurückkehren und wieder zu Büchern werden. Für Singh ist die Fotografie das Rohmaterial, also ein Ausgangspunkt und kein Selbstzweck.
Diese Retrospektive zeigt die zentralen Arbeiten von Dayanita Singh. Sie umfasst vier Jahrzehnte bis zu ihrem jüngsten Großprojekt Let’s See (2021). Intime Begegnungen, Bewegung, Musik, Raum und Archive sind wichtige Motive von Singhs Reisen über Kontinente, Geografien, Menschen, Dinge und Medien.
Singh begann ihre Laufbahn als Fotojournalistin nach einer Ausbildung in visueller Kommunikation. Bei ihrem ersten fotografischen Projekt begleitete sie ihren Mentor, den Tabla-Maestro Ustad Zakir Hussain, auf seinen Tourneen. Seitdem macht sie ihre Betrachter*innen zu Mitreisenden auf ihrem Weg durch Archive, zu Buch-Objekten und in ihre eigenen „Museen“. Unterwegs treffen wir immer wieder Freund*innen und Bekannte, die beim Tanzen, Liebkosen, Musizieren oder einfach nur beim Schauen porträtiert werden – häufig über Jahrzehnte hinweg. Dabei fordert uns Singh immer dazu auf, uns mobilere, zugänglichere und wandelbarere Ausstellungen, Bücher und Bilder vorzustellen.
Singhs Werk befreit die Fotografie von der Wand. Zum Beispiel in ihrer Erfindung von Formen, die sie als „Museen“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um große Holzstrukturen, die sich öffnen und immer wieder neu anordnen lassen. Sie umfassen jeweils unterschiedliche Bilder, die Singh als „Foto-Architekturen“ beschreibt. Allesamt können sie zusammengeklappt und verpackt werden. Singhs „Buch-Objekte“ sind auch eigenständige Ausstellungen. Sie sind das Ergebnis ihres zielsicheren und dennoch intuitiven Auswahlprozesses. Und manchmal schenkt sie diese Objekte Freund*innen und Bekannten. Es sind Ausstellungen, die jede*r besitzen, ausstellen und archivieren kann. Singh befreit so auch das Buch aus dem Regal.
Für Dayanita Singh ist jede Ausstellung beweglich – immer bereit, an jedem Ort auf der Welt gezeigt zu werden.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Museum of Chance (2013)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Für Dayanita Singh ist die Fotografie das Rohmaterial ihrer Arbeit. Dabei zieht sie vollkommene Kreise: Ihre Fotografien werden ein Buch, das eine Ausstellung wird, die ein Katalog wird.
Museum of Chance (2013) stellt einen Wendepunkt in Singhs künstlerischem Schaffen dar. Singh erfand damit eine Form, die sie als ihr „Museum“ bezeichnet. Museum of Chance ist bewegliches Museum, Foto-Architektur und faltbare Ausstellung zugleich. Es ist das „Muttermuseum“ all derjenigen Arbeiten, die in den nächsten Räumen zu sehen sind.
Museum of Chance zeigt auf 163 Bildern, die im Lauf von drei Jahrzehnten entstanden sind, Körper, die einander umschlingen, tanzen und sich bewegen. Es sind Kleidungsstücke, die auf Gestellen oder Geländern hängen, zu sehen, und persönliche Zyklen von Wiedergeburt, Aufbewahrung, Erinnerung und Gedächtnis.
Jede Struktur besteht aus handgefertigten Teakholz-Paneelen und ist beweglich. Sie verfügen über Flügel, die sich öffnen und schließen lassen. Singhs Museen sind gleichzeitig Archiv, Speichervorrichtung und Präsentationsstruktur für ihre Fotografien, vergrößerte Kontaktbögen und bewegliche Architekturen im Raum.
Singhs Auswahlprozess erfolgt während der Durchsicht von Kontaktbögen mit vielen Bildern. Er verläuft ebenso sorgfältig wie intuitiv. Sie bezeichnet ihre Kontaktbögen als das Herz ihres Archivs, ihr vier Jahrzehnte umfassendes Tagebuch. Auch wenn Singh mittlerweile digital fotografiert, benutzt sie nach wie vor analoge Kontaktbögen, um ihre Arbeit zu sichten und auszuwählen. Dann stellt sie kleine Abzüge her und schneidet diese von Hand aus. Den Computer setzt sie nur dann ein, wenn es erforderlich ist. Es handelt sich also um einen sehr tastenden Prozess. Er führt Singhs anhaltendes Interesse an der Verbindung zwischen menschlicher Berührung und Zyklen von Musik, Rhythmus und Bewegung fort.
Dayanita Singh kommt immer wieder auf bestimmte Menschen, individuelle Projekte und Interessen zurück. Eine wichtige frühe Verbindung ist die zu ihrem Mentor, dem Tabla-Maestro Ustad Zakir Hussain.
Singh lernte Hussain 1981 kennen, als sie am National Institute of Design in Ahmedabad studierte. Während der nächsten sechs Winter dokumentierte Singh Hussain zusammen mit mehreren klassischen Musiker*innen bei ihren jährlichen Tourneen durch verschiedene kleinere und größere Städte Indiens, zum Beispiel Allahabad (Prayagraj), Pune, Dharwad, Bombay (Mumbai), Kalkutta (Kolkatta) und Madras (Chennai). Durch Hussain lernte Singh, was es heißt, Künstler*in zu sein. Sie beobachte aus nächster Nähe die riyaaz (strenge Praxis) des Musikers und seine dhyaan (Konzentration) auf sein Medium.
Das Ergebnis war ihr erstes Buch: Zakir Hussain: A Photo Essay (1986). Es wurde von Himalayan Books in New Delhi veröffentlicht. Eines der noch vorhandenen Exemplare ist an der Wand ausgestellt. Die Porträts zeigen Hussain mit seiner Familie, auch mit seinem Vater, Ustad Alla Rakha, einem legendären Musiker und seinem Guru. Sie halten die Energie der Aufführungen und Reisen fest und deuten bereits auf Singhs anhaltendes Interesse an Bewegung, menschlichen Beziehungen und dem Körper hin.
Für Singh ist das veröffentlichte Buch keine Ergänzung der Ausstellung, sondern eine eigenständige Ausstellung. 2019 druckte der Steidl Verlag eine Reproduktion (ein „Faksimile“) von Singhs handgefertigter Maquette. Dabei wurden auch alle zufälligen Markierungen und Bleistiftnotizen mitreproduziert. Zakir Hussain Maquette (2019) umfasst das Faksimile, den Zakir Hussain Reader und ein faltbares Zakir Hussain-Poster. Dies ist die einzige Form, in der das Werk existiert, es gibt also keine Drucke.
Die Arbeiten zeigen Singhs Fähigkeit, neue Formen zu erfinden und ihr beständiges Interesse an Mentor*innenschaft und Freund*innenschaft. Sie zeigen auch ihren Wunsch, besondere Augenblicke mit einem Publikum zu teilen, das üblicherweise kaum in das vertrauliche Geschehen hinter den Kulissen eingeweiht wird.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022, Installationsansicht, Zakir Hussain Maquette (2019)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Museum of Tanpura (2021)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
In den 1980er Jahren fotografierte Singh Ustad Zakir Hussain und klassische Musiker*innen bei ihren Tourneen. Seitdem lag das Hauptaugenmerk ihrer Fotografien nicht nur auf individuellen Personen. Auch andere künstlerische Formen wie Architektur, Tanz und vor allem Musik rückten in den Fokus. Die Fotografien in Museum of Tanpura (2021) führen uns durch Konzertsäle, Backstage-Räume, Wohn-, Hotel- und Schlafzimmer und sogar einen Musician’s Bus (2021).
Singh bezeichnet sich selbst als Archivarin. Als sie sich Kontaktbögen ihrer früheren Arbeiten ansah, fand sie diese Bilder. Sie unterzog sie einem intensiven erneuten Archivierungs-, Auswahl- und Sortierprozess. Diese entscheidende Phase in ihrem künstlerischen Verfahren bezeichnet Singh als „Editieren“ der Bilder und als „Den-Bildern-zuhören“. Durch diese Tätigkeit hat die Künstlerin eine neue Hauptfigur in ihrem frühen Projekt gefunden: ein als „Tanpura“ bezeichnetes Borduninstrument.
Das Ergebnis ist ihr Museum of Tanpura. Es ist in drei Säulen präsentiert. In der indischen klassischen Musik spielt die Tanpura keine Melodie, sondern ist das „Rückgrat“, also der Ton, der parallel zu den Solomusizierenden gespielt wird. In Museum of Tanpura wird sie als ein versteckter Charakter dargestellt, der eine durchgängige Stimmung für das Werk erzeugt.
Das an der Wand ausgestellte Kishori Tai (2021) wurde von Singhs Verlag Spontaneous Books veröffentlicht. Es ist nach der großen indischen klassischen Vokalistin Kishori Amonkar benannt. Singh war überrascht, diese Bilder in ihrem Musiker*innen-Archiv zu finden. Sie entstanden an einem Guru Purnima (einem Tag, an dem Gelehrte ihren Gurus Ehre erweisen). Die Buch-Ausstellung veranschaulicht Singhs Prozess des Neuerfindens durch Editieren. Dabei kommt sie auf einzelne Projekte zurück und entdeckt neue Charaktere und Hauptfiguren.
Das handgefertigte Leporello-Buch Musician’s Bus hat ein ähnliches Format wie Kishori Tai. Es bringt eine Vielzahl von Bildern aus dem Archiv, die Musiker*innen im Bus während ihrer jährlichen Tournee zeigen, zusammen.
In Dayanita Singhs Kunst finden sich zwei miteinander verwobene Motivgruppen. Einerseits handelt es sich um Körperlichkeit und Berührung. Andererseits geht es um Familie, Freund*innenschaft und Verwandtschaft. Singhs Werkreihen über Mona Ahmed verbinden diese beiden Interessen mit verblüffender Intimität.
Singh lernte Ahmed 1989 kennen. Ahmed war eine transgender Person. Sie beschloss, ihre Community aus Angehörigen des dritten Geschlechts in Indien zu verlassen, um für sich allein auf einem Friedhof zu leben. Die 23 Kunstwerke der Mona Montages (2021) gehen auf die enge Verbindung zurück, die Singh mit einer Person einging, die sie als ihre engste Freundin bezeichnete. Mona Ahmed verstarb 2017.
In Mona Montages ist Mona inmitten einer Blumengirlande oder beim Tanzen zu sehen. Durch ihre Gesten oder mit ihren Armen „rahmt“ Mona häufig ihren eigenen Körper für die Kamera ein. Mona widersetzt sich einer einfachen Darstellung. Singh verkompliziert dies zusätzlich durch den Einsatz der Montagetechnik. In diesen Montagen schneidet sie von Hand Bilder von Mona aus und klebt sie auf Drucke anderer Werke wie Privacy (1992–2002), Masterjee (1993/2021) und File Room (2008–2011).
Myself Mona Ahmed (2001) verbindet Fotobuch, Biografie, Autobiografie und Fiktion. In Mona Study Table (2001/2021) wirkt Ahmeds Persönlichkeit höchst fotogen und zugleich seltsam widerwillig, sich festhalten zu lassen. Dadurch scheint sie im Grunde frei – besonders in ihrem Verhältnis zum Tanz. Sie selbst sagte dazu einmal: „Ich verspüre diesen inneren Drang zu tanzen.“
Singhs erstes Museum of Dance (Mother Loves to Dance) (2021) geht aus ihrer Faszination für Bewegung hervor. Es entstand für diese Ausstellung. Die 108 Bilder zeigen eine Art Verwandtschaft der Figuren, die bisher in Singhs Werk erschienen: Mona Ahmed beim Tanzen mit ihrer Tochter oder ihren Freund*innen oder auf dem Friedhof, wo sie lebte und heute bestattet ist; Singhs Mutter beim Tanzen auf Hochzeiten; klassische indische Tänzer*innen, darunter Birju Maharaj und Kumudini Lakhia, sowie „Masterji“ Saroj Khans Hindifilm-Choreografie.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022, Installationsansicht, Mona Montages (2021)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Sent a Letter (2008)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Das umfangreiche Projekt Sent a Letter Museum (2008/2021) war ein Meilenstein in Dayanita Singhs Untersuchung von modularen Formen, Fotografie und Buch-Objekten. Mit Sent a Letter (2008) fand sie eine Form, in der ihr Buch zur Ausstellung wurde. So führt ein direkter Weg von Sent a Letter zu Singhs darauffolgenden „Museen“.
Sent a Letter ist eine von Hand gefertigte Stoffbox mit sieben Büchern im Leporelloformat. Auseinandergefaltet werden sie zu sieben Ausstellungen. Die Bilder in Sent a Letter behandeln Reisen, die Singh 2002 nach Kalkutta (Kolkata), Devigarh, Bombay (Mumbai), Allahabad (Prayagraj), Varanasi und Padmanabhapuram führten. Ein Buch zeigt Fotografien von Singh und wurde von ihrer Mutter Nony Singh gemacht.
Auf diesen Reisen führte Singh Fotojournale in Notizbüchern der Marke Moleskine. Sie beziehen sich jeweils auf eine bestimmte Person, die sie begleitet hatte beim Besuch einer Sehenswürdigkeit, eines Museums oder Wahrzeichens. Die Aufnahmen in Sent a Letter sind gleichzeitig Akte des Austauschs und der Erinnerung. Sie beziehen sich auf Zustände der Zerstreuung, des Wanderns und der Verbindung, die dem Reisen innewohnen.
Jedes Buch entspricht einem Tagebuch und ist gleichzeitig ein Geschenk, das man entfalten kann. Die Werke inszenieren Singhs Hinwendung zu einer Form, die Fotografie mit Büchern verbindet und anschließend Bücher mit Ausstellungen. Jedes dieser intimen Werke ist eine Ausstellung für sich.
Die Stimmung von Go Away Closer (2007) ist geprägt von dem inzwischen berühmten Bild eines auf einem Bett liegenden Mädchens. Ihr Gesicht weicht dem Blick der Kamera aus. Diese 28 kleinformatigen, quadratischen Fotografien sind ein weiterer Meilenstein in Dayanita Singhs Laufbahn. Sie bedeuten einen Wechsel in der Art, wie Singh ihr Werk bearbeitet: von der Dokumentarfotografie zu einer intuitiven, emotional gestimmten Anordnung und Neuanordnung ihrer Bilder.
In dieser Serie erfasste Singh ihren Prozess des „Editierens“. Sie beschreibt ihn auch als eine bestimmte Weise, den Bildern „zuzuhören“. Das Bild eines Mädchens auf dem Bett ist der Schlüssel zu der Serie. Es prägt die Tonlage der Gruppe auf dieselbe Weise, in der Musiker*innen die Tonhöhe für Sänger*innen vorgeben.
Die Bilder in Go Away Closer sind in ihrer Dramatik ähnlich fesselnd. Sie verzögern oder unterdrücken den unmittelbaren Kontakt. Ihre Orte und Räume enthalten eine rätselhafte Trostlosigkeit, zum Beispiel ein leeres Auditorium oder eine leere Werkstatt – ein Vorenthalten menschlicher Anwesenheit.
Go Away Closer wurde häufig als Roman ohne Worte beschrieben. In dieser Arbeit hält Singh den widersprüchlichen „Tonarten“ von Fortschritt und Zerstörung sowie Tradition und Erneuerung einen Spiegel vor. Sie spricht von Einsamkeit, Abschied, Erinnerung und Verlust. Motive wie das Mädchen auf dem Bett finden sich auch in Singhs Little Ladies Museum 1961 – present (2013). Einige der aufgenommenen Industriegelände in Go Away Closer führten zu Blue Book (2008).
Die winzigen Fotografien bieten den Betrachter*innen auch Orientierung – also eine Möglichkeit, sich den Werken zu nähern und mit ihnen zu interagieren, obwohl sie auch Intimität und Privatheit eindringlich vermitteln.
Nur sehr selten arbeitet Singh mit Farbe. In ihrem Blue Book beherrscht ein Gewirr von Dächern und Industriebauten die Stimmung der Fotografien. Die 15 Drucke zeigen für Singh untypische Farbtöne. Sie stellen eine Art Landschaftsfotografie dar, bei der industrielle Kennzeichen, wie etwa Schornsteine, sich in den Himmel drängen. Die Werke sind auf Reisen zu verschiedenen indischen Industriestandorten entstanden. Die Kühle dieser Orte wird durch den Einsatz von Blau verdrängt. Auf eindringliche Weise vermitteln die in der Abenddämmerung entstandenen Bilder einen Eindruck von ausgelöschter menschlicher Gegenwart.
Ursprünglich hatte Singh das Projekt mit Schwarz-Weiß-Film begonnen. Doch als sie bei Sonnenuntergang die erste Aufnahme machte, beschloss sie, den Tageslichtfilm zu benutzen, den sie bei sich hatte. Es stellte sich heraus, dass die Bilder stark blaustichig waren. Dennoch beschloss sie, mit dem Farbfilm weiterzuarbeiten, denn die Bilder gaben die melancholische Stimmung der Industrielandschaft perfekt wieder. Singh sagt häufig, sie benutze Farbe nur dann, wenn diese mehr erwirkt als die Farbe, die wir sehen können.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Go Away Closer (2007)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, I am as I am(1999)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh kommt über Jahrzehnte hinweg immer wieder auf bestimmte Orte, Räume und Motive zurück. Doch vor allem sucht sie bestimmte Menschen wiederholt auf. Für die zwölf Abzüge in I am as I am (1999) kehrt Singh in einen Ashram in Varanasi in Indien zurück. Als Kind besuchte sie diesen Ort mit ihrer Familie regelmäßig. Als sie Jahre später mit dem Fotografieren begann, kehrte sie zu dem Ashram zurück und traf dort Jyoti, ein junges Mädchen, die eine enge Freundin Singhs wurde und die sie noch heute fotografiert.
Der Ashram in Varanasi ist ein Rückzugsort, ein Zuhause, wo Mädchen sich entscheiden können, ob sie ein Leben religiöser Hingabe führen wollen oder nicht. In diesen Bildern gelingt es Singh, die Intimität und Sicherheit des Ortes zu porträtieren. Wir spüren die Privatheit, die die Vermengung von Spiel und Hingabe erlaubt – an die Spiritualität und an einander.
Fast zwei Jahrzehnte später diente Singh dieses Projekt als Anregung, ihre Idee des „shedding“ weiterzuentwickeln. „Shedding“ kann „abstreifen“, „abstoßen“ oder auch „loswerden“ bedeuten. Sie übernimmt es von einem spirituellen Wortschatz und bezieht es auf einen Prozess der Verfeinerung durch Reduzierung.
Dayanita Singhs Interesse an Architektur entspringt ihrer Faszination von der Wirkung von Licht auf Gebäuden – und umgekehrt. Statt ihre Werke auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum festzulegen, lassen ihre Montagen von architektonischen Details die Frage offen: „Wo und wann entstand dieses Bild?“ Von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen befreit, lassen sie sich als Konstruktionen vorgestellter Räume betrachten, die dafür reale Räume benutzen.
Singhs Architectural Montages (2019–2021) sind vollständig analog und wurden von ihr von Hand ausgeschnitten und aufgeklebt. Sie erschaffen eine Reihe familiärer Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen architektonischen Motiven, von Architektur in Kyōto aus dem 7. Jahrhundert bis zu modernistischen Gebäuden in Sri Lanka, Indien und Japan.
Jede Säule umfasst fünf Würfel, die sich zu Transportzwecken zusammenklappen und abflachen lassen, sie sind Erweiterungen von Singhs mobilen Museen. Corbu Pillar (2021) zeigt Bilder von Säulen in den Gebäuden des modernistischen Architekten Le Corbusier. Bawa Rocks (2020) ist eine Studie der felsigen Gebirgslandschaft, zwischen denen das Kandalama Hotel in Sri Lanka errichtet wurde: Felsen berühren einander und werden auf ungewöhnliche Weise von gebauter Architektur umrahmt. Geoffrey Bawa, der Architekt dieses Hotels, ist für Singh eine Schlüsselfigur. Im benachbarten Raum ist er durch die Ehrung in Box 507 (2019) gegenwärtig.
BV Stairs (2021) enthält eine weitere Würdigung: die des indischen modernistischen Architekten Balkrishna Vithaldas Doshi. Er glaubte daran, dass Architektur eine lebendige veränderliche und wandelbare Größe ist, die von Bedarf, Zeit und den Umständen abhängt. Diese Ideen spiegeln sich in Singhs modularen Strukturen und in ihrem fotografischen Ansatz.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Architectural Montages (2019–2021)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022, Installationsansicht, Box 507 (2019)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh veröffentlichte Box 507 (2019) in ihrem eigenen Verlag Spontaneous Books. Es ist dem sri-lankischen Architekten Geoffrey Bawa gewidmet. Bawas Kandalama Hotel schmiegt sich in eine felsige Gebirgslandschaft. Es verinnerlicht die besondere Lage des Standorts in sein Erscheinungsbild. Bawa selbst bezog jedes Mal das Zimmer 507, wenn er das Hotel besuchte, das zu seinem Markenzeichen geworden war.
Auch Singhs Box 507 steht im Gegensatz zum ortsgebundenen Charakter der unbeweglichen Architektur. Es ist ihre einzigartige Praxis, Buch- Objekte mobil, beweglich und „unbefestigt“ zu machen. So ermöglicht Singh es den Betrachter*innen, ihre Ausstellungen mit nach Hause zu nehmen und ermutigt sie, ihre eigenen Ausstellungen zu kuratieren. Box 507 wurde in einer Auflage von 360 Stück hergestellt. Jede Teakholz- Box enthält 30 Bildkarten, die im Offsetdruck-Verfahren produziert wurden. Die Sammler*innen können die vordere Karte der Edition austauschen. Mit dem Offsetdruck-Verfahren hat Singh eine andere Drucktechnik für die Anfertigung ihrer Bilder gefunden.
Ähnlich sind ihre Painted Photos (2021–2022). Singh überzog Bilder aus ihrem Archiv mit einer weißen Farbschicht, so dass sich die ursprünglichen Bildinhalte nun hinter einem undeutlichen Schleier befinden. Ein Vorgehen, das dem Überziehen ihrer Buch-Objekte mit Stoffen ähnelt. So bezieht sich die Künstlerin darauf, wie Erinnerung und die Verweigerung von Erinnerung einander überlappen. Auf ähnliche Weise hat Singh ihre Museen häufig mit weißem Musselinstoff geschützt und bei sich zu Hause aufbewahrt. Die Bilder wurden Gespenster ihrer selbst.
Singh schreibt „Die Painted Photos reduzieren die Bilder, beschränken sie auf das Wesentliche, auf einen Duft, wenn man so will“, und fügt hinzu „sie werden zu bloßen Andeutungen der Bilder.“
Singhs Foto-Architektur Museum of Shedding (2016) bezieht sich auf den Akt des „shedding“, also des Reduzierens oder Abstreifens.
Singhs Werke sind häufig modular. Sie verweisen auf mobile, gebaute Architektur. Und sie enthalten Rahmen in Rahmen. Museum of Shedding bezieht sich vor allem auf häusliche Räume und Architekturen. Es enthält eine große Teakholz-Struktur, ein Bett, einen Schreibtisch, Tisch und Stühle. Diese stark reduzierte Architektur hat selbst häuslichen Ursprung: Singh hat sie gebaut, um darin zu leben und in der Lage zu sein, anderen ihre Werke zu zeigen.
Die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Räumen durchzieht die Aufnahmen der Künstlerin. Museum of Shedding unterstreicht diese: Auf der einen Seite der Konstruktion befindet sich eine Trennwand. Hinter ihr kann sich ein*e Kurator*in aufhalten. Der Raum auf der anderen Seite ist für die Besucher*innen oder Betrachter*innen des Werks gedacht. Das Museum enthält Bilder zeitgenössischer und klassischer Architektur. Die gesamte häusliche Struktur lässt sich zusammenfalten und einpacken – wie bei den anderen Museen auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie tatsächlich beweglich ist.
„Shedding“ hat eine architektonische Bedeutung für Singh. Sie fühlt sich hingezogen zu der Art und Weise, wie diese Idee durch Architektur ausgeführt wird. Diese Ausführung inspirierte Singhs Aufnahmen von architektonischen Motiven und Montagen im benachbarten Raum.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022, Installationsansicht, Museum of Shedding (2016)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Museum Bhavan (2017)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Das Büchermachen ist ein wesentlicher Bestandteil von Dayanita Singhs Arbeit – von ihrem frühesten Projekt, Zakir Hussain: A Photo Essay (1986), bis zu ihrem letzten Buch Let’s See (erscheint im Steidl Verlag).
Singh betrachtet das Offset-Druckverfahren als buchstäbliches Sinnbild, das ihr die Verbreitung von Informationen, Bildern und Material ermöglicht. Sie bezeichnet sich selbst auch als „Offset Artist“. Denn Singh verfügt über einen ganz eigenen Ausstellungsbegriff: Jedes Buch stellt eine „originale“ Ausstellung nicht dar, sondern ist tatsächlich die originale Ausstellung selbst. Es können also alle diejenigen, die Zugang zu den einzelnen Büchern haben, die Ausstellung betrachten – jederzeit und wo immer sie sind. Das befreit die Ausstellung von den besonderen Zwängen der Wand und der Institution.
Im Lauf der Jahre hat sich diese Arbeitsweise weiterentwickelt: von der handgefertigten Maquette des Zakir Hussain-Buchs zu den Leporello- Büchern, Buch-Museen und herkömmlicheren gebundenen Bänden. Sie führte auch zu einer langjährigen künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Göttinger Steidl Verlag. Hier veröffentlichte Singh Privacy (2003), Go Away Closer (2007), Sent a Letter (2008), Dream Villa (2010), File Room (2013), Museum of Chance (2014), Museum Bhavan (2017) und Zakir Hussain Maquette (2019). Jedes der neuen Bücher ist Ausstellung, portables Museum und originales Kunstwerk zugleich.
Im Museum Bhavan (2017) sind Singhs insgesamt neun „Museen“ unter diesem Titel vereint. Auf Hindi bedeutet er „große Sammelstelle“. Museum Bhavan besteht aus neun individuellen Buchmuseen in einer handgefertigten Box, die sich auffalten und nach Belieben aufstellen oder aufhängen lassen. Jedes Cover der Box ist ein Original.
Pothi Box (2018) ist eines von Singhs Buch-Objekten, die von Spontaneous Books herausgegeben wurden. Dieses Werk ist eine von Stoff umhüllte Holzstruktur. Es enthält ein ungebundenes Buch mit 30 Bildkarten. Diese lassen sich nach Belieben neu ordnen. Für Singh ist wichtig, dass es keinen „originalen Einzeldruck“ außer diesen Boxen gibt. Sie existieren als eine aus 360 Exemplaren bestehende Edition. Auf diese Weise lässt sich die Ausstellung relativ kostengünstig mit nach Hause nehmen und direkt von der Wand weg erwerben. Wenn alle Boxen verkauft wurden, sind Edition und Ausstellung an ein Ende gelangt oder vollständig.
Singhs Bücher sind immer in Bewegung, etwa in Gestalt des Book-cart (2011). Aber auch My Life as a Museum (2018): eine in Indien hergestellte und mit Indigo gefärbte Jacke mit neun Taschen, die auf einem Kleiderbügel gezeigt wird.
Die Kräfte der Verbreitung, Mobilität, Bewegung und des Zugangs sind für Singhs Werk von grundlegender Bedeutung. Suitcase Museum (2015) verkörpert diese Wirkung durch seine Materialien und seinen Inhalt. In zwei Lederkoffern befinden sich 22 Buch-Objekte. Jedes Buch-Objekt wiederum enthält ein Exemplar des Museum of Chance-Buches mit seinen 44 unterschiedlichen vorderen und hinteren Umschlagseiten. In den beiden Koffern befinden sich also insgesamt 44 Buch-Objekte. Man kann Singhs Buch-Objekte und Museen als eine Herausforderung der statischen Form der Museumsausstellung begreifen. Jedes Museum ist zugleich Buch, Koffer, Ausstellung, Objekt und Sinnbild für Transportierbarkeit. So legt es jeweils eine Möglichkeit offen, eine neue Form für Museumsarchitekturen zu denken, jenseits der Grenzen der Institution. Die Lederkoffer enthalten schließlich auch Bezüge zu Migration, Tourismus, Reise und Vertreibung. Sie sind Aufbewahrungsorte der Erinnerung und der Geschichte.
Dayanita Singh bezeichnet sich selbst auch als „Archivarin“. Ihre Werke können als ein mobiles Archiv von Figuren, Bildern, Eindrücken und individuellen formalen Interessen betrachtet werden. Häufig kehren diese Interessen über Jahrzehnte hinweg wieder. Bestimmte Figuren und Motive tauchen in den einzelnen Museen immer wieder auf.
File Museum (2012) ist eines der Werke, die sich am leichtesten wiedererkennen lassen. Das Projekt stellt den Beginn ihrer Museumsserie dar. Es ist eine tragbare Teakholz-Skulptur, eine Form, die sie später zum bevorzugten Medium für ihre Museen entwickelt. Im File Museum fotografiert Singh Archive am direktesten, auch wenn viele ihrer Arbeiten den Charakter von Archiven besitzen.
Wir sehen Papiere und gebundene Aktenmappen, die Singh in Indien fotografierte. Wir sehen auch die Verwalter*innen dieser Räume – allesamt Zeugnisse des Tastsinns und der Greifbarkeit. Die Aufzeichnungen und Bücher scheinen in vielen Werken über ihre Archive zu quellen. Die Werke bergen die Spannung zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Bewahrung und Verfall. Die menschliche Gestalt, mit ihrem besonderen, Charakter, ist hier im fast greifbaren Wechselspiel mit archivarischen Räumen und ihrem Bemühen der Standardisierung und Bewahrung.
Singhs Bild des Mädchens auf dem Bett (aus Go Away Closer, 2007) taucht erneut zwischen den 94 Bildern von Little Ladies Museum 1961 – present (2013) auf. Man sieht aber auch Bilder von der Künstlerin und ihren Geschwistern in ihrer Kindheit, die Singhs Mutter Nony Singh gemacht hat. Es sind zudem Porträts zu sehen, die Singh von verschiedenen Mädchen und Frauen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens schuf. Einige von ihnen fotografierte sie im Lauf der Jahre immer wieder. So sehen wir etwa Jyoti aus dem Ashram in Varanasi sowie Bilder von Ayesha (Mona Ahmeds Tochter), die vom Kind zum jungen Mädchen herangewachsen ist.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, File Museum (2012)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh, Time Measures (2016)
© Dayanita Singh
„Nichts als sich selbst / misst die Zeit“, schrieb der Schriftsteller W. G. Sebald und inspirierte damit den Titel dieser Werkreihe. Die Farbfotografien in Time Measures (2016) bezeugen Singhs anhaltendes Interesse an Archiven, der Bewegung der Zeit und den persönlichen Assoziationen, die wir zu Stoffen haben. Sie verbinden dieses Interesse mit den sich abwechselnden Gefühlen von Privatheit oder Zurückhaltung in ihren Werken.
In einem Archiv in Indien entdeckte Singh Bündel mit Dokumenten, die mit Stoff umhüllt waren. Sie sind rätselhaft, denn wir erkennen ihren Inhalt nicht, und sie werden von einem einzigen Knoten zusammengehalten.
Die Aufnahmen sind frontal und mit einem bei Singh seltenem Einsatz von Farbe fotografiert. Sie enthalten eine Spannung zwischen den hellen Tönen der Bilder und dem gealterten, verblichenen, verformten Stoff. Die Bilder vermitteln einen Widerspruch zwischen der Wiederholung der Knoten und ihrer individuellen, fast ausdrucksvollen Einzigartigkeit. So ist jedes Bündel gleich, aber auch anders.
Durch die Hängung der Bilder wird ein Gefühl von Wiederholung und Rhythmus erzeugt, das mit Singhs Interesse für Bewegung und Musik zusammenhängt. Das Erscheinen von auf Stoff gedrucktem und dann verblasstem Licht ist ein Hinweis auf die Fotografie selbst – ihr Wechselspiel von Licht, Belichtung, Zeit und Material.
Mona and Myself (2013) ist ein Standbild, dass sich in einer fortlaufenden Schleife bewegt. Es ist ein Porträt von Mona Ahmed. Das bewegte Standbild ist das Dokument einer Figur, an der Singh ein enges persönliches und künstlerisches Interesse hatte.
Mona and Myself entstand mehr oder weniger aus heiterem Himmel, als Singh und Mona Ahmed im Jahr 2013 einige Zeit gemeinsam in Singhs Studio verbrachten. Sie spielten das Lied „Rasik Balma“ ab, das von der Sängerin Lata Mangeshkar im hindusprachigen Film Chori Chori (1956) gesungen wurde. Dabei begann Ahmed selbst zu singen. Singh nahm sie bei dem nicht geprobten Auftritt auf. Das Werk bewegt sich zwischen Film und Fotografie. Es wird von Singh als Großformat auf die Wand projiziert, sodass Mona Ahmed selbst „eine Landschaft wird“, wie Singh bemerkt.
Mona and Myself ist Stimmung, Landschaft und intimes Porträt zugleich. Es hat eine bewusste Schlichtheit, da es Mona in einem Zustand der Ruhe und der Auseinandersetzung zeigt. Zuerst hört sie einfach einem Lied zu, dann wird sie selbst zu diesem Lied.
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Time Measures (2016) und Mona and Myself (2013)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Dayanita Singh: Dancing with my Camera, 2022. Installationsansicht, Let’s See (2021)
© Gropius Bau, Foto: Luca Girardini
Während der COVID-19 Lockdowns im Jahr 2020 tauchte Dayanita Singh erneut tief in das Archiv ihrer Kontaktbögen ein und setzte ihren Prozess des „Editierens“ fort. Endlich fand sie die Zeit, ihre ganz frühen
Arbeiten aus den 1980er Jahren durchzusehen. Dies führte zu einer völlig neuen Arbeit: Let’s See (2021). Sie zeigt einen neuen Weg für Singhs künstlerisches Schaffen auf und wird in dieser Retrospektive zum ersten Mal ausgeführt.
Diese 108 Bilder sind auf zwölf Tafeln verteilt. Sie entstanden in den 1980er Jahren und beinhalten einige von Singhs frühesten Aufnahmen. Diese entstanden größtenteils zu einer Zeit, in der sie sich selbst noch nicht als Künstlerin bezeichnete. Foto-Originale werden typischerweise – bevor sie auf Fotopapier gedruckt und aufgezogen werden – im Originalformat 1:1 auf einem einzigen Bogen Fotopapier kopiert. Diese einzelne Seite enthält viele Bilder auf einmal und wird als Kontaktbogen bezeichnet. Singhs Tafeln des neuen Werks beziehen sich auf Kontaktbögen in einem vergrößerten Maßstab. Sie lassen sich auf unterschiedliche Weise anordnen, da die Bilder in die Struktur eingefügt und aus ihr herausgenommen werden können.
Aus heutiger Sicht enthalten diese frühen Aufnahmen viele von Singhs späteren Markenzeichen, zum Beispiel die nah aufgenommene, doch immer rätselhafte Darstellung von Figuren während intimer Momente. Das Thema von Let’s See könnte die Fotografie selbst sein. Hier treten bestimmte Leitmotive in Erscheinung: menschliche Zusammengehörigkeit, wie sie durch Haarpflegerituale entstehen. Oder einander umschlingende, sich berührende Körper in verschiedenen Posen der Zuneigung oder des Pausierens, die an einen Tanz erinnern.
Mit Singhs Interesse an Bewegung, Verwandlung und Berührung verbundensind musikalische Interessen wie die Beschäftigung mit der Tanpura, einem Borduninstrument in der indischen klassischen Musik. Sie alle kommen zum Ausdruck in einem ebenso präzisen wie unvoreingenommen wirkenden fotografischen Vorgang. Let’s See offenbart die Keime von vielen späteren Werken und Protagonist*innen der Künstlerin.