Im Sommersemester 2024 fanden an der Universität Hildesheim und der Universität der Künste Berlin zwei Seminare statt aus Anlass des 60. Jubiläums des Jazzfest Berlin. Ausgangspunkt dafür war die Entscheidung der Festivalleitung, das Archiv des Jazzfest zu digitalisieren und zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen. Diese Quellenbestände in den Seminaren unbürokratisch und pragmatisch nutzen zu können, war für die Hochschullehre ein großes Geschenk. Einen Einblick in die Ergebnisse und Erkenntnisse der Seminare geben diese ausgewählten Beiträge.
Die Inhalte dieser Website wurden von Studierenden der Universität der Künste Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Pasdzierny und Studierenden der Universität Hildesheim unter der Leitung von Dr. Bettina Bohle im Sommersemester 2024 im Rahmen der Seminare „60 Jahre Jazzfest Berlin – Festival Studies und/als Musikwissenschaft“ (UdK, Berlin) und „60 Jahre Jazzfest Berlin: Festivals als Kristallisationspunkte des Musik- und Gesellschaftslebens“ (Universität Hildesheim) entwickelt.
An einem Dienstagnachmittag Ende April herrscht in den Räumlichkeiten der Universität der Künste Berlin eine Atmosphäre, die gleichermaßen von Neugierde und Skepsis geprägt ist. „Wer von Ihnen war bereits beim Jazzfest Berlin?“ – Schweigen. „Und wer hat überhaupt Bezug zum Jazz?“ – Etwa die Hälfte der Studierenden hebt zögerlich die Hand, während der Rest mit leicht verlegenem Blick in die Runde schaut.
„Wir kommen aus der Klassik,“ meldet sich eine Stimme zu Wort. So beginnt das Seminar „60 Jahre Jazzfest Berlin: Festival Studies und/als Musikwissenschaft“ von Prof. Dr. Matthias Pasdzierny, das sich dem ehrgeizigen Ziel verschrieben hat, das Jazzfest Berlin in den akademischen Diskurs zu integrieren.
Auch an der Universität Hildesheim wird das Jazzfest Berlin im Rahmen des Seminars „60 Jahre Jazzfest Berlin: Festivals als Kristallisationspunkte des Musik- und Gesellschaftslebens“ unter der Leitung von Dr. Bettina Bohle an zwei Wochenenden beleuchtet. Viele Studierende begegnen dem Festival und der Jazzmusik hier zum ersten Mal. Eine Stimme äußert: „Ich habe keine emotionalen oder professionellen Verbindungen zum Jazz und kannte das Jazzfest Berlin nicht.“
Doch wo beginnt eine solche Erkundung? Natürlich am Anfang der Geschichte: 1964, Joachim-Ernst Berendt, der Kalte Krieg. Die Seminarteilnehmenden tauchen tief in alte Programmhefte ein, sichten, interpretieren und analysieren. Dabei erwacht Interesse, Verwunderung und Entrüstung über inhaltliche Entscheidungen und die Verwendung bestimmter, heute zu recht problematisierter Begriffe. Warum muss Jazz immer wieder seine Rolle, sein Selbstverständnis und seine Legitimation neu aushandeln?
Die ersten Schritte in diese neue Materie sind zögerlich, doch die Energie der eingeladenen Gäste überträgt sich bald auf alle Teilnehmer*innen. Ihre Erzählungen, Erinnerungen und Anekdoten aus der Vergangenheit schaffen eine unerwartete Nähe zum Jazzfest Berlin.
Von Beginn an dabei ist Nadin Deventer, die künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin. Wie wird man zu einer solchen Position berufen? Welche Erfahrungen sind notwendig, um die richtigen Künstler*innen auszuwählen und damit ein Zeichen zu setzen? Es entstehen Diskussionen über Machtverhältnisse, Genderrollen und Sexismus. Ebenso spannend ist die Frage, was ein Musikfestival im Zuge von Inklusion und Diversität leisten soll und muss. Ein intensiver Blick hinter die Kulissen entfaltet sich.
Vor diesem Hintergrund entstehen nun auch studentische Forschungsprojekte: Podcasts, Poster, Meta-Programmhefte, Interviews und Videoclips zu Themen wie Rassismus, Jazz und die deutsche Teilung, Genderrollen, das Jazzfest Berlin in der Pandemie und mehr.
Diese Projekte reflektieren nicht nur die historische und kulturelle Relevanz des Festivals, sondern auch die gesellschaftspolitischen Dimensionen des Jazz.
Die Erkenntnis, dass selbst große, staatlich subventionierte Kulturinstitutionen wie die Berliner Festspiele und das Jazzfest Berlin sich mit kleinen, oft wechselnden Teamstrukturen in einem kompetitiven Umfeld durchsetzen müssen und die Bedingungen für Kulturschaffende insgesamt mühsam bleiben, bereitet eine gewisse Ernüchterung. Gleichzeitig wächst eine tiefe Bewunderung für das Durchhaltevermögen und die Leidenschaft, die hinter solchen Veranstaltungen stehen.
Die Erfahrung, das Jazzfest Berlin in den akademischen Diskurs zu integrieren, war für uns Studierende bereichernd und inspirierend zugleich. Ein wahres Kaleidoskop an Erkenntnissen und Einsichten offenbart sich in den vielschichtigen Zitaten, die über das gesamte Magazin verstreut sind. So bleibt nur noch eines zu sagen: Achtung, Jazzfest Berlin 2024 – wir kommen!
Ann-Sophie Werdich & Milena Brendel
Dieser Film wurde im Sommer vom Jazzfest Berlin zusammen mit Studierenden der Universität der Künste Berlin und der Universität Hildesheim erstellt. In diesem Film geben die Beteiligten einen ersten Einblick, wie es ihnen mit dem Untersuchungsgegenstand, der Geschichte des Festivals, ergangen ist.
Video „Introducing: Jazzfest Research Lab“ – Stimmen und Impressionen der Studierenden und Professor*innen der beiden Seminare
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Seminare als Brücke: Forschung und Praxis im Dialog
Gespräch zwischen Bettina Bohle und Matthias Pasdzierny
Bettina Bohle und Matthias Pasdzierny
Bildbearbeitung: Lena Ganssmann
Bettina Bohle, Direktorin des Jazzinstitut Darmstadt und Lehrbeauftragte an der Universität Hildesheim, und Matthias Pasdzierny, Professor an der Universität der Künste Berlin, haben beide im Sommersemester 2024 aus Anlass des 60-jährigen Jubiläums Seminare an ihren Universitäten zum Jazzfest Berlin veranstaltet (mit den Titeln „60 Jahre Jazzfest Berlin, Festivals als Kristallisationspunkt des Musik- und Gesellschaftslebens“ bzw. „60 Jahre Jazzfest Berlin – Festival Studies und/als Musikwissenschaft“). Hier sprechen sie über die unterschiedlichen Perspektiven und gemeinsamen Erkenntnisse, die sich aus ihren Lehrveranstaltungen ergeben haben, für das Jazzfest Berlin, aber auch ganz allgemein für die Jazzgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum.
Bettina Wir haben uns durch Nadin Deventer kennengelernt, sie hatte uns verschaltet mit der Ansage, dass wir beide Seminare zum Thema Jazzfest Berlin machen. Mich würde noch mal interessieren: Warum hast du eigentlich dieses Seminar gemacht? Was waren deine Beweggründe?
Matthias Ja genau, Nadin Deventer und ich haben angefangen, uns auszutauschen, auch mit Blick auf das Jazzfest Berlin-Jubiläum und ob wir in dem Kontext nicht eine Kooperation zwischen der UdK und dem Jazzfest Berlin anstoßen könnten. Wir haben uns dann darauf verständigt, eine Lehrveranstaltung zu konzipieren, bei der das Archiv des Jazzfest Berlin als Ausgangspunkt dient. Das war dann auch mein hauptsächlicher Hintergedanke bei dem Seminar, denn das Tolle ist ja, dass das Jazzfest Berlin sein Archiv bzw. die daraus erstellten Digitalisate zur Verfügung gestellt hat, an die man sonst nicht so ohne Weiteres rankommt. Mit diesem Archiv zu spielen, mit den Studierenden zusammen, das so ein bisschen durchzuschütteln und gucken, was einem da so entgegenfällt, und was man daraus über Musikgeschichtsschreibung, Jazzgeschichtsschreibung, Jazz- und Festivalforschung lernen kann, das war so einer der inhaltlichen und methodischen Fokuspunkte des Kurses.
Bettina Hast du vorher schon Archivarbeit gemacht, selber forschend und in deinen Kursen? Und wie war das jetzt, wenn ja, im Unterschied zu voriger Archivarbeit?
Matthias Ganz oft, klar, unendlich zum Beispiel im Rahmen meiner Dissertation zur Rückkehr von Musikschaffenden aus dem Exil nach Westdeutschland nach 1945. Ich bin ja historischer Musikwissenschaftler, Archivarbeit ist also eine Art Leib-und-Magen-Geschäft für mich. Für die Studierenden war das im Seminar wahrscheinlich größtenteils eine Erstbegegnung mit historischen Quellen, aber es kommt bei uns auch im Studium immer wieder vor, dass wir mit Quellen arbeiten. Ich liebe das tatsächlich, Studierende auf Quellen loszulassen. Das triggert sie oft richtig, Musikwissenschaft spannend und toll zu finden und nicht nur als ein lästiges Nebenfach innerhalb ihres sowieso schon so vollgepackten Studiums zu sehen. Sie merken dann: „Wow, das ist ja total lebendig. Diese Quellen sind voller Leben, Musikgeschichte ist voller Leben. Und das hat auch unmittelbar mit mir zu tun.“ Im Seminar hatten wir dann ja auch noch wirklich lebende Quellen, nämlich eine ganze Schar von Zeitzeug*innen zu Oral-History-Gesprächen. Das sind dann noch einmal ganz andere, unmittelbare Begegnungen, bei denen im Dialog sehr viel passiert, das in den Studierenden oft lange nachhallt.
Bettina Bei den Zeitzeug*innen: Wie hast Du da ausgewählt, wer eingeladen wird, oder hat sich das rein praktisch ergeben?
Matthias Da war Nadin eine große Hilfe, indem sie zu vielen der Zeitzeug*innenden Kontakt hergestellt hat, z.B. zu Ihno von Hasselt vom Jazzfest Berlin selbst oder auch zu Dieter Hahne und Markus Müller von Free Music Production. Bei einigen hat es aus Termingründen nicht geklappt, Bert Noglik hätte ich auch noch gern dabei gehabt; oder auch Alexander von Schlippenbach, der war aber gerade auf Tour. Eine echte Herzensangelegenheit war mir das Gespräch mit Julia Hülsmann, gerade auch weil sie eine Kollegin an der UdK Berlin ist. Das ging teilweise wirklich Schlag auf Schlag. Im Grunde müssten wir jetzt ein Folgeseminar machen zu dem, was wir gehört haben, auch um noch tiefer in die Auseinandersetzung mit der Musik einzusteigen, als es jetzt möglich war. Aber immerhin werten die Studierenden im Rahmen ihrer kleinen Forschungsprojekte die entstandenen und mitgeschnittenen Gespräche noch ausführlicher aus.
Bettina Ja, Du hast Projektarbeit bei den Studierenden eingefordert als Leistung im Kurs. Hast du so was schon vorher gemacht oder hattest du das Gefühl, das ist beim Jazzfest Berlin bei diesem Thema jetzt besonders geeignet?
Matthias Das Klischee-Seminar in der Musikwissenschaft läuft ja auf Referatsbasis. Das ist für viele Themen auch in Ordnung, wenn es eine breite Literaturlage gibt, die man erarbeitet, einen vielschichtigen Forschungsdiskurs. Jetzt in diesem Fall hätte ich das schade gefunden, denn einerseits gibt es zum Jazzfest Berlin selbst, aber auch auf einer theoretisch reflektierenden Ebene nicht so viel Literatur zum Thema Jazz und Festivalforschung. Und außerdem sollte es ja vor allem darum gehen, das historische Quellenmaterial kennenzulernen und damit zu arbeiten. Da kam es mir sinnvoller vor, das als Forschungsprojekte anzulegen, sodass die Studierenden sich auch selbst als Forschende verstehen. Am Anfang haben wir eine vier-, fünfwöchige Einarbeitungsphase gemacht, wo wir relativ viel theoretische Literatur gelesen haben, insbesondere zu methodischen Fragen der Festivalforschung, aber auch gemeinsame Quellenlektüren als Übung unternommen haben. Und danach sind wir in Gruppen eingestiegen in die Quellenarbeit. Eigentlich hätten wir jetzt noch mal so drei, vier Wochen gebraucht, um den Bogen ein Stück weit wieder zurückzuspannen zum theoretisch-methodischen Anfang, um das Material, das gewonnen wurde, wieder einzubinden in eine theoretische Reflexion. Das kommt jetzt zu kurz, aber ein Sommersemester ist dafür letztlich auch einfach zu kurz und zu voll.
Bettina Ich hatte den Eindruck, dass sich das Jazzfest Berlin mit seiner Geschichte gut in deinen Forschungsschwerpunkt Cultural Cold War einfügt. Vielleicht magst du dazu noch etwas sagen?
Matthias Genau, es sind eigentlich zwei Stränge, die mich hauptsächlich interessiert haben an diesem Thema. Einmal inhaltlich, meine Dissertation zur Rückkehr von Musikschaffenden aus dem Exil in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft habe ich ja schon erwähnt. Da hatte ich mich schon sehr intensiv mit der Musikkultur in Westdeutschland und Berlin nach 1945 beschäftigt. Zum Beispiel mit einer Figur wie Nicolas Nabokov, der dann ja Intendant der Berliner Festspiele war in der Zeit, als das Jazzfest Berlin gegründet wurde, und der in engem Kontakt zum CIA stand und bekanntermaßen insbesondere Musikkultur und Festivals als soft power im Kalten Krieg eingesetzt hat. Und in dieser Zeit, kurz nach dem Mauerbau, ist West-Berlin ja wirklich im Zentrum des Geschehens: Die kulturelle Frontstadt Berlin, wie man auch sagte, mit dieser Schaufensterfunktion in Ost und West. Dazu gibt es auch einfach so tolles Quellmaterial, zum Beispiel wenn man sich die Pressekonferenz von Louis Armstrong in Ost-Berlin 1965 anguckt, da ist den Studierenden im Seminar die Kinnlade runtergeklappt, als sie gesehen haben, wie politisch aufgeladen Jazz in dieser Zeit ist. Gerade für heutige Studierenden mit ihrem, sage ich mal ungeschützt, identitätspolitisch stark sensibilisierten und aufgeladenen Blick, wenn die dann sehen, wie das Thema Jazz damals behandelt und instrumentalisiert wurde, als „Begegnung Schwarz und Weiß“ etwa, dann entsteht daraus erstmal ein sehr großes Irritationspotential, das man dann produktiv diskutieren kann. Das war der eine Strang, weshalb das Seminar zugebenermaßen auch ein bisschen eine 1960er-Jahre-Schlagseite hatte. Das andere war dann eher ein methodischer Zugang, der mich interessiert hat. Ich forsche ja auch viel zu Techno und habe in diesem Bereich schon zu Festivals publiziert. In diesem Kontext bin ich mit den sogenannten Festival Studies in Berührung gekommen. So bezeichnet sich eine kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die den Blick auf Festivals als eine Art heuristisches Vehikel nutzt, um es jetzt mal hochtrabend zu formulieren. Es geht um den Erkenntnisgewinn, den diese bestimmte Perspektive ermöglicht. Was kann ich über Musikgeschichte und Musikkultur lernen, wenn ich auf Festivals gucke, was ich sonst vielleicht nicht verstehe. Und umgekehrt: Was kann ich als Musikwissenschaftler*in dazu beitragen, Festivals besser zu verstehen? Das wären in etwa die Leitfragen. Das finde ich nach wie vor sehr reizvoll, aber gerade als Historiker oft auch nicht unkompliziert, weil das Meiste, was es bislang an Festival Studies gibt, oft eher aus qualitativen Zugängen besteht, also etwa aus Umfragen zu heutigen Festivals, der statistischen Auswertung von Programmen etc. Da geht es dann um den Altersdurchschnitt und andere Fragen der Zusammensetzung des Publikums von Jazzfestivals oder auch darum, was die ökonomischen und strukturellen Hintergründe sind. Das ist ohne Frage alles ebenso interessant wie relevant und da gibt es eine ganze Bandbreite an möglichen Ansätzen, wo man aber überlegen muss, wie sie noch passen, wenn man historisch arbeitet. Was ich zum Beispiel aufschlussreich und gewinnbringend fände, wäre eine kritische Reflexion der zahlreich vorhandenen Fernseh- und Rundfunkmitschnitte des Jazzfest Berlin. Da werden dann immer dieselben sogenannten „Sternstunden“ gezeigt, etwa der Auftritt von Fela Kuti, die Miles Davis-Auftritte, Carla Bleys „Boo to you, too“ usw, die in schöner Regelmäßigkeit als Steinbruch für die Bebilderung der Jazzfest-Geschichtsschreibung verwendet werden. Mich würde interessieren, wie ich methodisch mit solchen Quellen umgehen kann. Wie bringe ich die wirklich zum Sprechen? Welche Inszenierungsstrategien des Fernsehens und Rundfunks liegen da noch drüber, wie kann ich Publikumsreaktionen sinnvoll auswerten, was ist mit den aus heutiger Sicht irritierend wirkenden Ansagen? Was erzählen mir Outfits, Frisuren, Bewegungen der Leute auf und vor der Bühne? Und wie hängt das alles wiederum mit den gespielten Repertoires und Stilistiken zusammen? Das Gleiche gilt für ein close reading der Programmhefte und -bücher. Zumindest in der Jazzforschung gibt es bislang relativ wenig Vorbilder dafür, wie man solche Quellen in ihren verschiedenen Informationsschichten analysieren und auswerten kann. Und da fängt der Spaß für den Historiker dann eigentlich erst so richtig an ... In der Jazzforschung und -geschichtsschreibung hat man es ja oft eher mit einer verbalisierten Ahnen- und Heroengalerie zu tun: „Das erste Jazzfest der Geschichte war Paris, dann kam Newport, dann Berlin, und es gab immer eine geniale Lenkungs- und Leitungsfigur à la Joachim-Ernst Berendt, die das visionär initiiert und aufgebaut hat“, etc. Das mal aufzubohren, kritisch zu reflektieren und über alternative Formen von Jazz(Festival)-Geschichtsschreibung nachzudenken, war der zweite Hauptstrang des Seminars.
Bettina Tatsächlich hast du mich auch inspiriert darin, wie ich mein Seminar konzipiert habe mit diesen Festival Studies, das hat mir sehr eingeleuchtet, gerade, was du sagst zu dem heuristischen Instrument. Ich komme eigentlich aus der Literaturwissenschaft- und Philosophie-Richtung und habe mich da viel mit dem Thema Genre beschäftigt und in der Folge dann auch mit Institutionen. Festivals als Institutionen, die einerseits das musikalische Geschehen aufgreifen und zeigen, aber irgendwie auch immer mit formen, fand ich als Thema total interessant.
Matthias Genau, jetzt erzähle du doch mal ein bisschen.
Bettina Eigentlich waren das auch zwei Stränge, wie ich zu diesem Seminar gekommen bin: zum einen hat mich Nadin Deventer angesprochen, als klar war, dass ich die Leitung vom Jazzinstitut Darmstadt übernehmen würde. Mit Joachim-Ernst Berendt gibt es eine klare personelle Überschneidung zwischen Jazzfest Berlin und Jazzinstitut. Nadin hatte sich, glaube ich, erhofft, dass es über mich einen guten Zugang geben könnte zu den Archivbeständen von Joachim-Ernst Berendt im Jazzinstitut Darmstadt. Im Jazzinstitut gibt es ganz viele Materialien von ihm, Berendts Sammlung, welche die Stadt Darmstadt in den 1980er-Jahren angekauft hat, ist ja die Keimzelle des Jazzinstituts insgesamt. Für mich war das also erst mal die Frage: Wie können wir die Archivbestände aus dem Jazzinstitut Darmstadt erschließen fürs Jazzfest Berlin? Und dann habe ich gemerkt: super kompliziert, weil viel noch nicht richtig erschlossen ist und die Arbeitsressourcen gar nicht da sind. Zum zweiten war klar: Ich darf/muss ein Seminar in Hildesheim mit einem Thema befüllen. Und dann habe ich gesagt: alle weiteren praktischen Fragen zu den Materialien zu und zu Themen im Zusammenhang mit Joachim-Ernst Berendt und dem Jazzfest Berlin kläre ich dann im Rahmen des Seminars. So ist das dann gekommen.
Matthias Du hast angedeutet, dass ihr quasi selber virtuell Festivals kuratiert habt? Das klingt sehr interessant, erzähl doch mal, wie das ablief.
Bettina In Hildesheim gibt es eine starke Verzahnung von Theorie und Praxis, das kommt aus einer Bauhaustradition; die haben da auch Werkstätten und vieles mehr. Ich weiß schon aus meiner bisherigen Lehrerfahrung: praktische Übungen funktionieren immer sehr gut, und ich finde solche Übungen auch prima für die Studierenden, um eine eigene Perspektive zu entwickeln. Deswegen habe ich die Studierenden gleich beim ersten Termin des Blockseminars ihr eigenes Jazz Festival entwickeln lassen. Sie mussten sich Gedanken machen darüber, welche Zielgruppen sie ansprechen wollen, welche Formate es gib, wer da auftreten könnte – dafür hatten sie vorher Musik raussuchen sollen als Hausaufgabe; leider nur ein kleiner Teil des Seminars wurde mit Musikhören verbracht. Und sie sollten auch überlegen, wo sie das stattfinden lassen. Die Studierenden haben sich selber interessanterweise beschränkt auf ihren Kontext, den sie so kennen, die Stadt Hildesheim. Vielleicht ist das auch schlau, dass sie einfach mit dem arbeiten, was sie kennen, wo sie die Öffentlichkeiten, die Bedingtheiten des Publikums ein bisschen einschätzen können. Am zweiten Tag des Seminars sollten sie dann ein eigenes Vorwort für ein fiktives Programmheft schreiben, um das fiktive Publikum zu begrüßen.
Matthias So Berendt-mäßig, als ein programmatisches Vorwort?
Bettina Genau. Am zweiten Tag sind wir dann in die Geschichte eingestiegen und haben uns mit den Vorworten aller künstlerischen Leitungen seit Beginn des Jazzfest Berlin beschäftigt, sozusagen als Mission Statement für deren künstlerische Vision, und auch, wie sie auf Jazz blicken. In der Vorbereitung hatte ich gemerkt: man kann nicht historisch durch alles durchgehen, aber das sind so Knackpunkte, bei denen man so ein bisschen die Historie aufspannen kann, aber eben auch die Fragen stellen kann: Was ist eigentlich Jazz und was will man damit in Deutschland? Das ändert sich auch über die Zeit. Wir sind also von diesem eigenen „wir kuratieren ein Jazz Festival auf dem Papier“ zum historischen Überblick über die Programmhefte gekommen. Da habe ich gemerkt: alles, was mir sonst noch so im Kopf war an Themen, wie bspw. der Institutionenbegriff, wie funktioniert das philosophisch, wie verändert sich so was über die Zeit – musste ich komplett weglassen. Das war viel zu viel. Und deswegen haben wir beim zweiten Seminar-Termin nur auf die Jetzt-Zeit geschaut. Nadin Deventer war einen Nachmittag in Hildesheim und hat ausführlich mit den Studierenden geredet, über ihre künstlerische Vision, ihr Kurationsskonzept, die diversen Widerstände. Den zweiten Tag des 2. Blockwochenendes hatten wir dann noch als Auswerttag, vom Besuch von Nadin sowie insgesamt vom Seminar. Wir haben dann noch fürs Jazzfest Berlin kurze Videos produziert, in denen die Studierenden selber kurz ihre Perspektive und ihre Learnings aus dem Seminar geschildert haben, aber das war es dann auch.
Blockseminare sind ja ein ganz spezifisches Format. Ich war ein bisschen neidisch auf deine wöchentlichen Seminare, in denen du jede Woche wieder auf dieses Thema „Jazzfest Berlin“ zurückkommen konntest, in dem man immer weiter auch an Sachen arbeiten, immer wieder auf eine Diskussionsebene zurückkommen kann. Das hatten wir in unserem Hildesheim-Seminar fast gar nicht.
Matthias Ich fände es noch interessant von dir zu hören, wie du auf Formen und Formate der Jazz-Geschichtsschreibung insgesamt schaust. Ich hatte dir ja schon erzählt, dass ich mit der deutschsprachigen Jazz-Geschichtsschreibung, so, wie ich sie selber auch im Studium kennengelernt habe, oft unzufrieden war: diese gefühlt immer Richtung Fortschritt aufsteigende Girlande von Stilen und Heroen. Das fand ich sehr eindimensional. Da wäre dann die Frage: Kann der Blick auf Festivals helfen, diese Art der Jazzgeschichtsschreibung, diese Stereotype und Formate aufzubrechen, und wenn ja, wie? Und andererseits produzieren Festivals natürlich selber ganz viel stereotype Geschichtsschreibung, wo man dann das Gefühl hat, in Jubiläumspublikationen die immer gleichen Anekdoten und „Sternstunden“ vorperpetuiert zu bekommen. Du hast als Leiterin des Jazzinstituts ja eine Art doppelten Blick auf die Thematik Jazzfest Berlin, das mit seinem großen Archiv in Deutschland selbst eine wichtige Funktion in diesem Geschichtsschreibungsdiskurs einnimmt. Eine Institution des Jazz-Lebens guckt auf die andere, könnte man vielleicht sagen. Aber auch generell würde mich deine Haltung zu der Frage interessieren, wie und was soll man überhaupt aufbewahren und sichern bei einer Musikkultur wie dem Jazz. Wie kann man da eine Multi-Perspektivität gewährleisten? Das fände ich eine wichtige Frage, ob die Beschäftigung mit der Geschichte des Jazzfests für dich und für deine Arbeit im Jazz-Institut bestimmte Früchte trägt.
Bettina Dieses „zwei Institutionen begegnen sich“ – das war für mich tatsächlich ein großes Thema bei diesem Projekt, wobei ich ja noch relativ neu bei der Institution Jazzinstitut Darmstadt und auch im Thema Joachim-Ernst Berendt war. Ich fand das eine wirklich schöne Bereicherung von meiner Startphase hier im Jazzinstitut Darmstadt, weil dadurch diese Frage von: „Wie archiviert man Musik?“ noch mal neu gestellt wurde für mich. Gerade im Jazz, bei dem der improvisierende Anteil sehr hoch ist, ist das ja ein Thema. Zusätzlich sind dann ja auch Jazz als Schwarze Musik und der Bezug zu Deutschland wichtige und nicht einfache Aspekte. Das merkt man ja in der Beschäftigung mit den historischen Programmheften, wie da beispielsweise über race gesprochen wird. Da habe ich das Forschungsdesiderat bezüglich Jazz in Deutschland stark gefühlt. Ich habe auch mal ein Seminar gemacht zu U-und E-Musik. Ich finde diese Abwertung von Unterhaltung und Unterhaltungsmusik, wozu Jazz dann auch gehört und wobei ich auch immer mindestens leicht rassistische Untertöne wahrnehme, total problematisch. Aber eben auch diese Frage dann: Wie hält man diese Musik lebendig? Es soll archiviert, es soll unbedingt bewahrt werden. Aber dann kommt die Frage: was macht man dann mit dem so bewahrten Material? Nur einfach irgendwie ins Regal stellen? Ich sitze hier in meinem Jazzinstitut-Büro umgeben von wirklich übervollen Kisten und Regalen. Da steht teilweise drüber: „Noch nicht eingeordnet“, von meinem Vorgänger netterweise immerhin so etikettiert. Und das zieht sich durchs ganze Haus. Das haben wir eben auch bei der Begegnung mit der Joachim-Ernst Berendt-Sammlung gemerkt, die ist nicht wirklich gut erschlossen. Die Fragen, die du formuliert hast – die können wir an diese Sammlung noch gar nicht so stellen, weil sie – zumindest in Bezug auf die Sammlungsbestände hier – noch nicht wirklich beantwortbar sind. Das sind Sachen, wo ich denke, das sollte aber so sein. In dem Sinne, habe ich das noch akuter gespürt, dass man da mit den Archivbeständen genauer drauf schauen kann, aber auch muss: Wie hat Joachim-Ernst Berndt das eigentlich gemacht? Wie hat er auf Jazz und improvisierte Musik geblickt? Wo und wie kann man das auch nachweisen, also wissenschaftlich wirklich auch fundiert nachweisen? Wie kann man die Materialien erschließen? Das sind total wichtige Gedanken, die ich auch mitnehme aus dieser Kooperation mit dem Jazzfest Berlin, aus unseren beiden Seminaren und unserer Zusammenarbeit dabei.
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Interview
Julie Hofmeister spricht mit Julia Neupert
Julie Hofmeister, Studentin an der Universität Hildesheim, führte im Rahmen des Kurses zum Jazzfest Berlin, ein Interview mit Julia Neupert, Jazzredakteurin beim SWR. In diesem Gespräch stellt Julie Hofmeister gezielt Fragen zur Entwicklung des Jazz und zur Bedeutung des Jazzfest Berlin. Julia Neupert berichtet von ihren eigenen Erfahrungen, sowohl als langjährige Journalistin und Besucherin des Festivals. Das Gespräch beleuchtet aktuelle Trends, die Veränderung des Publikums sowie die Offenheit des Festivals für neue musikalische und transdisziplinäre Ansätze.
Beteiligte: Josefine Erbach, Daria Gumenyuk und Xaver Kamphues
Die Bedeutung der „Begegnung von Schwarz und Weiß“ wird bereits im Vorwort zum ersten Programmheft 1964 unter der Leitung von Joachim-Ernst Berendt angesprochen. Über die Jahre hat sich die Art und Weise, wie über diese „Begegnung“ und den Umgang mit ihr gesprochen wird, einem Wandel unterzogen. Im Rahmen des Seminars an der UdK Berlin hat sich eine Gruppe von Studierenden damit beschäftigt, anhand von Fundstücken aus den Programmheften des Jazzfest Berlin aus den letzten 60 Jahren ebendiesen Wandel zu untersuchen. Ein Ergebnis davon ist diese Grafik.
Die Grafik stellt dar, wie häufig in den Programmheften seit Beginn des Jazzfest Berlin das „N-Wort“ verwendet wurde. Jede Kachel repräsentiert dabei ein Jahr. Das Diagramm liest sich von oben links nach unten rechts (oberste linke Kachel: 1964, rechts daneben: 1965, usw.).
Der Umgang mit rassistischer Terminologie in historischen Quellentexten ist umstritten, Genauigkeit und Transparenz wissenschaftlichen Zitierens stehen dabei im Widerspruch zu Verletzungen, die durch das Wiederholen solcher Terminologie entsteht.
Obwohl der Jazz weltweit als Symbol für Freiheit und künstlerische Innovation gefeiert wird, war seine Entwicklung von Anfang an eng mit Rassismus und Segregation verbunden. Wie geht das Jazzfest Berlin mit so einer Geschichte um? Schalt’ unbedingt ein, um mehr zu erfahren.
Jazz ist ein Genre, das traditionell von Männern dominiert wird, aber auch Frauen haben von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt. Um zu erfahren, wie Künstlerinnen sich gegen Vorurteile und Diskriminierung auflehnten, schalt’ unbedingt ein.
Quellen
Interview mit Nadin Deventer (Künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin)
Interview mit Julia Hülsmann (Jazzpianistin, Dozentin an der Universität der Künste Berlin)
Linda Dahl: Stormy weather. The music and live of a century of jazzwomen, London (Quartet) 1984
Sherrie Tucker: swing shift. “all-girl” bands of the 1940s, Durham, NC u. a. (Duke University Press) 2000
Obwohl der Jazz weltweit als Symbol für Freiheit und künstlerische Innovation gefeiert wird, war seine Entwicklung von Anfang an eng mit Rassismus und Segregation verbunden. Wie geht das Jazzfest Berlin mit so einer Geschichte um? Schalt’ unbedingt ein, um mehr zu erfahren.
Was kann getan werden, um Livemusik einem diversen Publikum zugänglich zu machen? Wie können Barrieren abgebaut werden und was unternimmt das Jazzfest Berlin dafür? Schalt’ ein, um mehr zu erfahren.
Quellen
Berliner Jazztage: Programmbuch, 1964
Interview mit Nadin Deventer (Künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin)
Karen Burland und Stephanie E. Pitts: Understandig Jazz Audiences: Listening and Learning and the Edinburgh Jazz and Blues Festival, in: Journal of New Music Research, vol 39, no 2, (2010), 125–134
Prof. Dr. Andreas Lehmann-Wermser und Dr. Valerie Krupp-Schleußner: Jugend und Musik. Eine Studie zu den musikalischen Aktivitäten Jugendlicher in Deutschland. Abschlussbericht, Bertelsmannstiftung, o. O. 2017