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„Kompositionen entstehen nicht weltabgewandt in der Einsiedelei. Sie entstehen in und mit der Welt.“ Das sagt die Komponistin Liza Lim über ihre Arbeit und fasst damit eine recht neue Überzeugung in Worte: Musik entsteht in einem gesellschaftlichen Kontext und sie wirkt umgekehrt in die Gesellschaft hinein. Gehen Sie mit uns auf eine multimediale Entdeckungsreise zu drei Komponist*innen, die bewusst Teil ihrer Gesellschaft waren und sind. Lernen Sie von Liza Lim, wie die Verstrickung aller Dinge in Musik umgesetzt werden kann. Folgen Sie Ludwig van Beethoven, der sich zwischen Religion, Adel und Idealen der Aufklärung positionieren musste. Und begegnen Sie einer der ersten erfolgreichen Schwarzen Komponistinnen: mithilfe eines reichen Netzwerks wusste sich Florence Price gegen Vorurteile zur Wehr zu setzen.
Florence Price am Klavier, circa 1945
© public domain / University of Arkansas
Florence Price (1887 – 1953) wusste sehr wohl, dass die amerikanische Klassikszene afroamerikanischen Frauen mit Ablehnung begegnete: „Mein lieber Herr Dr. Kussewizki,“ schrieb sie im Jahr 1943, „ich bin zweifach benachteiligt – durch mein Geschlecht und meine Rasse. Ich bin eine Frau und in meinen Adern fließt Schwarzes Blut.“ Price wollte den Direktor des Boston Symphony Orchestra dazu bewegen, sich mit ihren Partituren zu beschäftigen. Und sie wollte, dass er sie objektiv und ohne Vorurteile betrachtete. Als er ihre Partituren kommentarlos zurücksandte, konnte sie natürlich den Grund für seine Ablehnung nicht kennen.
Dieser Vorfall ist zwar ein ärgerliches Beispiel für versäumte Chancen, Price war jedoch eine durchaus fähige und strategisch handelnde Verfechterin ihrer Musik und nutzte vielfache professionelle Netzwerke, um in einer ansonsten abweisenden Welt zu reüssieren. Wie die Musikwissenschaftlerinnen Samantha Ege und Alisha Jones zeigen konnten, versammelte Price eine starke Gemeinschaft afroamerikanischer Frauen um sich, die es ihr ermöglichten, die bestehenden Grenzen von race und Geschlecht zu überschreiten.
Florence Beatrice Price wurde 1887 in Little Rock im US-Bundesstaat Arkansas in eine Familie aus der Mittelklasse geboren und erhielt ihren Musikunterricht von ihrer Mutter, da die örtlichen Musiklehrer keine Schwarze Schülerin annehmen wollten. Von 1903 bis 1906 studierte sie in Boston am New England Conservatory, kehrte dann in ihre Heimatstadt zurück, unterrichtete Klavier und heiratete einen Rechtsanwalt. Entscheidend für ihre Karriere war 1927 der Wegzug aus der Provinz nach Chicago, wo sie innerhalb der Schwarzen Community Unterstützung fand, verschiedene Wettbewerbe gewann und im großstädtischen Musikleben Fuß fasste.
Als das Chicago Symphony Orchestra am 15. Juni 1933 bei der Weltausstellung in Chicago die 1. Symphonie von Florence Price auf sein Programm setzte, wurde zum ersten Mal ein Werk einer afroamerikanischen Komponistin von einem großen amerikanischen Orchester aufgeführt. Auf dem Weg dorthin hatte Florence Price zahlreiche Vorurteile, gesellschaftliche Benachteiligungen und institutionelle Hemmnisse überwinden müssen. Inzwischen ist im Zuge eines neuen, diese Rahmenbedingungen reflektierenden Blicks auf die Musikgeschichte das Interesse an ihr wiedererwacht, sodass eine ganze Reihe ihrer Stücke in CD-Einspielungen vorliegt.
Die junge Florence Price auf einer undatierten Fotografie
© public domain / University of Arkansas
Das wichtigste dieser Netzwerke erwuchs aus der National Association of Negro Musicians (NANM), einer im Jahr 1919 gegründeten Organisation, die Price mit anderen Schwarzen Musiker*innen im ganzen Land vernetzte. Mitglieder des Verbands in Chicago, darunter Estella Bonds und Maude Roberts, unterstützten Florence Price bereits unmittelbar nach ihrem Umzug dorthin im Jahr 1927. Sie stellten die nötigen finanziellen Mittel und Organisationskapazitäten zur Verfügung, damit ihre Symphonie in e-Moll im Juni 1933 vom Chicago Symphony Orchestra unter Leitung von Frederick Stock der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Aus dem uneingeschränkten Erfolg dieses Konzerts ergaben sich weitere Möglichkeiten für Price, darunter Aufführungen ihres „Piano Concerto in One Movement“ (1934) in Chicago, Pittsburgh und New York City anlässlich verschiedener Konzerte, die die NANM sowie weiße Organisationen wie das Chicago Musical College und das Women’s Symphony Orchestra of Chicago veranstalteten.
Die Landschaft der klassischen amerikanischen Musik wurde 1935 durch die Einführung des Federal Music Project (FMP) dramatisch verändert, das durch die anhaltende Wirtschaftskrise angeschlagene Musiker*innen unterstützen sollte. Es gereichte Florence Price zum Vorteil, dass die Förderung lokaler Komponist*innen eines der erklärten Ziele des FMP war. Staatlich subventionierte Ensembles, die hauptsächlich aus weißen Musiker*innen bestanden, brachten zwischen 1937 und 1941 mehrere ihrer Werke zur Uraufführung, darunter ein Streichquartett, eine Konzertouvertüre und ihre Dritte Symphonie.
Ein Plakat der Weltausstellung „A Century of Progress“ von 1933.
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— Marian Anderson
Marian Anderson singt Florence Price. Open-Air-Konzert auf den Stufen des Lincoln-Memorial in Washington, April 1939.
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Zwischenzeitlich war eine enge Zusammenarbeit zwischen Price und der berühmten Altistin Marian Anderson entstanden, die 1935 ihre Kompositionen in das Programm einer Eurotournee aufnahm und sie über die nächsten 15 Jahre in ihrem internationalen Repertoire behielt. Wenn Anderson eines dieser Stücke in renommierten Konzertsälen wie der Carnegie Hall gesungen oder sie bei einem prominenten Label veröffentlicht hatte, wandten sich Musikverlage immer wieder mit konkurrierenden Angeboten an Price.
Price hatte sich im Jahr 1934 um eine Mitgliedschaft bei der American Society of Composers, Authors, and Publishers beworben, ihre Bewerbung wurde jedoch erst 1940 angenommen. Dies führte zum Verlust sämtlicher Tantiemen, die in den sechs Jahren der Anwartschaft durch das Engagement von Marian Anderson hätten generiert werden können und ihre Verbindung mit staatlich geförderten Gruppen war in dieser Zeit überlebenswichtig. Nach 1940 konnte Florence Price sich aufgrund kontinuierlich eingehender Tantiemen wieder der deutlich weniger lukrativen Welt der Orchestermusik zuwenden – der Welt von Sergei Kussewizki und großer, privat finanzierter Ensembles, deren wirtschaftliche Nöte zu Ende gingen. Mit der ihr eigenen Bescheidenheit beschrieb Price ihre Rasse und ihr Geschlecht als Hindernisse und erwartete nichts als eine uneingeschränkte Ablehnung durch Kussewizki. Aber nach zehn erfolgreichen Jahren konnte sie sich in dem Wissen in dieses Gespräch begeben, dass Kussewizki sie nicht weniger brauchte als sie ihn.
— Douglas W. Shadle
Yannick Nézet-Séguin über Florence Price
Yannick Nézet-Séguin
Florence Price im Programm des Musikfest Berlin
Liza Lim
© Jascha Zube
Als kleines Kind hat Liza Lim den Wald gehört. Nicht irgendein kultiviertes Wäldchen, sondern den unbändig lauten, tropischen Urwald, der über seine Ränder hinweg ganze Landstriche zu beschallen vermag. Die 1966 im australischen Perth geborene Komponistin, deren Vorname übrigens wie das deutsche „Lisa“ ausgesprochen wird, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit im Sultanat Brunei, wo die chinesischstämmigen Eltern – beide Mediziner*innen – eine Weile arbeiteten. Im Garten turnten Affen, gleich hinter dem verschlafenen Städtchen begann der Regenwald. Bis heute klingt das dort Gehörte, Gefühlte und Erlebte in ihrer Musik nach. Liza Lim komponiert Laute, die an Schreie wilder Tiere erinnern und zeichnet melodische Linien, die sich wie Luftwurzeln verzweigen, die wuchern, als suchten ihre feinen Enden unablässig neue Verbindungen.
Martina Seeber im Gespräch mit Liza Lim
Wie denken Wälder? Als Liza Lim 2016 ein Stück für das australische ELISION Ensemble komponiert, entzündet sich ihre Fantasie an einem Buch über die Kommunikation zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren des Amazonasforschers Eduardo Kohn. Auf „How Forests Think“ folgt 2018 das Ensemblestück „Extinction Events and Dawn Chorus“ über das Anthropozän, den Plastikmüll, Vergangenheit, Gegenwart und das Verschwinden. Die Fantasie von Liza Lim, die nach Studien in Melbourne und Amsterdam heute in Sydney eine Professur für Komposition innehat, entzündet sich an komplexen Themen. In ihren Kompositionen geht es um kulturelle Identitäten, Umweltzerstörung, Weiblichkeit, Magie und Spiritualität. Die zugrunde liegenden Gedankengänge muss aber niemand, der die Werke hört, intellektuell nachvollziehen. Die Themen setzen bei Liza Lim eine musikalische Fantasie in Gang, die Gedanken, Sprache und mathematische Formeln vergessen lässt. So ist auch ihre Ensemblekomposition „Machine for Contacting the Dead“ über Musikinstrumente aus einer alten chinesischen Grabstätte kein pseudowissenschaftlicher Versuch, eine längst verklungene rituelle Musik zu rekonstruieren. Dennoch lässt sich die Komposition, die beim Musikfest Berlin mit dem Ensemblekollektiv Berlin zu erleben ist, auch als Beschwörung hören.
Liza Lim im Programm des Musikfest Berlin
In anderen Fällen sind es aber auch fast alltägliche Dinge, die Lims kreative Energie freisetzen. In ihrem Auftragswerk für das US-amerikanische JACK Quartet – „String Creatures“ – konzentriert sich die Komponistin auf das scheinbar simple Phänomen der Saite, wobei wichtig ist, das string im Englischen nicht nur die Saite des Musikinstruments, sondern auch Schnur, Faden, Kette, Leine und darüber hinaus auch eine dynamische Abfolge bedeutet.
Martina Seeber spricht mit Liza Lim über ihre „String Creatures“
Liza Lim ist mit all ihren intuitiven, intellektuellen und kulturellen Perspektivwechseln auf der Suche nach etwas, das sich hinter den Dingen versteckt. Etwas, das alles verbindet: das Reiben eines Fingers über eine Metallsaite mit dem magischen Erlebnis einer Schwingung, den Klang einer Geige mit den Bewegungen einer Pflanze oder das Erlebnis der Zeitlosigkeit mit dem Gesang von Meeresbewohnern: „Ich suche nach einer anderen Art von Schönheit“, bekennt sie, nach einer Schönheit, die „nichts Nostalgisches an sich hat, sondern eine Art unvertrautes Gelände darstellt.“
— Martina Seeber
Der kulturell vielfältige Hintergrund der Komponistin Liza Lim, die 1966 im australischen Perth in eine chinesisch stämmige Familie geboren wurde, hat ihr kompositorisches Schaffen stark geprägt. Indigene Musikpraktiken haben darin ebenso ihren Widerhall gefunden wie asiatische Musikrituale und indische Mystik. Diese verschiedenartigen außereuropäischen Einflüsse verbinden sich mit den Traditionen der zeitgenössischen Avantgarde.
Liza Lim studierte unter anderem an den Universitäten in Melbourne und Queensland. Ende der 1980er Jahre erschienen ihre ersten Kompositionen. Seither entstand ein umfangreiches, vielfältiges Œuvre, das zahlreiche Gattungen vom Orchesterwerk bis zum Solostück umfasst sowie Klangkunst-Installationen von teils exorbitanter Länge. Bisher hat Liza Lim vier Musiktheaterwerke geschaffen, zuletzt die Oper „Tree of Codes“ nach dem avantgardistischen „cut-out“-Roman von Jonathan Safran Foer, die vom Ensemble Musikfabrik im April 2016 uraufgeführt wurde.
Liza Lim hat Kompositionsaufträge von renommierten Orchestern und Institutionen in aller Welt erhalten – etwa vom Los Angeles Philharmonic zur Eröffnung der von Frank Gehry entworfenen Walt Disney Concert Hall im Jahr 2004 – und hat daneben auch experimentelle Programme für mehrere Musikfestivals konzipiert. Sie unterrichtet Komposition an den Universitäten im britischen Huddersfield und in Sydney sowie auf internationalen Kursen in Europa, den USA und China.
Liza Lim
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War es Ausdruck tiefer Religiosität, als Ludwig van Beethoven seine „Missa solemnis op. 123“ komponierte, die er selbst als sein „größtes Werk“ bezeichnete? Er, der Anwalt der menschlichen Vernunft, der jahrzehntelang nicht verhehlte, dass er nichts von klerikaler Hierarchie hielt? Als Beethoven 1819 mit der Arbeit an dem Opus magnum begann, durchlitt er eine schwere Lebenskrise. Er war nahezu taub geworden, und der langwierige Rechtsstreit um die Vormundschaft für seinen geliebten Neffen Karl war verloren. In dieser Situation begab sich der bekennende Verfechter der Aufklärung auf die Suche nach dem Glauben. Er studierte Standardwerke der Weltreligionen und war in engem Kontakt mit dem katholischen Theologen Johann Michael Sailer, den er während seiner Bemühungen um die Erziehung von Karl kennengelernt hatte. Beethoven wollte Trost. In einem Brief an den Widmungsträger seiner „Missa solemnis“, Erzherzog Rudolph, schrieb er 1821: „Gott, der mein Inneres kennt und weiß, wie ich als Mensch überall meine Pflichten […] auf das Heiligste erfülle, wird mich wohl endlich wieder einmal diesen Trübsaalen entreißen.“
Zur Biographie Ludwig van Beethovens (1770-1827) gibt es keinen einfachen Zugang. Dazu gibt es zu viele unser Bild trübende Klischeevorstellungen und Legendenbildungen, zu viele zum Teil aberwitzige Hypothesen und Vermutungen über seine Lebensumstände und auch zu viele offene, unlösbar scheinende Fragen wie zum Beispiel die nach der Identität der „Unsterblichen Geliebten“. Gleichzeitig ist die Fülle des biographischen Materials erdrückend – allein die Befassung mit den Briefen Beethovens ist ein Sonderzweig der Forschung von Achtung gebietender Komplexität –, sodass in der Musikwissenschaft die Klage über die Schwierigkeit, eine Beethoven-Biographie zu schreiben, allgemein ist.
Dabei sind die äußeren Fakten seines Lebens im Grunde schmal. Beethoven wurde am 16. oder 17. Dezember 1770 in Bonn als Sohn eines einfachen Musikers in Verhältnisse geboren, die wir heute mindestens als prekär beschreiben würden. Nach erstem Musikunterricht beim Vater, der versuchte, aus seinem Sohn ein Wunderkind nach dem Vorbild Mozarts zu machen, übernahm 1780 der Bonner Kapellmeister Christian Gottlob Neefe die musikalische Unterweisung Beethovens. Der Schüler entwickelte sich so schnell, dass er von 1782 an in der Bonner Hofkapelle angestellt war. 1787 wurde der Heranwachsende nach Wien geschickt, um von Mozart unterrichtet zu werden. Der Unterricht musste aber bereits nach zwei Wochen abgebrochen werden, weil Beethovens Mutter schwer erkrankt war. Sie starb wenige Wochen nach seiner Rückkehr. Sein Vater versank nun vollends im Alkoholismus und Beethoven übernahm die Verantwortung für die Familie.
1792 reiste Beethoven, ausgestattet mit einem Stipendium des Kurfürsten, ein zweites Mal nach Wien, wo er unter anderem für ein gutes Jahr Unterricht bei Joseph Haydn erhielt, bis dieser zu seiner zweiten Londonreise aufbrach. Als Bonn 1794 französisch besetzt wurde, fielen die Zahlungen des Kurfürsten aus. Von da an lebte Beethoven als freier Musiker in Wien. In den musikliebenden Adelskreisen der Stadt wurde er herzlich empfangen und er hatte mit vielen Adeligen über alle Standesgrenzen hinweg zeitlebens freundschaftlichen Umgang. Dabei machte sich Beethoven zunächst vor allem einen Namen als Klavierspieler und als Improvisator, aber bald schon veröffentlichte er stetig neue Kompositionen. In einer 1803 einsetzenden, zentralen Schaffensperiode entstanden in unbegreiflich dichter Fülle die Meisterwerke, die wir in erster Linie mit seinem Namen verbinden, wie die Symphonien von der Dritten, der „Eroica“, bis zur Achten. Beethoven galt nun als unbestritten bedeutendster Komponist seiner Zeit.
In den späten 1790er Jahren hatte sich bei Beethoven erstmals ein Gehörleiden bemerkbar gemacht, das unaufhaltsam voranschritt und bis 1820 zur völligen Taubheit führte. Von seiner Umwelt zunehmend isoliert entwickelte Beethoven Züge eines exzentrischen Sonderlings. Vergällt wurde dem Komponisten das Leben zudem durch das ständige Feilschen mit seinen Verlegern und durch seinen chronisch schlechten Gesundheitszustand. Von 1815 an kam noch die Sorge um seinen Neffen hinzu, für dessen Erziehung sich Beethoven nach dem Tod seines Bruders verantwortlich fühlte. Trotzdem entstand im letzten Lebensjahrzehnt ein vergeistigtes Spätwerk, das zu den absoluten Höhepunkten der Musikgeschichte zählt. Beethoven starb am 26. März 1827.
Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis, 1820 - Ölgemälde von Joseph Karl Stieler
© Beethoven-Haus, Bonn / Wikimedia Commons
Beethoven, 1804/1805. Ausschnitt aus dem Porträt von Joseph Willibrord Mähler, Public Domain Wiki Commons
Trotz Glaubenssuche und des formulierten Wunschs, „wahre Kirchenmusik“ schreiben zu wollen, bekannte Beethoven, die „Missa solemnis“ könne auch als Oratorium aufgeführt werden. Dies geschah schließlich am 26. März (greg.: 7. April) 1824 in St. Petersburg auf Betreiben des russischen Gesandten in Wien, Fürst Nikolaus Galitzin. In der österreichischen Hauptstadt, in der aufgrund Metternichs Zensurbestimmungen die Aufführung lateinischer Kirchenmusik nur im liturgischen Gebrauch erlaubt und im Konzertsaal verboten war, konnte man einen Monat später nur die mit deutschem Text versehenen Teile „Kyrie“, „Credo“ und „Agnus die“ hören – als „Drei große Hymnen“ und mit Ausnahmegenehmigung der kaiserlichen Behörde. Doch gehört die „Missa solemnis“ überhaupt in den Konzertsaal? Für Beethoven dürften konzertante Aufführungen nur ein Kompromiss gewesen sein. Denn ihm ging es darum (wie er 1824 seinem engen Freund Andreas Streicher schrieb), „bei den Singenden als bei den Zuhörern religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“ mit einer Musik, die unter dem persönlichen Eindruck des ehrfürchtigen Erschauerns angesichts des Göttlichen entstanden war.
John Eliot Gardiner
John Eliot Gardiner dirigiert beim Musikfest Berlin die „Missa Solemnis“
© Sim Canetty Clarke
Allerdings beschwört die „Missa solemnis“ eine vom Humanitätsideal getragene Religiosität, die zu ihrem Entstehungszeitpunkt bereits in weite Ferne gerückt war – ganz ähnlich wie die „Neunte Symphonie“ eine infolge der Aufklärung sich abzeichnende Humanität feiert, die nie gesellschaftliche Realität wurde. Nach der Französischen Revolution war die katholische Kirche in einer schweren Krise, da unter Befehl des jungen Generals Napoleon Bonaparte der Kirchenstaat um Rom besetzt, der greise Papst Pius VI. entführt und der Stadt das französische Verwaltungssystem übergestülpt wurde. Auch der neue Papst Pius VII., der in Venedig gewählt werden musste, geriet 1809 in Gefangenschaft. Wieder zog der inzwischen zum Kaiser gekrönte Napoleon im Hintergrund die Fäden, der im gleichen Jahr mit der Benennung von Fürst Metternich als Außenminister das restriktive Metternich-Ära einleitete. Hatte man lange zahlreiche Kirchenfürsten in den Reihen der Aufklärer finden können, wie etwa Beethovens ersten Dienstherrn, den Kurfürsten und Erzbischof von Köln Maximilian Franz, war seit der nach dem Wiener Kongress eingesetzten Restauration – vor allem nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 – für alles, was auch nur entfernt mit revolutionärem Gedankengut zu tun hatte, kein Platz mehr. Als Beethoven die „Missa solemnis“ vollendete, war die einst realistische Option eines von aufgeklärter Humanität geprägten Christentums also längst Utopie geworden. Einen „idealen“ Aufführungsort dieses Werks hat es daher wohl nie gegeben.
— Harald Hodeige
Die „Missa solemnis“ im Programm des Musikfest Berlin
Harald Hodeige
Harald Hodeige arbeitet für Symphonieorchester, Konzerthäuser, Musikfestivals und Rundfunkanstalten als Redakteur, Autor und Referent für Konzerteinführungen. Lange Jahre als Programmheftredakteur beim NDR tätig, betreut er seit 2018 redaktionell die Audi Sommerkonzerte in Ingolstadt.
Martina Seeber
Martina Seeber, in Stuttgart lebende Rheinländerin, ist freie Autorin, Moderatorin und Redakteurin für Neue Musik beim SWR.
Douglas W. Shadle
Douglas W. Shadle unterrichtet Musikwissenschaft an der Vanderbilt University, Nashville (USA). Sein neuestes Buch „Antonín Dvořák’s New World Symphony“ ist bei Oxford University Press erschienen.