Deutschlands koloniale Verflechtungen im Pazifik

Anja Schwarz

Dieses Essay ist ein Auszug aus einem gleichnamigen Vortrag, den Anja Schwarz, Professorin für Cultural Studies an der Universität Potsdam, im Rahmen der Ausstellung RAINBOW SERPENT (VERSION) des Künstlers Daniel Boyd im Gropius Bau hielt. In dem Vortrag sprach Schwarz über Deutschlands Kolonien im Pazifik und über die Rolle deutschsprachiger Akteur*innen in Siedlerkolonien in Australien.

Dieser Text thematisiert koloniale Gewalt. Menschen, die zu den First Nations oder Indigenen Gemeinschaften des Great Ocean gehören, werden darauf hingewiesen, dass Textpassagen und begleitende Werkabbildungen verstorbene Personen erwähnen, bzw. darstellen.

Wenn ich eingeladen bin, im Kontext von Daniel Boyds Ausstellung „RAINBOW SERPENT (VERSION)“ über die kolonialen Verflechtungen Deutschlands im Pazifik nachzudenken, möchte ich zunächst die Kudjala, Ghungalu, Wangerriburra, Wakka Wakka, Gubbi Gubbi, Kuku Yalanji, Yuggera und Bundjalung People, zu denen Daniel Boyd gehört, und ihre fortdauernde Beziehung zu Country namentlich würdigen. Ebenso würdigen möchte ich die Gadigal und Wangal People auf deren Country Daniel Boyd künstlerisch arbeitet.

Mit diesem einleitenden Statement habe ich versucht, Teile des in australischen institutionellen Kontexten üblichen Acknowlegement of Country ins Deutsche zu übersetzen. Für ein solches Acknowledgement gibt es keine Rezepte oder strikten Vorgaben [1]. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Country (im weitesten Sinne: das Land,  auf das man sich bezieht), möglichst genau benannt und die besondere Beziehung von First Nations [2] zu Country anerkannt werden sollte. Diese Form der Verortung wird als generativ für den Austausch von Wissen verstanden, der auf oder über Country stattfindet. Die*der Sprecher*in eines solchen Acknowledgements ist darüber hinaus eingeladen, herauszuarbeiten, wie sich der Gesprächsanlass auf Country bezieht.

In einem gewissen Sinne entspricht diese Einladung zu Relationalität auch dem Vorhaben meines kurzen Beitrags. Vielleicht scheint es zunächst seltsam, die Bilder eines australischen First Nations Künstlers zu deutscher Kolonialgeschichte im Pazifik in Bezug zu setzen. Die sogenannten deutschen Schutzgebiete im Pazifik schlossen Australien und die Pazifikinsel Vanuatu, wo ein Teil der Familie Daniel Boyds herkommt, nämlich gerade nicht mit ein. Anstatt also über deutsche Kolonien zu sprechen, möchte ich den Relationen, Verflechtungen oder Verstrickungen Deutschlands im pazifischen Raum nachspüren, die sich mir bei der Betrachtung der Ausstellung erschlossen haben. Diese Relationen gehen weit über die Zeit des formellen Kolonialismus zwischen 1884 und 1914 hinaus. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reisten nämlich deutsche Seeleute, Soldaten, Zeichner und Wissenschaftler regelmäßig in den Pazifik. Seit dem 19. Jahrhundert waren Handelsvertreter verschiedener deutscher Staaten dauerhaft in der Region präsent; und wir sollten nicht vergessen, dass unter anderem deutsche Missionsgesellschaften einen verheerenden Einfluss auf ozeanische Wissenstraditionen hatten.

Teller

Daniel Boyd,  Untitled (FDWHBFTU), 2022, © Gropius Bau, Foto: Luis Kürschner

Daniel Boyd, Untitled (FDWHBFTU), 2022

© Gropius Bau, Foto: Luis Kürschner

Daniel Boyds Version eines Tellers aus dem Nachlass von Robert Louis Stevenson, der im Museum der University of Sydney bewahrt wird, kann als Inspiration für dieses Vorhaben stehen. Stevenson, der populäre Autor von Romanen wie Die Schatzinsel lebte ab 1890 in Apia auf Samoa, und der Teller gehörte dort zu seinem Haushalt. Nicht nur aufgrund von Boyds spezifischer Maltechnik, sondern auch aufgrund des Dargestellten bricht der Teller mit dem, was wir von Kunst über und aus dem Pazifik erwarten: Anstelle von für uns exotischen Blumen wie Hibiskus oder Tiare sehen wir einen viktorianischen Alltagsgegenstand mit einem dezidiert englischen Blumenmotiv. Er wirft die Frage auf, wie dieses Stück England nach Samoa kam und welche Konsequenzen sich daraus für die Gegenwart ergeben. Übersetzt in das Vorhaben meines Vortrags: Was bedeutet es, in Relation zu einigen von Boyds Bildern, Deutschlands kolonialer Rolle im Pazifik nachzuspüren?

Mai

Daniel Boyds Bild von Mai, dem ersten polynesischen Mann, der Großbritannien besuchte, basiert auf einem großformatigen Portrait des britischen Malers Joshua Reynolds. Mai reiste 1774 mit Kapitän James Cook auf dessen zweiter Weltumsegelung von den Gesellschaftsinseln nach London. Zuvor hatte er ab 1767 auf Tahiti die oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Europäern und Polynesiern miterlebt, die aus der imperialen Expansion der konkurrierenden Großmächte Frankreich und Großbritannien im Pazifik resultierten.

Während seiner Zeit in London wurde Mai zu einer Berühmtheit. Es gab Gemälde von und Theaterstücke über ihn. Zeitungen berichten von jedem seiner Abenteuer. Mais Ruhm blieb allerdings nicht auf Großbritannien beschränkt. Im Rahmen einer allgemeinen Südseebegeisterung wurde er zum Gegenstand der Neugier und Unterhaltung für ganz Europa. Es handelt sich bei Mais Reise und deren kulturellen Nachwirkungen also keinesfalls nur um eine pazifisch-britische Geschichte. Auch hier in und um Berlin hat sie Spuren hinterlassen.

Zunächst jedoch: Man erwartet nicht unbedingt, dass die Kunst der Aufklärung einen Pacific Islander als Mitglied der Londoner High Society in den Fokus rückt. Tatsächlich aber war der Pazifik ein, wenn nicht der zentrale geographische Raum, an dem sich die Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Philosophie, Literatur und Kunst abarbeitete. In diesem Zeitraum definierte sich die europäische imperiale Expansion als wissenschaftliches und philanthropisches Vorhaben neu, und obwohl es weiterhin um geopolitischen Einfluss ging, wurden Seereisen in den Pazifik nun auch im Namen der aufgeklärten Ideale von Wissen und Freundschaft propagiert. Im deutschsprachigen Raum war die Rezeption des Pazifiks stark mit den Naturgelehrten Johann Reinhold Forster und Georg Forster verbunden, die 1773 mit James Cook in den Pazifik aufbrachen, eben jener Reise, die Mai schließlich nach London bringen sollte. Die Spuren dieser Reise, vermittelt durch den Ruhm Mais und das Wirken der Forsters, wirken bis heute nach.

Wenn wir uns beispielsweise heute um die Provenienzen der Sammlungen im Humboldt Forum streiten – darunter die beeindruckenden Boote aus dem Pazifik – dann sollten wir auch bedenken, dass die ältesten polynesischen Objekte bereits im Anschluss an die Forsterreise dort hinkamen. Das heutige Humboldt Forum befindet sich an der Stelle des ehemaligen Berliner Schlosses, das zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert die sogenannte „Kunstkammer der Kurfürsten und Könige von Preußen-Brandenburg beherbergte. Sie enthielt naturhistorische Objekte, wissenschaftliche Instrumente, Kunstwerke und Artefakte aus aller Welt, die später den Grundstock der Berliner Museen bilden sollten. Für die Berliner Adeligen hatte die Kunstkammer einen hohen repräsentativen Wert: Unmittelbar neben dem zweigeschossigen großen Festsaal des Schlosses gelegen, wurden sie von von der königlichen Familie und ihren Gästen besucht, um die dort ausgestellten Kuriositäten zu bestaunen. In einem Katalog der Kunstkammer aus dem Jahr 1805 wird „eine schön geflochtene Fußtapete aus dem Audienzzimmer der Königin Oberea [Purea]“ aufgeführt, „worauf [James] Cook und [Johann Reinhold] Forster gesessen haben.“ [3] Die Tapa-Matte befindet sich noch heute im Besitz des Ethnologischen Museums Berlin. Ihre Anwesenheit in der Kunstkammer des Schlosses bereits 1805, zusammen mit mindestens vier weiteren tahitianischen Schätzen, zeugt von der langen Geschichte deutschsprachiger Pazifikfaszination, aber auch von der langen Geschichte der Extraktion von Wissen und materieller Kultur aus dieser Region.

Welche zentrale Stelle der Pazifik zur Zeit der Aufklärung für gelehrte Konversationen unter Adeligen und Gelehrten einnahm lässt sich auch anhand von zwei weiteren Beispielen aus unserer Region erahnen: König Friedrich Wilhelm II. ließ 1794 für sich und seine Mätresse Wilhelmine Encke ein Lustschloss auf der Pfaueninsel errichten. Tahiti, nur 20 Jahre zuvor​​„entdeckt, diente als Inspiration für das Otaheite-Kabinett des Gebäudes. Und bereits 1775 hatte der Fürst Franz von Anhalt-Dessau eine Reihe von Kulturgegenständen aus dem Pazifik in seinem Schloss in Wörlitz zur Schau gestellt. Er hatte sie von den Forsters direkt im Anschluss an ihre Reise erhalten, die sich mit diesen Geschenken um die Gunst adeliger Unterstützung für weitere Vorhaben bemühten.

Meine eigenen Arbeiten über den Pazifik, insbesondere die gemeinsam mit Lars Eckstein durchgeführten Forschungen über das Navigationswissen und die Navigationspraktiken auf den Gesellschaftsinseln anhand einer Karte der Region, die Tupaia, ein Zeitgenosse und Landsmann Mais, auf Cooks erster Reise angefertigt hatte, profitieren direkt von diesem Erbe [4].  Bedeutende Wissensbestände über den Pazifik, wie die Aufzeichnungen von Johann Reinhold Forster, befinden sich hier in Berlin. Während ich diese Archive ohne großen Aufwand besuchen kann, ist Menschen aus Tahiti, Samoa oder Vanuatu dieser direkte Zugang verwehrt. Die Frage, wie wir mit den Verflechtungen Deutschlands im Pazifik umgehen, stellt sich mir also in meiner eigenen Arbeit ebenso wie bei der Betrachtung von Daniel Boyds Bild von Mai.

Daniel Boyd, Untitled (RMUFWM), 2022, Courtesy: der Künstler und Roslyn Oxley9 Gallery, Sydney, Foto: David Suyasa

Daniel Boyd, Untitled (RMUFWM), 2022

Courtesy: der Künstler und Roslyn Oxley9 Gallery, Sydney, Foto: David Suyasa

Joseph Banks

Daniel Boyd, Sir No Beard, 2009, courtesy: the artist and Roslyn Oxley9 Gallery, Sydney, photo: Jessica Maurer

Daniel Boyd, Sir No Beard, 2009

Courtesy: der Künstler und Roslyn Oxley9 Gallery, Sydney, Foto: Jessica Maurer

Es gibt eine offensichtliche Verbindung zwischen dem Mai-Gemälde und Daniel Boyds Portrait von Joseph Banks als Sir No Beard: Der britische Naturforscher Joseph Banks lernte Mai bereits 1769 auf Tahiti kennen, und er fungierte während Mais Aufenthalts in London als dessen Gastgeber. Tatsächlich trägt Mai auf dem Porträt von Joshua Reynolds aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kleidungsstück, das Banks selbst aus Tahiti mitgebracht hatte: ein Tapa-Tuch des gelehrten Navigators Tupaia, der bereits ein paar Jahre vor Mai mit Cook und Banks nach Europa hatte reisen wollte, aber unterwegs verstarb.

Wie Boyds Bild von Mai basiert auch der hier dargestellte Banks auf einem zeitgenössischen Porträt. Als Thomas Phillips ihn im Jahr 1810 malt, zeigt er Banks auf dem Höhepunkt seiner Macht als Präsident der Royal Society, in die er 1778 gewählt worden war und der er über 40 Jahre lang vorstand. Banks beriet König Georg III. bei der Anlage des Königlichen Botanischen Gartens in Kew. In dieser Funktion schickte er Entdecker und Botaniker in viele Teile der Welt, wodurch Kew Gardens zum wohl bedeutendsten botanischen Garten der Welt wurde. Er unterstützte mehrere berühmte Expeditionen, darunter die von George Vancouver in den nordöstlichen Pazifik und die Reisen von William Bligh, der Brotfruchtbäume aus dem Südpazifik auf die karibischen Inseln verpflanzte, wo sie billige Nahrung für versklavte Menschen liefern sollten. Banks setzte sich für die britische Besiedlung von New South Wales und die Kolonisierung Australiens sowie für die Einrichtung von Botany Bay (Sydney) als Siedlung von Strafgefangenen ein und beriet die britische Regierung grundsätzlich in allen australischen Angelegenheiten.

Boyd zeigt diesen Banks und seine Macht, und er zeigt ihn als Pirat, der sich den Besitz anderer gewaltvoll aneignet. Konzentrieren möchte ich mich jedoch auf den enthaupteten Kopf, der neben Banks in einem Glasbehälter schwimmt. Aus den Ausstellungstexten weiß ich, dass sich Boyd auf den 1802 von der britischen Kolonialmacht hingerichteten Widerstandskämpfer Pemulwuy bezieht, der enthauptet und dessen Kopf in Spiritus an Banks nach London geschickt worden war. Wenn das Bild nun aber für einige Zeit in Deutschland hängt, erinnert es unweigerlich auch an einen früheren Handel mit Human Remains (geraubten Verstorbenen) der australischen First Nations, an dem Banks beteiligt war. Und dieser Handel ging nach Göttingen.

In seiner Rolle als Förderer der Naturgeschichte und Experte zu Australien erhielt Banks 1787 einen Brief des Göttinger Medizinprofessors Johann Friedrich Blumenbach. Blumenbach arbeitete zu diesem Zeitpunkt an einer Taxonomie des Menschen, die auf dem Vergleich unterschiedlicher Merkmale menschlicher Schädel gründen sollte. Blumenbach schrieb Banks also mit der Bitte, ihm die Köpfe von Menschen aus Australien und Tahiti zu besorgen. Banks selbst war dieses Anliegen sicherlich nicht fremd, hatte er doch bereits auf seiner Weltumsegelung mit Cook den Kopf eines Menschen aus Aoteara Neuseeland als sogenannte Kuriosität mitgenommen.

Meines Wissens ist Blumenbach allerdings der erste Wissenschaftler, der Banks um einen Schädel zu Forschungszwecken bittet. Das große Interesse rassifizierender Forschung an Human Remains setzte nämlich erst im neunzehnten Jahrhundert ein und stützte sich auf Blumenbachs Überlegungen, die er bis zu seinem Tod 1840 mit vergleichenden Studien an 245 Schädeln und Schädelfragmenten unterlegte. Erst Blumenbachs Arbeiten in der vergleichenden Anatomie legitimierten die Forschung an Human Remains als wissenschaftliche Methode und schafften die logistische Infrastruktur des des systematischen Leichenraubens. Durch ihn wurden die Körper Indigener Menschen zu begehrten Forschungsobjekten. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Kopf Pemulwuys 1802 nach London geschickt werden sollte, hat also hier ihren Ursprung.

Banks machte sich gleich Ende 1787 im Namen Blumenbachs auf die Suche und vermittelte Schädel, die in anatomischen Sammlungen und privaten Schränken in ganz Großbritannien lagerten. Aber erst im November 1793, also fast drei Jahre später, wurde der Kopf eines Menschen aus Australien per Diplomatenpost aus London nach Göttingen geliefert. Es handelte sich dabei – so Banks – um den Kopf „eines männlichen Eingeborenen aus Neuholland, der in unserer Siedlung Sydney Cove starb“. Einige Monate später erhielt Blumenbach von Banks auch den erbetenen Kopf einer „Tahitianerin“ [5].

Wer war der Mann aus Botany Bay? Neben seinem Todesort („in unserer Siedlung“) lässt sich auf Grundlage der Zeichnungen Blumenbachs von seinem Schädel feststellen, dass es sich um einen jungen Mann zwischen 16 und 20 Jahren gehandelt haben muss. Australische Historiker*innen vermuten auf Grundlage dieser Daten, dass es sich um Baludarri gehandelt haben könnte, dessen Geschichte der von Pemulwuy ähnelt: Baludarri war ein Burramatagal-Mann vom Parramatta Fluss nahe der Strafgefangenensiedlung von Port Jackson und der mit den britischen Offizieren erfolgreich Fischhandel betrieb. Im Juni 1791 kam dieser Handel abrupt zum Erliegen, als einige Sträflinge mutwillig Baludarris Kanu zerstörten: Seine Wut, so beschreiben es die Tagebücher der Zeit, „war unvorstellbar, und er drohte, sich auf seine Weise an allen Weißen zu rächen“. In den kommenden Monaten verletzte Baludarri einen Sträfling durch Speerstöße und organisierte eine Gruppe bewaffneter Männer, die bis an den Rand von Port Jackson vordrangen.

Im Dezember 1791 erkrankte Baludarri schwer und starb kurz darauf auf dem Weg ins Krankenhaus im Beisein des Stabsarztes White. Nach europäischen Quellen wurde er nicht, wie unter den Eora üblich, verbrannt, sondern auf dem Gelände der Gouverneursresidenz beigesetzt. War es also Baludarris Kopf, den Blumenbach 1793 von Banks erhielt und der bis heute in den Göttinger Universitätssammlungen liegt? Auch wenn es schwierig ist, diese Informationen aus Texten kolonialer Akteure zusammenzutragen, so ist dies doch ein zentraler Schritt zur Rehumanisierung der geraubten Toten. Die dafür dringend notwendige Provenienzforschung wird derzeit im Rahmen eines Göttinger Forschungsprojekts zur Identifizierung der Human Remains von ca. 1.300 Individuen aus kolonialen Kontexten in Afrika, Ozeanien, Asien und den Amerikas in den Universitätssammlungen unternommen. Eine andere, nicht minder wichtige Form der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte stellen die Proteste von Studierenden aus dem Sommer 2020 dar, die sich gegen die unkritische Erinnerung an Blumenbach auf dem Campus der Universität wandten und in einem symbolischen Akt eine Büste Blumenbachs waagerecht hinlegten.

 

Robert Louis Stevenson

Zum Abschluss möchte ich noch einmal zu Daniel Boyds Version des Tellers aus dem Nachlass von Robert Louis Stevenson zurückkommen. Stevenson ist den meisten von uns als Schriftsteller ein Begriff. Ich denke aber, dass die wenigsten wissen, dass er sich nach seiner Ankunft in Samoa schnell für lokale Politik interessierte und sich vehement für die Anliegen des Königsanwärters Mata‘afa Iosefu gegenüber den um Oberherrschaft über die Insel ringenden Kolonialmächten USA, Großbritannien und Deutschland eingesetzt hat. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Stevenson eine beißende Kritik mit dem Titel A Footnote to History. Eight Years of Trouble in Samoa (1892). Deutschland drohte ihm im Anschluss an die Veröffentlichung des Textes offen mit Verhaftung und Deportation von Samoa. Die Publikation einer deutschsprachigen Übersetzung von A Footnote to History wurde im Kaiserreich verboten und sogar die englische Ausgabe als „antideutsches Pamphlet“ konfisziert und mit einer Geldstrafe belegt.

Selbstverständlich war Stevenson selbst in seinem Blick auf Samoa kolonial geprägt. Dennoch war er ein Autor, der gegen die Kolonialmächte agitierte.  So schreibt der bis heute bekannteste postkoloniale samoanische Autor Albert Wendt über Stevenson: 

Als ich an der Universität über die samoanische Unabhängigkeitsbewegung recherchierte, stieß ich auf A Footnote to History. Für mich ist dies das wichtigste Werk von Stevenson geblieben. Es zeigte seine scharfsinnige und einfühlsame und enthusiastische Unterstützung für unseren Kampf gegen die ausländischen Mächte und den Kolonialismus. [6]

Sein eigenes literarisches Werk, so Wendt, sei in Teilen ein „Tribut an Stevenson“ und er versuche, Stevenson für Samoa zurückzufordern. Für mich unternimmt Boyds Teller etwas Ähnliches: Er fordert Stevenson, ebenso wie Banks und Mai, für den Pazifik zurück. Der Teller aus Samoa mit dem unerwartet englischen Blumenmotiv lädt dazu ein, die historisch-kolonialen Verstrickungen Großbritanniens, aber auch Deutschlands, im Pazifik und in Australien zu erkennen und ihnen nachzuspüren. Als Literaturwissenschaftlerin finde ich ähnliche Spuren in der lebendigen Gegenwartsliteratur des Pazifiks und Australiens, die bevölkert ist von deutschen Kolonialfiguren. Sei es bei Albert Wendt und Sia Figiel aus Samoa, bei Selina Tusitala Marsh (mit kulturellen Wurzeln in Samoa, Tuvalu und Aotearoa Neuseeland), bei Teresia Teaiwa aus Kiribati – oder im jüngsten preisgekrönten Roman The Yield der Wiradjuri-Schriftstellerin Tara June Winch aus Australien.

Ihnen zuzuhören – wie auch den Relationen nachzuspüren, zu denen Daniel Boyds Bilder einladen – bedeutet für mich zu lernen, was es heißt, mit dem Pazifik verflochten zu sein.

Anja Schwarz ist Professorin für Cultural Studies an der Universität Potsdam. Sie forscht zu kolonialen Erinnerungskulturen, pazifischen Navigationstraditionen und australischem Siedlerkolonialismus. In einem deutsch-australischen Team untersucht sie derzeit die in Berliner Institutionen bewahrten Sammlungen preußischer Naturkundler. Diese waren Mitte des 19. Jahrhunderts in den australischen Kolonien tätig.

 

Endnoten

Siehe beispielsweise „Acknowledgement of Country.” Common Ground. 
https://www.commonground.org.au/article/acknowledgement-of-country

First Nations (in Australien) ist ein Oberbegriff und meint Menschen, die familiäre Verbindungen zu den ersten menschlichen Bewohner*innen Australiens haben: Aboriginal und Torres Strait Islander Nations. Diese setzen sich aus vielen verschiedenen Indigenen Gemeinschaften zusammen, die jeweils ihre eigenen Sprachen, Kulturen und Bräuche haben.

3 Henry, Jean. Allgemeines Verzeichnis des Königlichen Kunst-, Naturhistorischen und Antiken-Museums, Berlin 1805. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Ve, Sekt. 1, Abt. XV, Nr. 31, Bd. 1, S. 615.

4 Lars Eckstein & Anja Schwarz. „The Making of Tupaia’s Map: A Story of the Extent and Mastery of Polynesian Navigation, Competing Systems of Wayfinding on James Cook’s Endeavour, and the Invention of an Ingenious Cartographic System,” The Journal of Pacific History, vol. 54, no. 1 (2019), S. 195. https://doi.org/10.1080/00223344.2018.1512369

Turnbull, Paul. „Enlightenment Anthropology and the Ancestral Remains of Australian Aboriginal People,” in Voyages and Beaches. Pacific Encounters, 17691840, herausgegeben von Alex Calder, Jonathan Lamb und Bridget Orr. Hawaii: University of Hawaii Press 1999, S. 202-225. https://doi.org/10.1515/9780824865511-013

6 Wendt, Albert. „Tusitala. The Legend, the Writer & and the Literature of the Pacific,“ Vorwort zu Robert Louis Stevenson. His Best Pacific Writings. Brisbane: The University of Queensland Press 2004, S. 9–11, hier S. 10 (Übersetzung: Anja Schwarz).