Säulen vor Basilica di San Marco, Venedig, und Jongmyo-Schrein, Seoul

© agefotostock / Richard Ellis / Alamy Stock Foto

Klingende Brücken

Geistliche Musik Europas und Asiens und ihre Wurzeln im Ritus

Welche Musik vergangener Zeiten wir heute kennen und aufführen, ist entscheidend geprägt durch ihre Überlieferung. In der europäischen Kunstmusik gehören die Melodien des Gregorianischen Chorals zu den frühesten Werken, die wir dank erhaltener Aufzeichnungen nachvollziehen können. Die religiösen Gesänge vermitteln uns über die Jahrhunderte hinweg einen Eindruck davon, wie Menschen zum Lob Gottes musizieren. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer Ahnenzeremonie aus Korea. In der Jongmyo Jeryeak kommen zwar hierzulande unbekannte Instrumente zum Einsatz und die ästhetischen Prämissen unterscheiden sich von denen westeuropäischer Musik. Aber als Anrufung der Ahnen vermittelt auch die Jongmyo Jeryeak die über die Jahrhunderte gepflegte Tradition einer Musik, mit deren Hilfe der Mensch mit Überweltlichem in Kontakt tritt.

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GREGORIANISCHER CHORAL UND MARIENVESPER

Gesänge des Glaubens

Am Anfang steht das Wort

Für die Christen ist das Wort der Heiligen Schrift so existenziell, dass sie es täglich mehrfach in den Mittelpunkt ihrer Gebete stellen. Dabei ist es unwesentlich, ob es sich um römische oder orthodoxe oder (später) protestantische Christen handelt. Im 8. Jahrhundert entstand der Gregorianische Choral, benannt nach Papst Gregor (590 – 640), einer der großen theologischen Autoritäten der Spätantike. Die Gesänge hatten einen lateinischen Text und wurden einstimmig und ohne Instrumentalbegleitung vorgetragen – noch für uns heute ein archaisches Klangerlebnis mit einem hohen Potenzial an Faszination.

Der Gregorianische Choral im Programm des Musikfest Berlin 2022

In keiner anderen Epoche der abendländischen Musik ist der Text mit den Melodien eine so enge Verbindung eingegangen wie beim Gregorianischen Choral. Das gemeinsam gesungene Gebet gliederte den Tag: „Ora et labora“ – „Bete und arbeite“ war das Motto des Benediktinerordens. Siebenmal kamen die Mönche in 24 Stunden zusammen und sangen Psalmen und Hymnen in gregorianischer Vertonung. Alle Gesänge mussten sie auswendig beherrschen, denn noch gab es in den Klosterbibliotheken kaum Bücher, in denen sie niedergeschrieben waren. Die gregorianischen Gesänge waren existenziell für die Mönche – sie lernten sie auswendig, um ein Leben lang davon zehren zu können. So gingen sie ihnen in Fleisch und Blut über.

Fünf Mönche singen im Halbkreis mit Büchern in der Hand.

Singende Mönche des Klosters San Benedetto im italienischen Norcia

© Christopher McLallen

Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen wurde 1098 geboren. Schon früh von ihrer Familie für eine klösterliche Laufbahn vorgesehen, trat sie 1112 in den Benediktiner-Orden ein. Mit 43 Jahren begann sie, erste Schriften zu verfassen, nach der Gründung ihres eigenen Klosters 1150/1151 wuchsen diese zu einem reichhaltigen Lebenswerk an, das Hildegard von Bingen zur bedeutendsten Schriftstellerin und Komponistin ihrer Zeit machte. Sie beschäftigte sich mit Medizin, Theologie, Philosophie, Naturkunde und Musik; heute noch bekannt und angewendet wird ihre ganzheitliche Heilkunde in Wellness-Anwendungen und Fastenkuren.

Hildegard von Bingen beschreibt ihr Schreiben als auf göttliche Eingebungen basierend, die sie aufs Pergament brachte. Ihre 77 Gesänge, verfasst zwischen 1151 und 1158, und ihr geistliches Singspiel „Ordo Virtutum“ zeigen allerdings eine große Kenntnis der musikalischen Praxis und Werke ihrer Zeit. Die Musikwissenschaftlerin Marianne Richter-Pfau beschreibt das Werk der Komponistin als einerseits auf dem traditionellen Gregorianischen Choral basierend, andererseits auch neuen musikalischen Formen ihrer Zeit verbunden. Daraus entstand eine individuelle, unverkennbare musikalische Sprache.

Hildegard von Bingens Werke und Schriften wurden bereits von Zeitgenoss*innen intensiv rezipiert. Sie starb 1179 in ihrem Kloster Rupertsberg als weithin anerkannte Universalgelehrte.

Quellen:  br-klassik und  InternationaleGesellschaft Hildegard von Bingen

Mehr von Hildegard von Bingen

Noch Jahrhunderte später werden Melodien in diesem Geist geschaffen: So schrieb die erste namentlich bekannte Komponistin, die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098 – 1179), ausdrucksstarke Gesänge auf eigene geistliche Texte. Aufgrund ihrer Virtuosität und Expressivität sind diese Stücke klingende Brücken in das Spätmittelalter und in die frühe Neuzeit hinein.

„Beim Hören eines Liedes pflegt der Mensch manchmal tief zu atmen und zu seufzen. Das gemahnt den Propheten daran, daß die Seele der himmlischen Harmonie entstammt. Im Gedenken daran wird er sich bewußt, daß die Seele selbst etwas von dieser Musik in sich hat und fordert sie im Psalm auf: Lobet den Herrn mit Zitherspiel und psallieret Ihm mit der zehnsaitigen Harffe.“

— Hildegard von Bingen

In einer mittelalterlichen Abbildung sitzt eine Frau in einem Gebäude. Flammen von oben erreichen ihren Kopf, ein Schreiber steht daneben und wartet auf Anweisungen.

Die Seherin Hildegardis, überstrahlt von göttlicher Eingebung, bei der Niederschrift, begleitet von Mönch Volkmar

© Riesenkodex Wiesbaden, Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain, Abbildung via Wikimedia Commons

Fluide Traditionen

Barbora Kabátková im Gespräch

Daniel Frosch: Der Gregorianische Choral bildet über viele Jahrhunderte einen Fundus an Melodien, aus dem Komponist*innen gerne schöpfen. Selbst Claudio Monteverdi greift in seiner 1610 gedruckten „Marienvesper“ noch auf ihn zurück. Die Gesänge des Chorals klingen im Werk oft an, außerdem gibt es Stellen, an denen er eingefügt werden kann. Beim Musikfest Berlin führen Sie die Marienvesper auf – einmal singend als Interpretin, aber auch als Leiterin von Choralgesängen. Was wollte Monteverdi mit diesem Rückgriff auf den zu seiner Zeit schon sehr alten Gregorianischen Choral zeigen?

Barbora Kabátková: Das ist nicht ganz so eindeutig. Der Gregorianische Choral ist nicht zwangsläufig Musik einer vergangenen Zeit, weil er ja seine eigene Geschichte hat. Wir werden im Konzert Gesänge aus der Zeit um 1600 aufführen, die sich deutlich unterscheiden vom Gregorianischen Choral, wie er zum Beispiel im 9. Jahrhundert gesungen wurde. Aber natürlich gibt es in der „Marienvesper“ ganz andere, innovative Elemente, wie den Beginn, wo Monteverdi die Eröffnung seiner Oper „L’Orfeo“ zitiert und über sehr einfache Harmonien die Bläser ihre Motive spielen lässt. Oder wie er in den Vesperpsalmen ganz nah am Text bleibt, das ist wirklich, als würde man sich einstimmen zum Gebet.

DF: Sie singen im Konzert zwischen den Vesperpsalmen noch Antiphonen auf Grundlage gregorianischer Gesänge. Die Meinungen, ob das der liturgischen Tradition entspricht, oder aber die von Monteverdi überlieferten Concerti die Antiphonen ersetzen sollten, gehen auseinander ...

BK: Es ist immer noch unklar, ob die Concerti statt Antiphonen eingesetzt wurden. Das denke ich aber nicht, für mich sind die Concerti eine Art Zwischenspiel. Es gab im Mittelalter die Tradition der Cantio, schlichter Gesänge mit neu geschriebener Musik. Sie sollten dazu anregen, über den Text, den man gerade gehört hatte, noch einmal nachzudenken. Die Cantio, die im 14. Jahrhundert entstanden, wären dann ein Beispiel einer neuen Form des Gesangs in der Liturgie und mit den Concerti zur Zeit Monteverdis vergleichbar.

DF: Welche gregorianischen Gesänge haben Sie zusammengestellt?

BK: Für jeden Psalm habe ich eine passende Antiphon gesucht, die der Jungfrau Maria gewidmet ist. Es war nicht leicht, Antiphonen in der passenden Tonart zu finden, weil bei diesem Sujet manche Modi unüblich waren. Dazu gab es nach dem Konzil von Trient noch viele Änderungen, die man beachten muss. Aber glücklicherweise bin ich in italienischen Gesangsbüchern aus dem beginnenden 17. Jahrhundert fündig geworden und jetzt ist die Zusammenstellung für mich schlüssig.

DF: Während Philippe Herreweghe die Aufführung leitet, liegt die Verantwortung für die Antiphonen in Ihren Händen – wortwörtlich …

BK: Ja, es ist für mich eine große Ehre, dass ich diese Gesänge leiten darf. Ursprünglich wollte ich nur die Vorarbeit leisten und an Philippe übergeben. Aber er hat dann entschieden, die Ausführung mir zu überlassen, weil ich solche Musik regelmäßig aufführe und sie eine Art von Dirigat benötigt, die sich sehr davon unterscheidet, wie man ein modernes Orchester oder einen Chor leitet. Collegium Vocale Gent hat eine sehr gute Schola von Männerstimmen und ich freue mich sehr, diese Gesänge, die ich sonst mit den Frauen meines Tiburtina Ensemble musiziere, jetzt auch mit einem Männerensemble aufführen zu können.

Claudio Monteverdis „Marienvesper“ im Programm des Musikfest Berlin 2022

Eine klingende „Bewerbungsmappe“

Die „Marienvesper“ von Claudio Monteverdi (1567 – 1643) erschien 1610. Da der Komponist mit seiner Stelle am Hof zu Mantua nicht glücklich war, sah er sich nach anderen kirchenmusikalischen Aufgaben um. Für die „Marienvesper“ fehlt sowohl ein konkreter Auftrag als auch der Nachweis einer liturgischen Uraufführung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es sich um eine Komposition handelt, mit der sich Monteverdi von Mantua wegbewerben wollte. So ist dieses Werk mit einer Gesamtdauer von gut 90 Minuten eine große repräsentative Zusammenschau der kompositorischen Fähigkeiten ihres Schöpfers.

Philippe Herreweghe im Gespräch mit Franziska von Busse über Neues und Altes in der Marienvesper

Claudio Monteverdi

Claudio Monteverdi, Portrait von Bernardo Strozzi, um 1630

© Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Wikimedia Commons

Claudio Monteverdi (1567 – 1643) ist einer der großen Revolutionäre der Musikgeschichte, der mit seinem tief in der Tradition wurzelnden, aber allem Neuen aufgeschlossenen Schaffen wie kein zweiter für die Umbrüche an der Epochenschwelle des Jahres 1600 steht. Obwohl Monteverdi ein universaler Musiker war, verbindet sich sein Name für uns vor allem mit zwei Gattungen, der Oper und dem Madrigal. Mit einigem Recht kann die Uraufführung von Monteverdis „L’Orfeo“ am 24. Februar 1607 am Hof von Mantua als echte Geburtsstunde der Oper angesehen werden, weil es erst seiner Gestaltungskraft und seines dramatischen Instinkts bedurfte, um aus den etwa zehn Jahre älteren Ansätzen seiner Vorgänger eine lebensfähige Kunstform zu machen. Umgekehrt hat Monteverdi auf dem Gebiet des Madrigals eine ungemein reiche und verzweigte Gattung mit seinem Schaffen zu einem Abschluss gebracht. Beide Gattungen verbinden sich in einer seiner ausdrucksstärksten Kompositionen, dem schon zu seinen Lebzeiten berühmten „Lamento d’Arianna“, das aus einer verlorengegangenen Oper stammt, aber in mehreren eigenhändigen Madrigal-Bearbeitungen überliefert ist.

Der am 15. Mai 1567 getaufte Monteverdi wuchs in den behüteten Verhältnissen einer wohlsituierten Ärztefamilie in Cremona auf und erhielt eine ausgezeichnete musikalische Ausbildung. Bereits mit 15 Jahren konnte er erste Kompositionen veröffentlichen. Seine erste Anstellung erhielt Monteverdi 1590 oder 1591 am Hofe der Fürsten Gonzaga in Mantua, wo er sich vom Violaspieler stetig emporarbeitete, bis er 1603 zum Leiter der Hofkapelle ernannt wurde. Er hatte nun zahlreiche musikalische und administrative Aufgaben zu erfüllen, die von der musikalischen Ausgestaltung von Festen und Turnieren bis zur Aufsicht über die Kirchenmusik reichten, und musste überdies dem Fürsten auch auf Reisen zur Verfügung stehen. Bis zur Erschöpfung arbeitend war Monteverdi, der inzwischen Familienvater war, mit seinen Lebensumständen bald nicht mehr zufrieden. Gegen jede Konvention entfernte er sich eigenmächtig längere Zeit vom Hof und sprach Missstände offen an. Bei allen offenbaren Misshelligkeiten blieb Monteverdi der Familie Gonzaga aber lebenslang verbunden, auch nachdem er im Juli 1612 aus ungeklärten Gründen aus dem Dienst entlassen wurde.

Bereits im folgenden Jahr wurde Monteverdi mit einer der repräsentativsten Aufgaben des italienischen Musiklebens betraut und von der Stadt Venedig zum Kapellmeister am Markusdom ernannt. Hier war der Komponist am Ziel seiner Wünsche angekommen und so versah er seinen Dienst am Markusdom bis zu seinem Tod am 29. November 1643. Von den geistlichen Kompositionen, die in diesen 30 Jahren entstanden, hat sich wohl nur ein sehr kleiner Teil erhalten. Besser ist aber die letzte bedeutsame Wandlung seines Schaffens dokumentiert: Mit „Il ritorno d’Ulisse in patria“ und „L’incoronazione di Poppea“ reagierte der greise Komponist auf die neuen künstlerischen Möglichkeiten, die sich in Venedig von 1637 an aus der Eröffnung der ersten kommerziellen Opernhäuser ergaben.

Mehr zu Claudio Monteverdi

Die lateinische Widmung spricht auf jeden Fall gegen eine alleinige liturgische Dedikation: „...ad Sacella sive Principum Cubicula accommodata“ – für Kapellen und Fürstengemächer geeignet. Claudio Monteverdi wollte mit der „Marienvesper“ zeigen, dass er neben den alten auch die in seiner Zeit neuen Kompositionstechniken beherrschte. So spannte er einen großen handwerklichen und stilistischen Bogen, um in dieser klingenden „Bewerbungsmappe“ sein Können in ganzer Breite zu präsentieren.

„Die Marienvesper verknüpft alte und neue, geistliche und weltliche Schreibarten, polyphonen und konzertierenden Satz, groß- und geringstimmig besetzte Teile, liedhaft schlichten und halsbrecherisch virtuosen Gesang, instrumentale Bravour und gregorianische Melodien in einer Weise, dass aus den scheinbar disparaten musikalischen Elementen ein in sich schlüssiges Ganzes entsteht.“

Silke Leopold, Musikwissenschaftlerin und Autorin

Womöglich ist es gerade die geglückte Verschmelzung von Alt und Neu, die der „Marienvesper“ eine überdauernde Popularität gesichert hat. Als eines der frühesten der Werke, die heute regelmäßig auf den Konzertprogrammen stehen, ermöglicht die vor über 400 Jahren geschriebene „Marienvesper“ den Blick zurück auf praktizierten Glauben am Beginn der mitteleuropäischen Neuzeit.

Philippe Herreweghe im Gespräch mit Franziska von Busse über die spirituelle Wirkung von Musik

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DIE KOREANISCHE AHNENZEREMONIE

Eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Sakrale Musik gehört zu jeder Religion. Dabei kann sie sich auch durchaus gesellschaftlich relevant erweisen. Als sich Korea im 14. Jahrhundert vom Buddhismus ab- und einer Wiederbelebung des Konfuzianismus zuwandte, geschah das auch, um die klare Hierarchie der gesellschaftlichen Ordnung im Sinne einer strengen Sittlichkeit zu stützen. Jongmyo Jeryak – die Huldigung der Ahnen als Teil des kulturellen Gedächtnisses – soll eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen, denn die Macht, welche die Seelen der Verstorbenen haben, bleibt prägend für das Hier und Heute.

Im Herzen von Seoul, unweit der beiden Königspaläste, liegt der konfuzianische Jongmyo-Schrein. Hier wird den Königen der Joseon-Dynastie (1392 – 1910) gedacht.  Ein Ort voller Geschichte, Ruhe und Spiritualität, in dem sich die konfuzianische Gedankenwelt tief eingeschrieben hat. Es gibt in Korea sehr wenig Musik, die so eng mit einem Ort verbunden ist, wie diese Ritualmusik.

Mit der Gründung der Joseon-Dynastie im Jahre 1392 wurde nicht nur die Hauptstadt in das heute Seoul verlegt, sondern auch der Konfuzianismus als Staatsphilosophie eingeführt. Die Ahnenverehrung spielt hierbei eine wichtige Rolle und ist Bestandteil der sogenannten „Drei sozialen Pflichten”. Die Ahnenrituale, wie sie im Jongmyo-Schrein durchgeführt wurden, dienten als Brücke zwischen den Welten der Lebenden und der Verstorbenen. Sie sind ein symbolbeladenes Zusammenspiel von Gesang (Jongmyo Akjang), Musik (Jongmyo Jeryeak) und Tanz (Palilmu).

Im 15. Jahrhundert wurde für königlichen Ahnenritual noch die ursprünglich aus China stammende Aak-Musik benutzt. König Sejong war es, der diese Musikfolge neu komponierte. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass seine Vorgänger koreanische Musik besonders schätzten, sich in Korea ein neues kulturelles Selbstbewusstsein entwickelte und nicht zuletzt, weil Musik in der konfuzianischen Gedankenwelt eine erzieherische Kraft besitzt und sich somit zur politischen Gestaltung eignet.

Männer in rituellen blauen Gewändern halten Holzschwerte in den Händen, hinter ihnen befindet sich ein Orchester in rituellen roten Gewändern.

Jongmyojeryeak-Aufführung im National Gugak Center in Seoul

© National Gugak Center

Die Ritualmusik hat eine besondere Ästhetik. Ihr Tempo ist äußerst langsam und erlebt keine dynamischen Höhepunkte, sondern fließt in einem stetigen Strom dahin. Sie verweigert sich jedem extremen Gefühlsausdruck wie Freude, Trauer oder Ausgelassenheit. Damit sollte jedwede innere Unruhe vermieden werden. Anstelle einer lebendigen Rhythmik treten nun feinste dynamische Nuancen, mikrotonale Tonhöhenänderungen und delikate Tonverzierungen.

Die Musik wird gespielt von zwei Orchestern: dem oberen Terrassen- und dem unteren Bodenorchester. Die Auswahl der Instrumente folgt der aus China stammenden Klassifizierung der sog. „Acht Klänge“ und verleihen dem Orchester einen ganz besonderen Klang. Es sind Instrumente zu hören, die seit Jahrhunderten existieren, aber nur noch in dieser Musik ihren Einsatz finden.

National Gugak Center

Männer in rituellen blauen Gewändern tanzen mit Holzschwertern in den Händen, hinter ihnen befindet sich ein Orchester in rituellen roten Gewändern.

Jongmyojeryeak-Aufführung im National Gugak Center in Seoul

© National Gugak Center

Das Court Music Orchestra führt die Tradition der höfischen Musik, zu der auch die von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte Jongmyojeryeak gehört, fort. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es regelmäßig Konzerte mit traditionellen und kreativen Musikstücken. In den 2000er-Jahren führte das Orchester mehrere Aufführungen durch, bei denen die „ursprüngliche“ Form des Musik-Gesang-Tanz-Komplexes wiederhergestellt und dargestellt wurde. Außerdem wurde in dieser Zeit die „komplette“ traditionelle Musikreihe aufgeführt. Seit 2010 versucht das Orchester, sein Tätigkeitsfeld zu erweitern. Durch verschiedene künstlerische Versuche hat es die Klangfarben des bestehenden Repertoires erweitert und neue Arten von Kunstwerken auf der Grundlage veränderter Aufführungsformate kreiert. Derzeit ist Yi Yeong der musikalische Leiter des Court Music Orchestra.

Das Dance Theater bemüht sich um die Erhaltung und Weitergabe verschiedener traditioneller Tanzarten, darunter Cheoyongmu (immaterielles Kulturerbe der UNESCO), Hoftanz (wie Seonyurak und Pogurak) und Volkstanz. Darüber hinaus engagiert sich das Ensemble für die Entwicklung neuer Kreationen, die an die nächsten Generationen weitergegeben werden sollen. In den 1990er-Jahren begannen die Bemühungen um die Restaurierung und Darstellung von höfischen Tänzen. Diese sowie die Zunahme neuer Kreationen führten in den 2000er-Jahren zu neuen Produktionen und Kunstwerken, die von historischen Figuren oder buddhistischen Ritualen inspiriert sind. In den 2010er-Jahren wurde ein Stück mit einer neuen Interpretation des Hoftanzes der Joseon-Dynastie aufgeführt. Derzeit ist Park Sook Ja die Leiterin des Tanztheaters.

Die Folk Music Group und das Contemporary Gugak Orchestra vervollständigen die Performancegruppen des National Gugak Center.

Mehr zum National Gugak Center

Der zum Ritual gehörende Tanz wurde in Korea schon während der Goryeo-Dynastie (918 – 1392) aufgeführt. Er ist wahrscheinlich der berühmteste rituelle Tanz in der koreanischen Geschichte. Die Bewegungen der Tänze bestehen aus rund 50 einfachen Bewegungsmustern und werden mit großer Ernsthaftigkeit ausgeführt. Auch hier wird jede emotionale Reaktion vermieden.

Das Jongmyo Jeryak ist ein visuell-akustischer Rückblick auf 500 Jahre Joseon-Dynastie. In einer speziellen Konzertfassung durch das National Gugak Center ist die beindruckende Lebendigkeit des musikalisch-künstlerischen Erbes in Korea erfahrbar.

Die koreanische Ahnenzeremonie im Programm des Musikfest Berlin 2022

Eine Gruppe von asiatischen Tänzern in roten Gewändern halten bunte, mit Quasten verzierte Stäbe hoch.

Jongmyojeryeak

© National Gugak Center Korea

Mitwirkende

Frank Böhme

Frank Böhme hat seit 2022 eine Professur für Theorie und Praxis der World Music inne. Studium der Pädagogik und Musik in Berlin und Leipzig, Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg für Angewandte Musik, 2009 – 2011 Dekan und Leiter des „Studium fundamentale“-Programms an der HafenCity Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung Hamburg. Für diesen Digital Guide hat er über die koreanische Ahnenzeremonie geschrieben.


 

 

Stefan Klöckner

Stefan Klöckner ist Professor für Musikwissenschaft/Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang Universität in Essen und Leiter des auf Gregorianischen Choral und Musik des Mittelalters spezialisierten ensemble VOX WERDENSIS. Für diesen Digital Guide hat er über den Gregorianischen Choral und die Marienvesper geschrieben


Das Interview mit Barbora Kabátková hat Daniel Frosch, Musikredakteur bei den Berliner Festspielen, geführt. Es ist zuerst im Journal des Musikfest Berlin im August 2022 erschienen.