Klangkunstausstellung
Here On the Edge of the Sea We Sit © Berliner Künstlerprogramm des DAAD / Ting-Jung Chen
Flüstert die Macht? Wie werden Territorien kommuniziert? Kann kollektive Identität sinnlich wahrgenommen werden? Die taiwanesische Künstlerin Ting-Jung Chen geht diesen fundamentalen Fragen in ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland nach und entwirft dabei ein ebenso konzeptuelles wie eindringliches Szenario. In der Ausstellung schwingt das Echo politischer Reden und öffentlicher Denkmäler mit. Sie bietet eine kritische Perspektive auf die Wirkweisen, in denen Narrative, Macht und Identität nicht nur konstruiert, sondern in öffentlichen wie privaten Räumen auch ausgedrückt und ausgefochten werden.
Chensvielschichtige Ausstellung „Here on the Edge of the Sea We Sit“ erforscht das Zusammenspiel zwischen Klang und den davon hervorgerufenen Sinneseindrücken. Sie legt dabei besonderen Fokus darauf, wie Machtstrukturen diese Faktoren ausnutzen, um ihre Kontrolle zu festigen. Zugleich hinterfragt Chen die Systeme und Erzählungen, die geteilte Geschichte definieren. In ihrer Arbeit setzt sie sich kritisch mit den „idealen“ Erzählungen und Bildern auseinander, die häufig in der politischen Rhetorik oder bei Denkmälern Verwendung finden. Diese idealisierten Formen, verallgemeinert und abstrakt, werden von Machthabenden propagiert und dienen dazu, die Wahrnehmung und die Weitergabe von Information zu beeinflussen, was letztlich die kollektive Identität und das nationale Selbstverständnis prägt.
Beim Betreten der Ausstellung treffen die Besucher*innen unmittelbar auf große Objekte, die sich in unterschiedliche Richtungen neigen. Sie erinnern an gestrandete Bojen und evozieren ein beinahe post-apokalyptisches, dystopisches Szenario. Die massiven, architektonischen Skulpturen, die in einer einheitlichen Musterung aus Grautönen gehalten sind, werden von Kabeln lose miteinander verbunden. Von ihrer ursprünglichen Funktion als Grenzmarkierungen und Überwachungspunkte scheinbar entkoppelt, entpuppen sich die Ortsangaben, die sie vom Meer aus übermitteln, als willkürlich. Von dem für sie vorgesehenen Kontext weggetrieben, nehmen sie den fluiden, unspezifischen Charakter von Monumenten und Territorien an. Die Bojen, die aus weißem Papier und Zeitungen mit unterschiedlichen ideologischen, sprachlichen und geografischen Hintergründen hergestellt wurden, fungieren als visuelle Metaphern für die Verflechtungen konkurrierender Ideologien. Die Schichtung und Verdichtung des Materials erzeugen eine verkrustete Oberfläche, die Anklänge an andere Zeiten hervorruft. Gleichzeitig evozieren sie Wellen und Schleifen von Zeit, die unser Verständnis von linearen Abläufen infrage stellen. Die Beschaffenheit des Materials erweckt den Eindruck, diese überdimensionalen Skulpturen bestünden aus schweren Baustoffen wie Zement oder Granit, und erinnert an Waffen, Bunker oder temporäre Schutzräume. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass die Skulpturen vielmehr aus fragilem Pappmaché geformt wurden.
Aus dem Inneren dieser dysfunktionalen, identitätslosen Objekte ertönen unterschiedlich laute Klänge. Die hohlen Papierstrukturen, die auch als große Resonanzräume zur Verstärkung einzelner Klangfrequenzen dienen, senden widerhallende, überlagerte, zusammenklingende Töne aus, die gelegentlich auch unstimmig klingen. So entsteht ein kryptischer Dialog im Raum, der vage Signale aus der Vergangenheit ins Gedächtnis ruft und die Spannung zwischen der physischen Anwesenheit der Skulpturen und den nicht greifbaren, sich verändernden Klängen, die sie umgeben, verstärkt. Die komplexe interaktive Klanginstallation aus öffentlichen Reden von politischen Persönlichkeiten füllt den gesamten Raum und verbindet somit alle Teile der Ausstellung miteinander. Indem sie mit unterschiedlichen Empfangsarten und Wahrnehmungsmöglichkeiten experimentiert, untersucht Chen das dynamische Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Hörerfahrungen, die die Weitergabe von Informationen auf ihre jeweiligen Weisen prägen. Über Kopfhörer können alle Besucher*innen ihren eigenen persönlichen Soundtrack anhören, der durch den einzigartigen Weg jedes*r Einzelnen durch die Ausstellung entsteht. Diese intime Erfahrung vermischt sich mit Klängen, die über Lautsprecher im Raum abgespielt werden, und schafft so eine sensorische Verflechtung, die persönliche und kollektive Räume des Hörens miteinander verbindet.
Im vorderen Ausstellungsbereich verkörpern Ting-Jung Chens raumnehmende Bojenskulpturen den überwältigenden, monumentalen Charakter offizieller Erzählungen über kollektive Identität. Im hinteren Teil der Ausstellung werden jedoch die Erfahrungen von Überlastung in ein sensorisches Reich jenseits der greifbaren und materiellen Welt übertragen. Hier betreten die Besucher*innen einen dunklen Raum, der von drei straff von der Decke gespannten, schwarzen LKW-Planen abgetrennt wird. Während sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, wird der zunächst über Kopfhörer wahrgenommene Ton von einem zunehmenden Rauschen überlagert und ein helles, den Raum plötzlich durchflutendes Licht lässt die Besucher*innen kurz erblinden. Mit dem vorübergehenden Verlust der Sehkraft wechselt das Rauschen zunächst zu einer einzigen Frequenz und wird schließlich zur Stille. Nach dem hellen Lichtblitz verweilen sichtbare Spuren invertierter Farben in der Dunkelheit.
Diese Mischung aus Reizüberflutung und Reizentzug führt dazu, dass die Besucher*innen sich sofort ihrer Sinne bewusst werden. Sie werden harschen Kontrasten und überbordenden Reizen ausgesetzt, die sich in den massiven Skulpturen und Auszügen aus den ideologischen Reden im vorderen Bereich widerspiegeln. Durch die Fluidität des Klangs entsteht ein „Gegenmonument“, welches die Handlungsmöglichkeiten der Besucher*innen aktiviert und ein Rauschen und Dissonanzen jenseits der harmonischen Systeme erzeugt. Auf diese Weise werden Klänge und Ereignisse mehrfach übersetzt und in erweiterte, plurale Erzählungen verwandelt. Dadurch werden mehrere Zeitebenen geöffnet und alternative Formen der körperlichen Ermächtigung sowie die verschiedenen Arten von Grenzziehung ins Bewusstsein der Besucher*innen gebracht.
EineVeranstaltung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele / MaerzMusik
Mit freundlicher Unterstützung des Kultusministeriums von Taiwan, der Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland und der National Culture and Arts Foundation, Taiwan
Ting-Jung Chen ist 2024/25 Musik-&-Klang-Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Die Ausstellung ist während ihres Stipendiumaufenthaltes in Berlin entstanden und wurde von Sebastian Dürer und Natalie Keppler kuratiert. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD wird gefördert aus Mitteln des Auswärtigen Amtes und des Berliner Senats.