Thematisch bewegte sich das Jazzfest zwischen der Vielstimmigkeit aufstrebender europäischer Künstler*innen und ihren dynamischen Wirkungskreisen sowie Chicago als einem gewachsenen Ort des kreativen Austauschs und des kollektiven Miteinanders, der sowohl für künstlerische wie gesellschaftliche Freiräume steht. Außerdem widmete es sich dem Jazz zwischen seiner afroamerikanischen Geschichtsschreibung – die gleichermaßen von Unterdrückung und Rassismus erzählt, wie von Befreiung und Empowerment – und heutigen kreativen Kosmen, wie dem des Afrofuturismus in seinen vielgestaltigen Spielarten.
Vier Tage lang nahmen knapp 200 Musiker*innen aus rund 15 Ländern in verschiedensten Formationen das Haus der Berliner Festspiele und weitere Spielstätten ein. Neue Formate und Kooperationen fanden ihren Platz, öffneten das Festival für andere Künste und gestalteten mit Installationen, Kiezkonzerten, Ausstellungsbesuchen, Panels und Performances neue Erfahrungsräume inner- und außerhalb des Festspielhauses.
Am 1. November stand mit dem „Haus of Jazz“ die Grand Opening des 55. Jazzfest Berlin mit zehn Acts und zahlreichen Deutschlandpremieren auf allen Ebenen des Festspielhauses an. Nicole Mitchell und das Black Earth Ensemble eröffneten den Abend auf der Großen Bühne mit dem afrofuturistischen Werk „Mandorla Awakening“. Zugleich spielte das Berliner KIM Collective seine Carte Blanche und kreierte auf der Unterbühne des Hauses den „Un(ter)ort“ – ein musikalisches Echo auf das oberirdische Geschehen. Zudem gestalteten sechs Bands auf drei Bühnen musikalische Paralleluniversen und eröffneten das Haus als freie Bewegungsfläche. Zum Höhepunkt des Abends lud Rob Mazurek abschließend mit dem eigens für das Jazzfest initiierten „Exploding Star International: Chicago-Berlin‘‘.
Das Zusammenspiel der politischen Kreativschmiede Chicagos mit internationalen Künstler*innen setzte sich auch am Freitag fort, wenn Moor Mother – wortgewaltige Poetin, Aktivistin und Vertreterin des Afrofuturismus – mit dem Jazz-Pionier Roscoe Mitchell zusammentraft und erstmals in einen musikalischen Dialog trat. Gerahmt wurde dieser von Performances der politisch-expressiven Band Irreversible Entanglements, des legendären Art Ensemble of Chicago und der Chicagoer Newcomerin Jamie Branch. Anschließend machte sich laut, physisch und extrovertiert Théo Ceccaldi „Freaks“ ans Werk und das WorldService Projekt setzte zu einem wilden Genre-Mix an.
Den Anfängen des Jazz widmeten sich am Samstagabend der Pianist Jason Moran und der Filmemacher Bradford Young mit dem audiovisuellen Auftragswerk „James Reese Europe & the Absence of Ruin“ über den afroamerikanischen Musiker und Soldaten, dessen Wirken musikalisch wie politisch prägend war und dessen Stationierung in Frankreich während des 1. Weltkriegs auch die Ankunft des Jazz in Europa markiert. Dem voran ging das Konzert der WDR Big Band mit der virtuosen Sängerin Jazzmeia Horn, um zum Ende des Abends wieder zu den Ursprüngen zurückzukehren und bei polonisierter Ragtime das Tanzbein zu schwingen, bevor mit Makaya McCraven und Nubya Garcia ebenfalls tanzbar die Nacht im Prince Charles begangen wurde.
Nach diesem heterogenen Festivalprogramm stand der Sonntag im Zeichen anderer Erfahrungsräume: Musikalische Kiezspaziergänge und Ausstellungsbesuche setzten Ruhepunkte, bevor Maria Faust und Kara-Lis Coverdale mit ihren von estnischer Kirchenmusik geprägten Klangwelten die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche einnahmen. Auch die Europapremiere von Mary Halvorsons Oktett hielt ein musikalisches Erlebnis von besonderer Intensität bereit. Die New Yorker Gitarristin begleitete das Jazzfest über alle vier Tage hinweg mit ihrem markanten Spiel in unterschiedlichen Formationen als Artist in Residence. Ihr voran ging am Sonntagabend der norwegische Klangkünstler Kim Myhr und es folgte der außergewöhnliche Gitarrist Bill Frisell, der die Große Bühne des Festspielhauses zum Ende des Festivals hin und nach über 45 musikalischen, partizipativen und diskursiven Beiträgen ganz puristisch als Solist beendete.