Louise Bourgeois, Spider, 1997 © The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Erika Ede

Ausstellungstexte

Louise Bourgeois: The Woven Child

Lesen Sie während oder nach Ihrem Besuch alle Texte zu Louise Bourgeois: The Woven Child und erfahren Sie mehr über die erste große Retrospektive, die sich ausschließlich mit Louise Bourgeois’ textilen Arbeiten beschäftigt.

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Einleitung

Louise Bourgeois (1911–2010) schrieb in den beiden letzten Jahrzehnten ihres Lebens ein mutiges neues Kapitel ihres künstlerischen Schaffens. In dieser Phase entstand eine Werkgruppe überraschender und erfindungsreicher Skulpturen, Zeichnungen und Installationen aus Haushaltstextilien wie Kleidung, Bettwäsche und Tapisseriefragmenten. Die Materialien stammten häufig aus ihrem eigenen Haushalt und ihrer persönlichen Vergangenheit. Viele dieser späten Arbeiten kehrten zu den Hauptanliegen und künstlerischen Verfahren früherer Werke zurück und justierten diese neu. Sie erforschen sexuelle Mehrdeutigkeiten und schmerzliche psychische und soziale Beziehungen.

Die Künstlerin verwendete weiche Materialien – so auch die „zweite Haut“ ihrer eigenen Kleidung. Sie verlieh ihren Arbeiten dadurch eine sinnliche Qualität sowie eine geradezu greifbare Verletzlichkeit und Intimität. Die Tätigkeiten, die für die Herstellung ihrer Werke notwendig waren, betrachtete sie als Sinnbilder: Das Schneiden, Reißen, Nähen und Zusammenfügen verband sie mit Vorstellungen von Wiedergutmachung und mit dem körperlichen Ausdruck seelischer Spannungen.

Bourgeois war die Tochter von Tapisserie-Restaurator*innen. Daher könnte ihre Rückkehr zu Textilien im Alter von über 80 Jahren als Neubetrachtung der eigenen Vergangenheit gesehen werden. Gleichzeitig laden uns ihre Textilarbeiten dazu ein, die Bedeutungen von „Ausbessern“ zu überdenken und es auch als eine Art emotionale Wiedergutmachung zu begreifen. Dabei werden – anstelle eines fein säuberlichen Zunähens – gewohnte Perspektiven erweitert und neue eröffnet.

Die Ausstellung wurde organisiert von der Hayward Gallery, London, in Zusammenarbeit mit dem Gropius Bau, Berlin
Kurator*innen: Ralph Rugoff, Direktor, Hayward Gallery, und Julienne Lorz, ehemalige Hauptkuratorin, Gropius Bau

Die Ausstellung wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes
Der Gropius Bau wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und von Neustart Kultur

 

Cell VII [Zelle VII], 1998

Ab 1991 schuf Bourgeois eine Reihe raumähnlicher Installationen mit dem Titel „Cells“ (Zellen). In diesen Arbeiten werden persönliche Gegenstände und skulpturale Elemente so kombiniert, dass sie in sich geschlossene und mit Bedeutung aufgeladene Kompositionen ergeben. Die Zellen haben häufig Bezüge zur persönlichen Vergangenheit der Künstlerin sowie zu Erinnerung, Architektur und den fünf Sinnen.

Die traumähnliche Installation Cell VII zeigt ein Bronzemodell des Elternhauses der Künstlerin in Choisy-le-Roi in Frankreich. Kleidungsstücke, die früher ihrer Mutter gehörten oder aus Bourgeois’ eigener Jugend stammen, hängen an Rinderknochen und Metallbefestigungen – sie werden zu Erinnerungsspuren, die den Raum heimsuchen.

Louise Bourgeois, Cell VII [Zelle VII], 1998

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Peter Bellamy

Untitled [Ohne Titel], 1996

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 1996

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Rom Amstutz

Bourgeois bewahrte zeitlebens Kleidungsstücke auf, darunter sowohl Kleider und Unterwäsche aus ihrer Kindheit als auch Bekleidung aus dem Besitz ihrer Mutter. Mitte der 1990er Jahre begann sie, dieses Material in Kunstwerken zu verwenden, wie etwa in den „pole pieces“ (Stangen-Stücken). In dieser Werkgruppe präsentierte sie Kleidung, die besonders stark mit ihrer Vergangenheit verbunden war und die sie niemals zerschnitten oder umgestaltet hätte. Für Bourgeois waren diese Kleidungsstücke so bedeutsam wie die Seiten ihres Tagebuchs, weil sie im gleichen Maße Erinnerungen an Menschen, Orte und Ereignisse sowie das Gefühl ihres eigenen Körpers aufbewahrten.

In dieser Arbeit hängt zarte Unter- und Nachtwäsche von Rinderknochen herab und scheint geisterhaft zu schweben. Das schwarze Paillettenkleid und die beige Seidenbluse werden durch eine lockere Füllung zu plastischen Formen. Aus dem Kragen der Bluse ragt ein Knochenbügel, der wie ein schauriger Kopf wirkt. Die Wörter „Seamstress, Mistress, Distress, Stress“ (Näherin, Geliebte, Schmerz, Stress) sind auf den Sockel der Skulptur geschweißt – ein Wortspiel, das auf Bourgeois’ Familiengeschichte und deren seelische Folgen für die Künstlerin verweist.

Needle (Fuseau) [Nadel (Spindel)], 1992

„Als ich Kind war, benutzten alle Frauen bei uns zu Hause Nadeln. Ich war schon immer von Nadeln fasziniert: die magische Macht der Nadel. Die Nähnadel dient dazu, Schäden zu reparieren. Eine Forderung nach Vergebung. Sie ist niemals aggressiv, sie ist keine Stecknadel.“ – Louise Bourgeois

Louise Bourgeois, Needle (Fuseau) [Nadel (Spindel)] , 1992

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: JJYPHOTO

Couple IV [Paar IV], 1997

Louise Bourgeois, Couple IV [Paar IV] , 1997

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Dieses Paar kopfloser kopulierender Figuren gehört zu einer Gruppe von Textilskulptur-Paaren, die Bourgeois in den späten 1990er Jahren schuf. Sie werden wie sorgsam konservierte Präparate in einer antiken Vitrine präsentiert. Die Arbeit ruft ein beengendes, fast sargartiges Gefühl von Eingeschlossensein hervor und lässt an den erstickenden Charakter von Beziehungen denken, die von Trennungs- und Verlustangst bestimmt werden. Für Bourgeois versinnbildlicht das Holzbein der weiblichen Figur psychische Verletzungen oder den Verlust von Gleichgewicht. Prothesen für Gliedmaße faszinierten sie, seitdem sie ihnen erstmals während ihrer Kindheit in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg begegnet war. In ihren späten Skulpturen finden sich zunehmend Verweise auf Prothesen, Krücken und Menschen mit Amputationen. Prothesen waren für Bourgeois ein Mittel, das es ermöglicht, tiefes emotionales Leid zu überleben, ähnlich wie die Kunst. Sie merkte an, dass diese Skulptur auf die „Urszene“ anspielt – der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und beschreibt die reale oder imaginäre Vorstellung eines Kindes von einer sexuellen Begegnung zwischen seinen Eltern. Vom Kind wird diese als Gewalttat wahrgenommen. Dieses Vermischen von Sexualität und Tod, Schmerz und Vergnügen, Passivität und Aktivität verleiht der Arbeit eine zusätzliche, verstörende Dynamik.

Eugénie Grandet, 2009

Bourgeois war fasziniert von Eugénie Grandet – eine junge Frau, die von ihrem Vater unterdrückt wurde und die Hauptfigur in Honoré Balzacs gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1833 ist. Bourgeois erklärte: „Ich habe starke Rachegefühle gegenüber meinem Vater, der versuchte, aus mir eine Eugénie Grandet zu machen.“

Bourgeois schuf 2009, kurz vor ihrem Lebensende, diese 16-teilige Arbeit aus Taschen- und Geschirrtüchern. Die Textilien stammen aus der Wäscheaussteuer, die sie 70 Jahre zuvorbei ihrem Umzug aus Frankreich in die USA mitgenommen hatte. Die Collagen bestehen aus Kunstblumen, Perlen, Knöpfen und anderen Bestandteilen von Bourgeois’ eigenen Hüten, ihrer Kleidung und Materialen aus einer Nähkiste, die sie über die Jahre zusammengetragen hatte. Sie erinnern an unerfüllte Wünsche und an das Verrinnen der Zeit.

Louise Bourgeois, Eugénie Grandet, 2009

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Cell XXV (The view of the world of the jealous wife) [Zelle XXV (Der Blick auf die Welt der eifersüchtigen Ehefrau)], 2001

Louise Bourgeois, Cell XXV (The view of the world of the jealous wife) [Zelle XXV (Der Blick auf die Welt der eifersüchtigen Ehefrau)], 2001

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Bourgeois hat in diesem kreisförmigen Gehege, das von allen Seiten einsehbar ist, drei ihrer eigenen Kleidungsstücke auf Schneiderpuppen arrangiert: ein auffallendes blaues Cocktailkleid, ein weiß gemustertes Alltagskleid und eine kurze Bluse, die ein schwebender Ring aus blauen glockenförmigen Glasstücken umgibt. Auf dem Boden sind zwei große weiße Marmorkugeln platziert, die in einem anderen Zusammenhang auf Brüste verweisen könnten. Hier ergeben sie jedoch zusammen mit dem hellen Kleid eine phallische Komposition in der Mitte der Zelle. Diese Arbeit ist Ausdruck von Bourgeois’ Interesse dafür, wie Eifersucht zwischenmenschliche Beziehungen verzerren kann.

Lady in Waiting [Zofe], 2003

Dieser beengende Raum besteht aus alten Holztüren und Fenstern. Er umschließt eine einzelne „Spinnenfrau“, die in einem Sessel sitzt. Ihre Beine sind aus Stahl und ihr Körper ist aus Tapisserie gefertigt. Aus ihrem Mund spinnen sich fünf Fäden zu Garnspulen, die oberhalb auf einer Fenstersprosse stehen. Die Fäden symbolisieren den Fluss der Zeit und verweisen auf die fünf Mitglieder von Bourgeois’ Familien – derjenigen, in der sie aufgewachsen war, und derjenigen, die sie mit ihrem Ehemann, dem Kunsthistoriker Robert Goldwater, gegründet hatte.

Spinnen bringen ihr Netz aus ihrem Körper hervor, was Bourgeois als Metapher für ihren eigenen Schaffensprozess betrachete. Sie fühlte sich außerdem mit der Arbeit ihrer Mutter als Tapisserie-Restauratorin verbunden. Lady in Waiting kann jedoch ebenfalls als Sinnbild eines nicht gelebten Lebens gesehen werden. Die wartende Spinne verschmilzt mit der Rückenlehne und ist kaum sichtbar, da ihr Körper aus einem ähnlichen Stoff gefertigt ist wie der Bezug des Sessels. Sie versteckt sich, als wollte sie sich schützen.

Louise Bourgeois, Lady in waiting [Zofe], 2003

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Untitled [Ohne Titel], 2002

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 2002

1998 begann Bourgeois, eine Werkgruppe ausgestopfter Textilköpfe zu fertigen. Sie verwendete dabei unterschiedliche Stoffe und Textilien wie Tuch, Baumwolldrillich, Petit-point- Stickereien, Tapisserien, Handtücher und gemusterte Kleidungsstücke. Bourgeois war daran gelegen, eine Vielzahl emotionaler und psychischer Zustände zu porträtieren, statt konventionelle Bildnisse einzelner Personen zu schaffen. Einige dieser Köpfe haben mehr als nur ein Gesicht und verweisen so auf das Nebeneinander widersprüchlicher oder zwiespältiger Gefühle und Haltungen.

High Heels [Stöckelschuhe], 1998

High Heels ist eine aus grauen und schwarzen Kleidungsfragmenten gefertigte Figur ohne Arme, die auf dem Boden kniet. Ihr Gesicht zeigt nach unten und ihr Körper ist so verdreht, dass ihr praller Po und ihre Brüste exponiert sind. Die Beine der Figur stecken in einem Paar aus Stahl geschweißter Schuhe mit spitzen Absätzen.

Die Haltung der Figur erinnert an eine Radierung von Bourgeois aus dem Jahr 1994. Diese zeigt eine Katze in einer ähnlichen Position, als sei sie läufig. Ihre Hinterläufe stecken in hochhackigen Schuhen. In High Heels betont Bourgeois den Kontrast zwischen der unterwürfigen Figur, die aus weichen Stoffen zusammengenäht ist, und der Gefahr und Aggression, welche die mit Stacheln gespickten Metallschuhe andeuten. Die Arbeit vereint die psychologischen und sexuellen Dynamiken von Sadismus und Masochismus. Sie erzeugt so eine unbehagliche und zwiespältige Darstellung von Begehren und Sexualität.

Louise Bourgeois, High heels [Stöckelschuhe], 1998

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Pierre, 1998

Louise Bourgeois, Pierre, 1998

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Pierre war die erste Arbeit in Bourgeois’ Serie von Textilköpfen. Benannt ist sie nach ihrem verstorbenen Bruder, der 1945 in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurde und den Rest seines Lebens in einer solchen verbrachte. Bourgeois fühlte sich zunehmend von ihm isoliert und aufgrund ihrer Abwesenheit auch schuldig. Ein bezeichnendes Merkmal dieses Kopfes ist das fehlende Ohr, das den Mangel an Kommunikation zwischen den Geschwistern versinnbildlicht.

Pierre ist aus mehreren Stücken desselben rosafarbenen Stoffes gefertigt, die auf ein fragmentiertes Ich zu verweisen scheinen. Der Kopf wird von auffallend groben Nähten zusammengehalten. Diese Art zu nähen wandte Bourgeois in vielen ihrer frühen Textilarbeiten an. Sie vermittelt ein spürbares Gefühl psychischer Anspannung und könnte als körperliche Darstellung einer seelischen Wiedergutmachung gelesen werden. Sie erinnert an Narben, die Überbleibsel eines Heilprozesses sind.

Arch of Hysteria [Bogen der Hysterie], 2004

Diese Auswahl kleiner Textilskulpturen, die Bourgeois in den frühen 2000er Jahren zu fertigen begann, stellt eine Reihe widersprüchlicher Geisteszustände dar. Viele Arbeiten haben fantastische Formen und manche lassen beißenden Humor vermuten, wie zum Beispiel die Figur, an deren Kopf eine Eierzange befestigt ist. Die Skulptur Arch of Hysteria hängt in einem Bogen herab und ist aus einem auffälligen Streifenstoff gefertigt. Sie zeigt einen männlichen Körper, der sich in einem Zustand extremer körperlicher Spannung befindet – eine Metapher für die zugrundeliegenden psychischen Qualen.

Louise Bourgeois, Arch of Hysteria [Bogen der Hysterie], 2004

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Spit or Star [Spieß oder Stern], 1986

Louise Bourgeois, Spit or Star [Spieß oder Stern], 1986

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Peter Bellamy

Diese Gruppe von Arbeiten auf Papier zeigen einige der wichtigsten Motive und Prozesse in Bourgeois’ Textilarbeiten: das Schneiden, Ausbessern, Nähen und die Nadel. Spit or Star und Mending [Ausbessern] (1989) sind die frühesten Arbeiten in dieser Ausstellung. Sie scheinen die Hinwendung der Künstlerin zur Arbeit mit Textilien in den 1990er Jahren vorwegzunehmen. Spit or Star zeigt zwei Scheren, die über einer Landschaft schweben. Bourgeois schuf zu dieser Zeit mehrere Zeichnungen von Schneidewerkzeugen. Ihr Interesse an Scheren aller Art bezieht sich auf deren Mehrdeutigkeit, sind sie doch Instrumente der Kreativität und der Gewalt zugleich. Zudem verweisen sie auf die in Form geschnittenen Buchsbäume aus Bourgeois’ Jugend, die getrimmt wurden, um dichter zu wachsen; sowie an das Durchtrennen der Nabelschnur, das Symbol für die gegenseitige Abhängigkeit von Mutter und Kind.

Untitled [Ohne Titel], 1996

„Es ist kein Bild, das ich suche. Keine Idee. Es ist ein Gefühl, das man wieder hervorrufen will, ein Gefühl des Wollens, Gebens und Zerstörens.“ – Louise Bourgeois

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 1996

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Allen Finkelman

Cell XXI (Portrait) [Zelle XXI (Portrait)], 2000

Louise Bourgeois, Cell XXI (Portrait) [Zelle XXI (Porträt)], 2000

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Bourgeois schuf ihre „portrait cells“ (Porträt-Zellen) mit der Absicht, bestimmte psychische Zustände darzustellen. Die Arbeiten bilden eine eigene Untergruppe der größeren und komplexeren Zell-Installationen. Sie beziehen sich auf eine bestimmte Dynamik oder Situation.

Dies ist eine von Bourgeois’ vieldeutigsten „Porträt-Zellen“. In der Zelle hängt eine rätselhafte Form, die aus alten Handtüchern und Bademänteln besteht. Sie vereint Figuratives und Abstraktes, Männliches und Weibliches. Eine Seite ähnelt einem Torso mit brustähnlichen Ausstülpungen, die andere zeigt eine herausgestreckte rosafarbene Zunge. Diese Dualität verleiht der Arbeit eine verstörende Unbestimmtheit und Instabilität.

Cell XXIV Portrait [Zelle XXIV (Porträt)], 2001

Louise Bourgeois, Cell XXIV (Portrait) [Zelle XXIV (Porträt)], 2001

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

In Cell XXIV (Portrait) hängen drei miteinander verbundene Köpfe mit je zwei Gesichtern als einzige skulpturale Form im Raum. Die Komposition ist grob aus schwarzen Stoffstücken zusammengenäht – eine Farbe, die Bourgeois mit Depression, Trauer und Melancholie verband. Die in den Ecken der Zelle platzierten Spiegel vervielfachen die sechs Gesichter noch. Sie eröffnen so verschiedene Perspektiven und verstärken das Gefühl von prüfender Betrachtung, Fragmentierung und Unbehagen.

The Reticent Child [Das verschlossene Kind], 2003

Louise Bourgeois, The Reticent Child [Das verschlossene Kind], 2003

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Diese Arbeit ist von Bourgeois’ Versuchen inspiriert, die Ursache für die Verschlossenheit und den Rückzug ihres jüngsten Sohnes Alain zu verstehen. Sie bezeichnete ihn als „verschlossenes Kind“. Die kleinen Skulpturen in diesem bedrückenden Diorama sollen seine Geburt und seine ersten Lebensjahre darstellen. Die Figuren werden von einem konkaven Spiegel verzerrt und animiert. Dabei wird das erzählende und theatrale Element der Arbeit verstärkt und zugleich die verzerrenden Effekte der Erinnerung hervorgehoben. In einem Begleittext zu der Arbeit, die erstmals 2003 im Sigmund Freud Museum in Wien ausgestellt wurde, schrieb Bourgeois: „Da ist ein Kind, das einfach nicht geboren werden wollte. Er wurde recht spät geboren. Hat er irgendetwas wahrgenommen, das ihn davon abhielt, den Mutterleib verlassen zu wollen und hinaus in die Welt zu treten? Wie viel von dem, was er sein wird, von seinen Gefühlen und Handlungen, wird von dieser Weigerung zu erscheinen vorbestimmt sein? Wie wird dieses Kind der Zukunft entgegentreten? Wird er schüchtern, zum Schweigen verdammt, unbeholfen oder sogar feindselig sein? Er ist das verschlossene Kind […].“

Spider [Spinne], 1997

Die Spinne ist ein wiederkehrendes Motiv in Bourgeois' Arbeiten. Am auffälligsten erscheint es in einer Werkgruppe großformatiger Bronzeskulpturen, die die Künstlerin in den 1990er und 2000er Jahren schuf. In diesem Fall umgreift die Spinne das aus Stahl und Maschendraht gefertigte Zellgehäuse unter ihr, als ob sie ihr Netz schützen will. In der Mitte der Zelle steht ein mit Tapisseriestoff bezogener Sessel, weitere Tapisseriefragmente sind an den Wänden befestigt. Eine Auswahl persönlicher Gegenstände – von der Decke hängende Shalimar-Flaschen (Bourgeois’ Lieblingsparfüm), ein Medaillon, eine stehengebliebene Uhr – lässt eine Atmosphäre der Rückbesinnung und der verlorenen Zeit entstehen.

Im Unterleib der Spinne befinden sich drei in Stoff gewickelte Eier aus Glas. Bourgeois verband Spinnen mit ihrer eigenen Identität als Künstlerin und mit ihrer Mutter, eine Weberin und Restauratorin antiker Tapisserien. Die hoch aufragende Skulptur deutet auch auf das Raubtierhafte von Spinnen hin, die ihre Beute fangen und Artgenossen auffressen – ein Verweis auf Bourgeois’ komplexes und zwiespältiges Verständnis von Mutterschaft und Sexualität. „Ich stamme aus einer Familie von Reparateuren. Spinnen sind Reparateurinnen. Wenn man in ein Spinnennetz schlägt, wird die Spinne nicht wütend. Sie webt es weiter und repariert es.“ – Louise Bourgeois

Louise Bourgeois, Spider, 1997

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Erika Ede

Untitled [Ohne Titel], 2006

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 2006

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Bourgeois hat für diese Werkreihe von Stoffcollagen gestreifte und gemusterte Stoffstücke sowie Haushaltstextilien zerschnitten und zu ineinandergreifenden, manchmal konzentrischen Kreisen neu angeordnet und zusammengenäht. Die kaleidoskopischen Kompositionen ähneln Spinnennetzen – ein Bild, das für Bourgeois „einen tröstlichen Zufluchtsort“ darstellte und eine Metapher für ihren eigenen Schaffensprozess war.

In vielen dieser Arbeiten sind fünf Netze zu sehen, in deren Mitte sich mitunter Blumen befinden. Sie stellen die Familie dar, in der Bourgeois aufgewachsen war, und auch die Familie, die sie und ihr Ehemann gegründet hatten. Obwohl die Stoffcollagen einem strengen visuellen Formalismus folgen, hallt in ihnen etwas zutiefst Emotionales wider: Die Verwendung von Haushaltsmaterialien stellt Bezüge zur Erinnerung und dem Körper her.

Untitled [Ohne Titel], 2000

2000 begann Bourgeois mit der Arbeit an einer Werkgruppe skulpturaler „progressions“ (Entwicklungen). Darin griff sie die vertikalen Formen ihrer als Personage betitelten Skulpturen aus den 1950er Jahren wieder auf. Die einzelnen Skulpturen wurden aus Haushaltstextilien, Bettwäsche, Frotteetüchern, Tapisserien und Polstern gefertigt. Sie unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung: Ihre Bestandteile werden nach oben hin größer oder kleiner.

Die Vorhersagbarkeit formaler Wiederholung diente Bourgeois dazu, chaotischen Gefühlszuständen eine Art Ordnung zu verleihen – selbst wenn jedes Element potenziell gedreht und gewendet werden kann. Sie erklärte: „In der Geometrie gibt es eine Reihe stringenter Regeln. Dort gibt es Gewissheit, was das genaue Gegenteil von der emotionalen Welt ist, in der ich lebe.“ Das weiche Material der gestapelten Textiltürme vermittelt ein Gefühl der Verletzlichkeit und Intimität. Zugleich bleibt es aber flexibel, anpassungs- und widerstandsfähig.

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 2000

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Spiral Woman [Spiral-Frau], 2003

Louise Bourgeois, Spiral Woman, 2003

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Diese vollständig aus schwarzem Stoff gefertigte lebensgroße Figur wird von ihrer eigenen Spiralförmigkeit verschlungen. Die Spirale nimmt am Torso ihren Ausgang und ergreift den gesamten Oberkörper und Kopf. In Bourgeois’ Bildsprache bedeutet der verdrehte Körper Übelkeit, Schwindel und Orientierungslosigkeit – körperliche Symptome psychischer Zustände wie Furcht, Angst, Heimweh und Entfremdung. Wie eine ähnliche Bronzeskulptur der Künstlerin aus dem Jahr 1984 ist diese Spiral Woman aus Textil an einem einzigen Punkt aufgehängt. Die in der Spirale bereits enthaltene Drehbewegung wird dadurch verstärkt, dass sich die Skulptur tatsächlich im Raum drehen und wenden kann.

Bourgeois interessierten Spiralen, weil sie zwei Richtungen haben. Sie sagte:

„Außen beginnt die Angst vor dem Kontrollverlust; das Hineinwinden ist eine Verengung, ein Rückzug, eine Verdichtung bis hin zum Verschwinden […]. Die Bewegung nach außen stellt das Geben dar und die Aufgabe von Kontrolle; sie steht für Vertrauen, positive Energie, das Leben selbst.“

Untitled [Ohne Titel], 2005

In den letzten fünf Jahren ihres Lebens schuf Bourgeois diese Gruppe von vier großen Holzvitrinen. Jede Vitrine zeigt verschiedene skulpturale Motive: die aufeinandergestapelten „progressions“ (Entwicklungen); die Metallständer mit Garnspulen und Tränenformen aus Gummi; die bauchigen, herabhängenden Säcke; die Anhäufungen von ausgestopften Elementen. Obwohl sie mehr oder weniger abstrakt sind, erinnern diese Formen auch an unsere Körperlichkeit. „Die Skulptur ist für mich der Körper“, sagte Bourgeois. „Mein Körper ist meine Skulptur.“ In Untitled hängen Bündel schlaffer Mulltuch-Beutel um eine Stange und erinnern an das Erschlaffen der Haut und des Körpers. Insbesondere lassen diese leeren Säcke an den Mutterleib und an Brüste denken und verweisen auf Alter und Verlust.

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 2005

© The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 und VAGA at ARS, NY, Foto: Christopher Burke

Untitled [Ohne Titel], 2010

Louise Bourgeois, Untitled [Ohne Titel], 2010

Untitled entstand in den Monaten vor Bourgeois’ Tod. Einige Baskenmützen aus dem Besitz der Künstlerin wurden mit Füllmaterial ausgestopft und auf einem armlosen Torso arrangiert, der auf einer Stahlplatte liegt. Die Baskenmützen erinnern sowohl an Brüste als auch an eine Hügellandschaft, wirken in ihrer Form jedoch zugleich abstrakt und rätselhaft. Der weiche Stoff steht in starkem Kontrast zu der stählernen Oberfläche, auf der sie liegen. Hier spiegelt sich Bourgeois’ Interesse wider, scheinbare Gegensätze in Einklang zu bringen: hart und weich, geometrisch und organisch, Trauma und Wiedergutmachung, Figuration und Abstraktion.