The Singing Project Arbeitstisch, 2022 © Ayumi Paul

The Singing Project writing desk, 2022
© Ayumi Paul

Bless the Moon

Natasha Ginwala im Gespräch mit Ayumi Paul

Forgive us, we blamed you
for floods, for the flush of blood,
for men who are also wolves, even
though you could pull the tide in
by her hair, we tell everyone
we walked all over you.

Warsan Shire, Bless The Moon

Natasha Ginwala: Dieses Gedicht lese ich zunächst als einen Aufruf zur Umweltgerechtigkeit in Form von „gegenseitiger Anerkennung“ – aber genauso ist es eine Musik für den Mond, eine Segnung. Und das erinnert mich an die Art und Weise, wie du den Mondzyklus in The Singing Project als kosmische, aber auch kollektive Zeitmessung einsetzt, die sich auf jeden Menschen bezieht, der den Raum betritt.

Ayumi Paul: Für mich ist es ein Akt des Menschenverstands, darauf zu hören, wie der Mond atmet, wie die Erde atmet, wie die Zeit atmet und wie die Steine atmen. Alles was unseren Körper ausmacht, existiert schon viel länger als die menschliche Spezies, und diese Elemente sind von Natur aus auf Rhythmen wie den Mondzyklus abgestimmt. Diese Rhythmen liegen auch der Planung von The Singing Projectzugrunde, ein Projekt, das auf einer fortlaufenden Reihe von Gesangs-Workshops basiert, die ich im Sommer 2021 im Gropius Bau begonnen habe. Sie sind eine Einladung an etwas, das lange vor uns da war und auch nach unserem Tod noch da sein wird. Vielleicht ist es, ähnlich wie das Gedicht von Warsan Shire, eine Art, sich vor dem Leben zu verneigen, anstatt darüber hinweg zu gehen; ein Weg, die Tatsache zu ehren, dass ich nicht alleine atme, sondern atme und geatmet werde – und eine Erinnerung daran, dass wir alle Teil dieses Kreislaufs sind.

Die kollektive Praxis von The Singing Project beruht auch auf dem Zuhören – dem „ganz Ohr Sein“. Ich schlage das in den Workshops regelmäßig als Übung vor. Es gibt eine buddhistische Gottheit namens Guanyin. Der Name bedeutet wörtlich übersetzt: „Diejenige, die die Klänge der Welt hört“. Sie hat mich ebenfalls stark inspiriert.

Natasha Ginwala: Mir gefällt der Gedanke, dass die Bezeichnung „diejenige, die die Klänge der Welt hört“ nicht nur auf ein heiliges Wesen gemünzt ist, sondern auch auf deine Rolle als Künstlerin zutrifft. Ich finde es außerdem interessant, Instrumente zur Messung von Erdschichten und seismischen Aktivitäten wie Geophone und Seismographen einzusetzen, um die „flüssige Erde“ hörbar zu machen – ein weiterer Aspekt des Zuhörens und Vertonens, der in deiner Arbeit präsent ist. Kannst du etwas zu diesen Elementen in deiner Praxis berichten?

Ayumi Paul

Rillenmitschnitt, 2020, Fotografie © Ayumi Paul

Ayumi Paul: Ich benutze Instrumente, um die unterirdischen Schwingungsstrukturen aufzunehmen, und Hydrophone, um akustische Signale unter Wasser hörbar zu machen – vor allem aber sind sie für mich Hilfsmittel zum Lernen. Diese Visualisierung, zum Beispiel, zeigt einen Ausschnitt davon, wie ich eine Komposition von Johann Sebastian Bach auf meiner Geige spiele. Ein Gerät hat die klingende Vibration der Luft beim Spielen gemessen und die Bewegung auf eine Nadel übertragen, die dann wiederum synchron diese kurvigen Spuren in eine Platte geritzt hat: insgesamt 678 Meter Musik. Dieses Beispiel macht deutlich, dass jede gerätegestützte Aufzeichnung eigentlich ein Übersetzungsprozess ist. Geophone und Seismographen für niedrigere Frequenzen zeichnen nicht per se auf; sie wandeln seismische Bewegungen in Spannung um; ihre akustischen und visuellen Aufzeichnungen sind Übersetzungen der ursprünglichen Schwingung.

Das inhärente Pulsieren im Erdkörper steht in ständiger Wechselwirkung mit unseren Körpern und unserer Umgebung. Alles Leben klingt durch unsere Körper; denn sie sind natürliche Tonabnehmer, unmittelbare Aufnahmegeräte. Wenn ich meine Ellbogen oder Sitzknochen auf den Boden lege, spüre ich Schwingungen; wenn ich meine Hand auf deine lege, sollte ich deine Musik hören können. Es ist nur eine Frage der Übung, diese Klänge zu hören, und Übung braucht Zeit.

Was ich aber auch beobachte, ist ein enormes Ungleichgewicht zwischen der Nutzung technischer Geräte und der Nutzung unserer Sinne. Eine Flut von Daten und Informationen ist verfügbar und offenbart die Komplexität und Gewalt der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Glaubenssysteme. Ich frage mich, ob wir tatsächlich in der Lage sind, all das zu hören, oder ob wir es nur nachspielen.

In diesem Sinne versuche ich, Saatgut oder Schlüssel zu komponieren, die uns wieder mit unseren Sinnen verbinden, und mit unserer intuitiven Fähigkeit, Zeichen zu lesen – anstatt uns nur auf Alphabete zu verlassen. Letztlich geht es mir darum, mehr zu hören, als ein Gerät erkennen kann. Der Akt des Zuhörens ist für mich eine Ko-Kreation: I look at the flower – the flower looks at me (Ich sehe die Blume – die Blume sieht mich), so lautet zum Beispiel der Titel eines meiner jüngsten Klangstücke, das sich auf diesen beiderseitig durchlässigen Prozess bezieht.

Natasha Ginwala: Der Titel verrät eine Gegenseitigkeit. Er erinnert mich an die Art und Weise, wie die Philosophin Catherine Malabou in ihrem Essay Rethinking Mutual Aid (2020) über gegenseitige Hilfe in der Gesellschaft als Anerkennung der „kontingenten dynamischen Beziehung“ zwischen den Lebewesen nachdenkt – basierend auf der Annahme, dass Altruismus und Wechselwirkung sich aus einer Vorstellung der Welt und des Geistes als konstitutiven Organen ableiten. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wie du deine Workshops beginnst?

Ayumi Paul: Ich beginne die Workshops mit dem Erzählen von Geschichten, mit Atemarbeit und Meditationen, oft auch mit Lachen. Ich stelle mir vor, dass alle Workshop-Teilnehmer*innen – inklusive mir – die Taschen ihrer Verbindungen in einen Spind stellen. Entdecker*innen reisen mit leichtem Gepäck.

Natasha Ginwala: Gibt es ein bestimmtes Element der Atemarbeit oder der Meditation, auf das du unsere Aufmerksamkeit lenken möchtest? Und wie lernst du aus den verschiedenen somatischen und spirituellen Praktiken, die in deinen Workshops Resonanz finden?

Ayumi Paul: Das grundlegende Element der Atemarbeit ist sehr einfach: Du atmest ein (durch die Nase) und erkennst, dass du einatmest, und du atmest aus und nimmst diese Bewegung ebenfalls wahr.

Rückblickend kommt es mir so vor, als hätte ich schon im Alter von fünf Jahren mit der Vorbereitung auf diese Workshops begonnen – als ich anfing, Geige zu spielen. Vor ein paar Jahren habe ich ausgerechnet, dass ich bereits ungefähr 45.000 Stunden Geige geübt hatte. Es gibt eine bestimmte Musikkomposition, die ich in den letzten 25 Jahren fast täglich gespielt habe. Die gleichen Melodien zu wiederholen ist, als würde man immer wieder durch den gleichen Wald laufen. Aber es ist jedes Mal anders und es gibt immer mehr zu entdecken.

Ich habe auch verschiedene Tanzpraktiken wie Butoh und Gaga trainiert und studiere seit dem späten Teenageralter verschiedene alte somatische und philosophische Praktiken. Meine Workshops sind auch von der Wissenschaft beeinflusst, insbesondere von der Physik, der Neurobiologie und der Bioakustik.

Einige meiner wichtigsten Lehrer*innen haben meinen Weg auch in Form von Geistern und in der Traumwelt gekreuzt. Ich glaube, dass es viel mehr Wege des Lernens gibt als nur das lineare Lernen. In den Workshops möchte ich verstehen, wo sich die vielen Aspekte meines Lernens berühren und wie ich sie in eine verkörperte Gesangspraxis integrieren kann, die für jede*n sofort anwendbar ist.

Ayumi Paul

Ayumi Paul, Salzlied, 2022, 70 x 42 cm, salt, water, sound on paper © Ayumi Paul

Natasha Ginwala: Kannst du erzählen, inwiefern der Wechsel der Jahreszeiten und die Dauer des Tageslichts eine Rolle spielen, wenn du Workshops komponierst, und welche Textur diese zirkadianen Rhythmen mit sich bringen?

Ayumi Paul: Im Japanischen wird das Wort shiki (四季) verwendet, wenn man von einer der vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter spricht. Und dann gibt es noch das Wort kisetsu (季節), das ebenfalls mit Jahreszeit übersetzt wird, aber im wortwörtlichen Sinne von: „die Zeit des Jahres“. Ich mag das Wort kisetsu, weil es mich dazu ermuntert, genauer auf die Nuancen eines jeden Augenblicks und die Vielzahl der zirkadianen und anderen ihm innewohnenden Rhythmen zu hören. Sich in der Wahrnehmung solcher Rhythmen zu üben, vermittelt ein Gefühl echter Zugehörigkeit, das es uns ermöglicht, sich spielerisch innerhalb eines größeren Ganzen zu bewegen und zu klingen.

itoshimeba
ki mo katarikuru
haru no tsuki

if i give my tenderness and love
a tree, too, will speak to me
spring moon
— Heinosuke Gosho

Natasha Ginwala: Im Rahmen von The Singing Project wurden eine Reihe von Emotionen im Gropius Bau freigesetzt, darunter auch Trauer. Die Arbeit des „Reinigens“ spielt für dich eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, einen Raum zu bewohnen und ihn für andere zugänglich zu machen. Was glaubst du, wie diese Spuren und Praktiken den Ort verändern werden?

Ayumi Paul: Ich begann das Projekt, indem ich mich fragte: „Was wäre, wenn es einen Raum gäbe, in dem die Menschen jederzeit frei miteinander singen könnten; was wäre, wenn sich ein Museum in einen Ort des ständigen Gesangs verwandeln würde und was müsste getan werden, um das so weit wie möglich auszudehnen?"

Im Rahmen von The Singing Project praktizieren wir das Singen nicht durch das Wiederholen von Liedern anderer, sondern durch das Klingen in der Gegenwart als eine sich selbst erschaffende menschliche und mehr-als-menschliche Muttersprache. Es bildet hypnotisierende Klangwelten, kann aber auch in den Alltag integriert werden, als eine weitere Ebene des Miteinanders, die auch andere Lebensformen und andere Zeitlinien mit einschließt. Es kann zum Beispiel bei Konflikten und vor der gemeinsamen Arbeit an einem Projekt helfen, oder um Trauer zu teilen und sich um die Verstorbenen zu kümmern. Und als Mittel, um sich gegenseitig zu beruhigen und zärtlich zueinander zu sein, um Erinnerungen und Wissen weiterzugeben, für Selbstliebe und Wertschätzung und um albern zu sein. Die Möglichkeiten sind endlos – warum sollten wir also nicht versuchen, ein neues Gespür zu entwickeln, um sich mit der spektakulären Komplexität in und um uns herum zu verbinden?

Ayumi Paul, Salt Songs, 2022

Ayumi Paul, Salzlied, 2022, 70 x 42 cm, salt, water, sound on paper © Ayumi Paul

Alles beeinflusst sich gegenseitig, auch wenn wir es nicht auf den ersten Blick sehen. Das hier sind zum Beispiel kristallisierte Lieder, die durch das Zusammenspiel von Salz, Wasser, Luft und meiner Stimme auf dem Papier geformt wurden. Ich verstehe das Singen als einen Körper ohne feste Form und in ständigem Fluss, der nur durch Offenheit und Durchlässigkeit geleitet wird. Das erfordert Mut zur Veränderung und Freundlichkeit im Umgang miteinander. Und zu deiner Frage, wie diese Praktiken den Ort verändern werden: Ich bin mir sicher, dass diese Klänge eine Resonanz erzeugen werden, die zu mehr inspiriert – und zu Dingen, die über das bisherige hinausgehen. Aber da dieses Projekt den Schwerpunkt auf Zusammenarbeit, Gegenseitigkeit und Forschung anstatt auf Produktion legt, hängt die Wirkung oder Veränderung eines Ortes immer von der Fürsorge und aktiven Praxis der Menschen ab.

For Haruko

Hey Baby you betta
Hurry it up!
Because
Since you went totally
Off
I seen a full moon
I seen a half moon
I seen a quarter moon
I seen no moon whatsoever!

(...)
 June Jordan, Poem About Process And Progress

Ayumi Paul studierte klassische Violine an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, Berlin und an der Indiana University Bloomington in den USA. Von 2000 bis 2015 war sie international auf Tour und spielte in Konzertsälen auf der ganzen Welt. Zunehmend werden ihre Arbeiten auch in Museen und Galerien aufgeführt. Ihre erste institutionelle Einzelausstellung fand im Frühjahr 2020 in der Kunsthalle Osnabrück statt. Im Jahr 2021 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Massimo in Rom. Ayumi Paul ist diesjährige Artist in Residence am Gropius Bau.

Natasha Ginwala ist Assoziierte Kuratorin at Large am Gropius Bau. Sie ist künstlerische Leiterin von COLOMBOSCOPE in Colombo, Sri Lanka, und war zusammen mit Defne Ayas künstlerische Leiterin der 13. Gwangju Biennale.

Ein Bild aus dem taoistischen White Cloud Tempel in China, das Ayumi Paul von ihrer Freundin Lingji Hon zugeschickt wurde.

White Cloud Tempel. Ein Bild aus dem taoistischen White Cloud Tempel in China, das Ayumi Paul von ihrer Freundin Lingji Hon zugeschickt wurde