Igor Strawinsky in Venedig, 1956
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Beim Gedanken an Igor Strawinsky kommt Musikliebhaber*innen der Klang und Rhythmus des „Feuervogel“ oder des „Sacre du printemps“ in den Sinn. Weniger bekannt und bis heute im Musikleben nur sporadisch präsent ist das Spätwerk dieses Komponisten. Gleichermaßen der Musik der Vergangenheit zugewandt, wie offen für die musikalischen Strömungen seiner Zeit schuf Strawinsky in seinen späten Lebensjahren Werke, die seine nicht nachlassende Kreativität eindrucksvoll belegen. Anlässlich seines 50. Todestages widmet das Musikfest Berlin seine diesjährige Festivalausgabe dieser Schaffensphase und öffnet seinen Besucher*innen ein Tor in Strawinskys musikalischen Kosmos.
Das Luftschiff USS Akron über Manhattan, ca. 1931-1933
Als Igor Strawinsky am 30. September 1939 – vier Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – in New York eintraf, war er 57 Jahre alt. Fünf Tage zuvor hatte er in Bordeaux an Bord des Passagierdampfers S.S. Manhattan Europa verlassen und war ins mehr oder weniger Unbekannte und Ungewisse aufgebrochen. Ein Aufbruch in die neue Welt, aber nicht wirklich ein Bruch: Dass die ersten beiden Sätze der „Symphonie in C“ in Paris entstanden waren und die beiden letzten Sätze in Hollywood komponiert wurden, ist dem Werk nicht anzumerken.
Igor Strawinsky als Dandy – so malte ihn der französische Maler Jacques Émile Blanche 1916 in dieser Gouache nach einem zuvor entstandenen Ölbild: Lässig, elegant mit gestreiften hellen Hosen und dunklem Sakko, Einstecktuch in Weiß, das mit dem ebenso hellen Hemd harmoniert. Beide Arme spielerisch an den Hüften, in der einen Hand einen Spazierstock, über dem anderen Arm den Mantel, bei dem noch das grüne Innenfutter aufscheint. An den Füßen schwarze Schuhe mit Gamaschen.
Jacques-Émile Blance (1861–1942), Bildnis Igor Strawinsky, 1916, Gouache
Fast 30 Jahre war es her, dass Strawinsky am 25. Juni 1910 mit dem Ballett „L’Oiseau de feu“ in Paris seinen ersten Triumph gefeiert hatte. Die Zusammenarbeit mit Sergej Diaghilew und dessen legendären Ballets russes war bis zum Tod des Impresarios 1929 und dem Zerfall des Ensembles der Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens gewesen und hatte Strawinskys Ruhm vor allem als Ballett- und Opernkomponist begründet. Nach „Petruschka“ (1911) und „Le Sacre du printemps“ (1913) folgten die russische Bauernhochzeit „Les Noces“ (1914 - 1917) und die burleske Fabel „Renard“ (1915/16), das Mimodram „L’Histoire du Soldat“ (1917) und der neoklassizistische „Pulcinella“ (1919/20), die Opéra-bouffe „Mavra“ (1922) und – in lateinischer Sprache – das archaische Opern-Oratorium „Oedipus Rex“ (1926/27). Dabei glich kein Werk dem anderen. Russische Folklore stand neben raffinierten Klanggespinsten à la Debussy, brachiale Rhythmik neben weit gespannten Melodien, barocke Concerti und mittelalterliche Modalität neben Music-Hall- und Jazz-Einflüssen.
Igor Strawinsky wurde am 5. Juni 1882 in Oranienbaum bei St. Petersburg geboren. Erst als 20-Jähriger begann er sich ernsthaft mit Komposition zu befassen und nahm Kompositionsunterricht bei Nikolai Rimski-Korsakow. Entscheiden für seinen künstlerischen Werdegang war die Zusammenarbeit mit Sergei Diaghilew, dem Gründer und Impressario der Ballets Russes. 1910 feierte Strawinsky seinen ersten Erfolg mit dem „Feuervogel“, einem für die Ballets Russes in Paris geschriebenen Auftragswerk. Die 1911 erfolgte Pariser Premiere von „Petruschka“, einem weiteren von Diaghilew in Auftrag gegebenen Ballett, vergrößerte Strawinskys Ansehen. Doch erst der revolutionäre, 1913 uraufgeführte „Le Sacre du printemps“ begründete seine internationale Karriere.
Das Jahr 1914 markierte den Beginn seines lebenslangen Exils, zu dem er sich zunächst aus beruflichen Gründen und später wegen des Ersten Weltkriegs und der Errichtung des bolschewistischen Regimes in Russland gezwungen sah. Bis 1920 lebte er vor allem in der Schweiz, dann bis 1939 in Frankreich, schließlich seit 1939/40 in den USA.
Bis zu seinem Lebensende schrieb er neben Konzerten, Sinfonien, Kammermusik, weiteren Balletten und Opern immer wieder religiöse Werke. Am Klavier und als Dirigent seiner eigenen Werke trat Strawinsky auch häufig als Interpret auf. Er starb am 6 April 1971 in New York und wurde auf eigen Wunsch auf der Friedhofsinsel San Michele in Venedig beigesetzt.
Igor Strawinsky bei einem Spaziergang in Venedig, Italien
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Insofern hätte es ihm eigentlich leichtfallen sollen, auch in der Neuen Welt Fuß zu fassen – zum Beispiel in den beiden in Amerika beheimateten Domänen des Jazz und der Filmmusik. Schon in Paris hatte sich Strawinsky im „Ragtime“ für elf Instrumente (1918) und in der „Piano Rag Music“ (1919) mit dem Jazz beschäftigt. Aber die Jazz- und Bigband-Arrangements des „Tango“ (1940/41), die Bearbeitung des „Scherzo à la russe“ (1944) für die Bigband von Paul Whiteman oder die Zusammenarbeit mit Woody Herman und dem Klarinettisten Benny Goodman im „Ebony Concerto“ (1945) blieben die einzigen Projekte dieser Art. Und auch mit der Filmmusik wurde Strawinsky nicht glücklich. Sicher, die Verwendung seines „Sacre du printemps“ in Walt Disneys Zeichentrick-Meisterwerk „Fantasia“ (1940) war eine exzellente ‚Vorlage‘, aber mehrere weitere Filmmusiken scheiterten dennoch.
So waren Strawinskys erste Jahre in der Neuen Welt eher schwierig – auch und vor allem, was seine materielle Lage betraf. Entsprechend intensiv befasste er sich daher mit Umarbeitungen und Neufassungen seiner alten, europäischen ‚Klassiker‘, um diesen Werken durch Neuanmeldungen bei der ASCAP – dem amerikanischen Pendant der Gema – Rechtsschutz zu sichern.
Musikfest Berlin Programm
Konzerte mit Werken aus den Jahren 1910 – 1922
Wenn man das rund 120 Kompositionen umfassende Werkverzeichnis Igor Strawinskys überblickt, so sind 18 Werke vor 1910 in Russland entstanden, 62 in den Jahren in Frankreich und der Schweiz (zwischen 1910 und 1939) und 41 nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten, deren Staatsbürgerschaft er 1945 annahm. Doch dieses letzte Drittel seines OEuvres scheint im Bewusstsein der europäischen Musikgeschichte quasi ausgeblendet zu sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die öffentliche Wahrnehmung dieses Spätwerks, sowohl im Konzertleben wie in Aufnahmen, bis heute erschreckend mager. Ein paar Zahlen mögen das verdeutlichen: Wo zum Beispiel der jpc-Katalog für den „Sacre“ 303 Treffer verzeichnet, da sind es für das Zwölfton-Ballett „Agon“, das er 1953–1957 für den ehemaligen Diaghilew-Choreographen George Balanchine und dessen New York City Ballet schrieb, gerade einmal 20. Für die „Psalmensinfonie“ sind es 105 Nennungen, für „Canticum Sacrum“ lediglich vier, für „Threni“ fünf und für die „Requiem Canticles“ zwölf (Ergebnisse vom 10. Juni 2021).
Die Quellen seiner Inspiration waren vielfältig. Angeregt von Diaghilev verarbeitete er in „Pulcinella“ Musik- und Gesangsstücke von Giovanni Battista Pergolesi. Auch in seinem „Concerto en ré“ für Violine und Orchester, das er 15 Jahre zuvor für den Geiger Samuel Dushkin geschrieben hatte, griff er auf musikalische Traditionen zurück und assimilierte sie seinen Vorstellungen. Er setzte sich mit Formen der Barockmusik wie dem Concerto grosso auseinander, so wie wir es in Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ kennen.
Die für Viele überraschende Hinwendung zur Zwölftönigkeit – wenn auch nach ganz anderen Regeln als denen Arnold Schönbergs und seiner Schule –, die der 70-jährige Strawinsky seit Anfang der 1950er Jahre in Werken wie dem Ballett „Agon“ oder den „Movements“ für Klavier und Orchester vollzog, ist im Grunde genommen eine Fortsetzung seines spezifischen Strukturdenkens, mit dem er schon 1920 in seinem „Symphonies d‘instruments à vent“ experimentiert hatte. Die Materialreduktion und -konzentration, die in diesem Werk ebenso zu beobachten war wie in dem drei Jahre später vollendeten „Klavierkonzert mit Bläsern“, nahm die spezifische, oft bläserdominierte Klangfarbendisposition vorweg, die sich in vielen Spätwerken Strawinskys findet.
Der Weg von der farbsatten, durch das Vorbild seines Lehrers Nikolai Rimsky-Korssakow geprägten Orchester-Opulenz der frühen Diaghilew-Ballette zu den kargen, manchmal fast spröde scheinenden Besetzungen vieler Werke der amerikanischen Jahre ähnelt in manchem dem seines Freundes Claude Debussy. Die strenge Ordnung, die daraus entstand, steht den Ordnungsprinzipien der seriellen Musik in nichts nach, auch wenn sie ganz anderen Regeln folgt.
Musikfest Berlin Programm
Konzerte mit Werken aus den 1950er Jahren
Dennis Jarvis, Venedig, San Marco, Pfingstmosaik
CC BY-SA 2.0
Zu den vielen Konstanten, die es in Strawinskys Schaffen diesseits und jenseits des Atlantik gab, gehörte auch seine Religiosität. Er war – ohne besonders religiös zu sein – russisch-orthodox aufgewachsen, hatte allerdings 1910 mit der Kirche gebrochen. 1926 jedoch besuchte er in Padua das Grab des Heiligen Antonius von Padua. Er befand sich damals in einer tiefen persönlichen Krise, hin- und hergerissen zwischen der Beziehung zu seiner Frau Katya und seiner Affäre mit der jungen Vera Soudeikina, die er nach Katyas Tod 1940 heiratete. Auf der Suche nach innerem Frieden, so berichtet Strawinsky, „bat ich um ein Zeichen, an dem ich erkennen konnte, wenn und falls mein Gebet erhört würde. Und es wurde erhört, und wegen des Zeichens zögere ich nicht, jenen Augenblick des Erkennens den wahrhaftigsten meines Lebens zu nennen.“ Kurz darauf entstanden erste kirchenmusikalische Werke. Während diese noch streng liturgisch gehalten waren, zeichnete sich in der „Psalmensinfonie“, die er 1929/30 im Auftrag Sergej Koussevitzkys zum 50-jährigen Bestehen des Boston Symphony Orchestra komponierte, eine Mischform ab, die sich nicht wirklich der Kirchenmusik im strengen Sinn zuordnen lässt, sondern offen ist für Aufführungen im säkularen Kontext.
Es ist schwer zu sagen, wie tief Strawinskys Religiosität reichte. Sie umfasste jedenfalls katholische Elemente ebenso wie anglikanische, russisch-orthodoxe oder jüdische Traditionen, und sie war in manchem von fast kindlichen Vorstellungen inspiriert. Um Kirchenmusik zu schreiben, „muss man nicht nur an ‚symbolische Gestalten‘ glauben“, heißt es in seinen Gesprächen mit Robert Craft, „sondern auch an die Person Gottes, an die Person des Teufels und an die Wunder der Kirche.“
Es war vor allem Venedig, wo Strawinsky in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten – seit der Uraufführung von „The Rake’s Progress“ am Teatro La Fenice (am 11. September 1951) – eine Art geistiger und geistlicher Heimat gefunden hatte. Venedig galt Strawinsky als Spiegelstadt zu St. Petersburg und dies nicht nur wegen ihres durch Brücken, Kanälen, Kuppeln und Paläste gezeichneten Stadtbilds. Auch in der Musikkultur und Tradition Venedigs fühlte sich Strawinsky beheimatet. Zumal ihm die kulturellen Wurzeln, die Venedig über Jahrhunderte zum östlichen Mittelmeerraum unterhielt, von seiner Jugend an vertraut waren.
Paolo Monti, Piazza di San Marco, 1977
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Mehrere seiner späten Kirchenmusiken sind für diese Stadt entstanden: „Canticum Sacrum“ ist ein Auftragswerk der Serenissima und deren Patron, dem Evangelisten Markus gewidmet. Es wurde im Markusdom unter der Leitung des Komponisten aufgeführt. Für den mit Tintorettos Fresken ausgestalteten Oratoriensaal der Scuola Grande di San Rocco ist seine aufwendigste Sakralkomposition „Threni“ entstanden. Die „Requiem Canticles“ (1965/66) in ihrem Gespinst aus dem Text der lateinischen Totenmesse und einer strengen Zwölfton-Technik schließen seinen kompositorischen Entwicklungsprozess ab. Sie erklangen 1971 bei der ihm gewidmeten Totenfeier in der Kirche San Giovanni e Paolo in Venedig, bevor er auf dem russischen Teil der Friedhofsinsel San Michele beerdigt wurde.
— Michael Stegemann
Musikfest Berlin Programm
Konzerte mit Strawinskys geistlicher Musik
In einem kurzen Film entrichtet Leonard Bernstein seinen sehr persönlichen Tribut an Igor Strawinsky.