Während New York Hochtemperaturaggregat und Drehscheibe ist, war und ist Chicago der Ort des offenen Austausches, der breiten, selbstverständlich Grenzen hinter sich lassenden Exploration und Entwicklung in Laboren und Konzertstätten. Es steht für ein Klima, das in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre in der Gründung zweier bis heute bedeutsamer Meilensteine resultierte: 1965 entstand die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), 1969 das Art Ensemble of Chicago (AEC). Beides waren Initiativen von ausschließlich afroamerikanischen Musiker*innen und es spiegelt den Geist und die Stoßrichtung, dass dabei Genrebezeichnungen wie ‚Jazz‘ schlichtweg abwesend sind.
Multikulturalität war von Anfang an ein prägendes Merkmal dieses Chicagoer Klimas, was etwa am Werdegang von Musiker*innen wie Hamid Drake und auch Nicole Mitchell gut ablesbar ist. Dieses produktive Gemeinschaftsklima findet 2005 einen neuen Höhepunkt mit der Entstehung des Exploding Star Orchestra unter der Leitung des Chicagoer Trompeters Rob Mazurek, in dem die freien Expressionsweisen der Chicagoer Avantgarde einen gemeinsamen Ausdruck finden.
Die gleiche Vielfalt kommt auch in der Anlage des jungen Chicagoer Labels International Anthem zu neuer Blüte. Hier findet man Cutting-Edge-Musik mit Irreversible Entanglements, Jaimie Branch und Tomeka Reid. Und dazu gehört zweifellos auch Makaya McCraven, dessen Arbeitsweise und Aktionsradius zwischen nicht-idiomatischem freiem Spiel und Beatschmiede ebenso typisch wie selbstverständlich für Chicago ist. Aus Europa ist im Katalog des Labels die italienische Bassistin Silvia Bolognesi dabei, die beim Jazzfest Berlin auch zur Besetzung des AEC gehört. Und das ist ein weiterer Zug von Chicago: die langjährige Zusammenarbeit mit europäischen Musiker*innen auf Augenhöhe. Chicago ist eben ein anderes Pflaster als New York.