Über die Werke

Im Rahmen von MaerzMusik 2025 finden vier mehrteilige Konzerte im silent green statt. Erfahren Sie auf dieser Seite mehr über die einzelnen Werke anhand von Texten der Komponist*innen selbst, ausgewählten Zitaten, assoziativen Notizen oder kurzen Beschreibungstexten.

Mazen Kerbaj: With a Little Help From My Friends I: Lungless

Mitte der 1990er-Jahre studierte ich an der libanesischen Akademie der Schönen Künste Illustration und Grafikdesign und veröffentlichte nebenbei Comics in regionalen Magazinen. In dieser Zeit schenkte mir mein Freund, der Gitarrist Sharif Sehnaoui, eine Trompete, für die er keine Verwendung hatte. Obwohl ich keine Erfahrung mit dem Spielen eines Instruments hatte, entwickelte ich bald einen ausgesprochen persönlichen Zugang zur Trompete. Ich kreierte meine eigenen Techniken, erfand bisweilen neue Spielweisen und benutzte manchmal sogar Alltagsgegenstände, um das Instrument zu präparieren und umzugestalten, wodurch sich sowohl seine Form als auch sein Klang radikal veränderten.

Drei Jahrzehnte später, nach einer einjährigen Auszeit im Jahr 2024, lege ich die Trompete beiseite und setze mich mit zwei neuen Instrumenten auseinander, die beide von engen Freunden erfunden wurden: dem verstorbenen Musiker und Instrumentenbauer Michel Waisvisz und dem Klangkünstler Tarek Atoui. Meine Forschungen resultierten in zwei neuen Solowerken, „From One War to Another“ und „Lungless“. Obwohl sich die Kompositionen in ihrer Form radikal voneinander unterscheiden, versuche ich in beiden Werken, das Trauma der zahlreichen Kriege heraufzubeschwören, die ich von meiner Kindheit in Beirut bis zu meinen heutigen Tagen in Berlin durchlebt habe – zwei Städte, die einst von Teilung und Konflikten erschüttert wurden.

Für sein Projekt „Reverse Collection“ lud der libanesische Klangkünstler Tarek Atoui im Jahr 2015 mehrere Improvisationsmusiker*innen aus Berlin und Beirut ein, sich mit der Sammlung alter, folkloristischer und ethnischer Instrumente im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem auseinanderzusetzen. Ich war einer der Gastmusiker*innen und verbrachte zwei Tage damit, meine selbstentwickelten Techniken und Präparationen für die Trompete auf eine Reihe von alten Blasinstrumenten aus verschiedenen Kulturen der Welt anzuwenden. Auf Grundlage der Aufnahmen aus dieser ersten Phase des Projekts schuf Atoui später neue Instrumente, die im Jahr 2018 in der Tate Modern vorgestellt wurden, wo sie von einer weiteren Gruppe von Improvisationsmusiker*innen aus London gespielt wurden.

Im Jahr 2020 lud Atoui wiederum Musiker*innen aus Berlin ein, diese neuen Instrumente bei einer privaten Veranstaltung in der kleinen Stadt Güldenhof in Brandenburg zu spielen. Als Teil des Ensembles wurde ich Zeuge der Resultate eines Prozesses, an dem ich fünf Jahre zuvor beteiligt gewesen war. Besonders angetan war ich von „Les Trompes de Poutine“ („Putins Hörner“), einem Instrument, das Thierry Madiot für Atoui gebaut hatte. Es besteht aus fünf Röhren, die durch Luftventile gesteuert werden und Klänge erzeugen, die denen der von Atoui entworfenen Instrumenten verblüffend ähnlich sind. Im Jahr 2022 verbrachte ich eine Woche in Güldenhof, um die Möglichkeiten des Instruments weiter zu erkunden. Das veranlasste mich dazu, eine modifizierte Version zu entwerfen, die sich in sechs gleichzeitig spielbare präparierte Trompeten transformieren lässt.

Das modifizierte Instrument wurde zwischen 2024 und 2025 gebaut und erhielt den Namen „Putin’s Organ“ („Putinorgel“), eine Anspielung auf einen sowjetischen Mehrfachraketenwerfer, der im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde und dem die deutschen Truppen den Spitznamen „Stalinorgel“ gaben. Dieser berüchtigte Raketenwerfer wurde vermehrt während des libanesischen Bürgerkriegs zwischen den Jahren 1975 und 1990 eingesetzt. Während dieser fünfzehn Jahre waren Raketen die einzigen Objekte, die die Beirut in zwei durch Barrikaden und Kontrollpunkte getrennte Teile untergliedernde „Grüne Linie“ problemlos überwinden konnten. Ich wurde im ersten Jahr des Bürgerkriegs geboren und wuchs im mehrheitlich christlichen Ost-Beirut auf, während Atoui in West-Beirut aufwuchs. Wir beide hätten uns während unserer Kindheit niemals begegnen können und wurden einander schließlich im Jahr 2007 von Michel Waisvisz in Amsterdam vorgestellt.

„Lungless“ ist eine Komposition, die aus der schmerzhaften Nostalgie für eine Kindheit im Bürgerkrieg entstanden ist. Von meinem freiwilligen Exil in der einst geteilten Stadt Berlin aus, verfolgt vom Gespenst des Krieges, rufe ich Erinnerungen an Ost-Beirut wach, eine andere zerrissene Stadt, in der ich aufgewachsen bin und von deren anderen Hälfte ich oft fantasiert habe. Nach dem Krieg wurde die bis dahin unüberbrückbare kommunikative Kluft zwischen den Bewohner*innen beider Seiten allmählich durch die Erkenntnis überwunden, wie sehr sich ihre Erfahrungsweisen des Konflikts ähnelten, insbesondere im Hinblick auf die geteilten, ihren jeweiligen Alltag prägenden Klanglandschaften. Der Titel „Lungless“ ist sowohl wörtlich zu verstehen (der Ton wird von einem Luftkompressor erzeugt) als auch im übertragenen Sinne (die Unfähigkeit, angesichts der Gewalt des Krieges zu sprechen). Außerdem verleiht er dem Wort „Orgel“ im Namen des Instruments eine tiefere Bedeutung.

– Mazen Kerbaj

Georges Aperghis: Quatorze Jactations

Jaktation (Subst.):
1. Ein Umherwerfen oder Herumschwingen des Körpers; v.a. in der Pathologie (1699–)
2. Prahlerei, Aufschneiderei, protziges Auftreten (1576–)
Vom Lateinischen „jactātiōn-em“, das eine Handlung ausdrückende Substantiv von „jactāre“: werfen, schleudern, diskutieren, prahlen

– Aus dem Oxford English Dictionary

Evan Johnson: A general interrupter to ongoing activity

„A general interrupter to ongoing activity“ ist eine Studie über die Stimme als ein Instrument, das in einzigartiger Weise in der Lage ist, sich selbst zu okkludieren (zu verschließen). Diese Okklusion findet auf mehreren Ebenen statt, darunter die geräuschvolle Blockierung des Luftstroms von Reibelauten und Zischlauten mit der Zunge, welche das grundlegende Klangmaterial des Stücks bilden, und ebenso die Diffusion der Vokale des Textes als Pfeifen und Zischen, das mehr oder weniger zerstörerische Hintergrundfärbungen bildet, sowie die prekären Kompromisse, die durch eine überladene Struktur bedingt werden, die die Überschreibung fast jeder körperlichen Anstrengung durch eine andere herbeiführt. Das Ergebnis ist eine Aushandlung der Grenze zwischen dem Hörbaren und dem Unhörbaren, zwischen dem öffentlich Kommunizierbaren und dem zwischenmenschlich Vertraulichen, zwischen dem Stimmlichen und dem Muskulären. 
Bei dem Text handelt es sich um eine anonyme mittelenglische Versifikation einer Passage aus den „Bekenntnissen“ von Augustinus. Er ist sowohl als evokative Inschrift als auch als Quelle für okklusive Möglichkeiten und sich wiederholende Strukturen gedacht:

Im Augenblick, ja gleich, warte nur ein wenig!
Aber dieser Augenblick hatte kein Ende,
und dies „Warte ein wenig!“ zog ich in die Länge.

– Evan Johnson

Timothy McCormack: Seated at the Throat

song i
Beyond the mouth,
Swelled & heavy,
Ghosts nest in my passage,
Sprawled upon my nodes

This grave is loud.
Dead sex echoes
In the carrier

song ii
my Stowaway, 
our hosts…
I eat and am eaten.

song iii
Unfurl the tongue.
Flare the throat.
My fleshy altar
A seat to offer

You’ll find me,
Sunken,
Hungrier than the ghost
 
– Timothy McCormack

Ayanna Witter-Johnson: Songs of the Abeng

„Songs of the Abeng“ nimmt uns mit auf eine Reise und erzählt Geschichten von Triumph und Weisheit, die ein reiches und mächtiges Volk befreit haben. Das Abeng, ein Kuhhorn, diente den Maroons in den Bergen Jamaikas zur Übermittlung verschlüsselter Botschaften, um sich während des transatlantischen Sklavenhandels vor den britischen Kolonialtruppen zu schützen. Die kodierte Sprache wurde als Warn- und Signalmittel sowie als Hauptinstrument im mehrere hundert Jahre andauernden Guerillakrieg eingesetzt. Mit seinen mitreißenden Rhythmen und kraftvollen Melodien erforscht „Songs of the Abeng“ diese Sprache und enthüllt die Geschichten des Abengs ebenso wie die Botschaften, die es heute für uns bereithält.

– Ayanna Witter-Johnson

Elena Rykova: Vicissitudes

„Vicissitudes“ erforscht das Zusammenspiel zwischen den akustischen Eigenschaften der Trompete und der Körperlichkeit des Interpreten. Der Titel, zu Deutsch „Unbeständigkeiten“, spiegelt die sich ständig verändernde Natur der Klanglandschaften des Instruments wider, die durch die labyrinthischen Pfade seiner Ventile und Schläuche geformt werden. Mit einer breiten Palette polyphoner Texturen und filigraner Klangfarben navigiert der Solist durch diesen inneren Irrgarten. Er verwandelt mit präziser Muskelkontrolle und konzentrierter Entschlossenheit die physische Komplexität des Instruments in eine komplizierte Klangarchitektur. Dieses Stück zelebriert nicht nur die Kunstfertigkeit der Doppeltrichter-Trompete, sondern auch Marco Blaauws ansteckende Leidenschaft für ihre grenzenlose Erforschung – eine Leidenschaft, die nach wie vor eine meiner größten Quellen musikalischer Inspiration ist.

– Elena Rykova 

George Lewis: Buzzing

Dieses Stück entstand in einem heiteren Gespräch, das ich mit Marco Blaauw über erweiterte Techniken für Trompete führte. Er erwähnte, dass viele Partituren, die er erhielt, Techniken wie das Klicken der Ventile, das Klopfen auf dem Instrument oder fast unhörbare Luftgeräusche verlangten. „Wie wäre es mit dem guten alten ‚buzzing‘?“, scherzte er. Da ich selbst ein Blechbläser bin, verstand ich das sofort. In unserer allerersten Posaunenstunde in der Schule, damals im Jahr 1960, führten Ray Anderson und ich eine Technik aus, die man heute als erweiterte Technik bezeichnen würde, indem wir Luft durch das Instrument bliesen. Es kam nichts heraus – zumindest nichts, was man mit dem stentorischen Charakter der Posaune in Verbindung bringen würde; der „Posaune Gottes“, nach Hildegard von Bingen. Unser Lehrer, Frank Tirro, kam herein und beobachtete uns mit nicht wenig Belustigung. Dann sagte er: „Um Posaune zu spielen, müsst ihr mit dem Buzzing beginnen.“ Er demonstrierte die Technik, zuerst mit seinen Lippen, dann mit den Lippen am Mundstück an der Posaune. Der Klang war fast ohrenbetäubend. Das war der Beginn eines lebenslangen „buzzens“. „Buzzing“ ist das jüngste Werk in meiner Serie von „rekombinanten“ Werken, die ich 2010 mit „Les Exercices Spirituels“ für Oktett und Live-Elektronik begonnen habe. In diesen Werken werden akustische Klänge durch interaktive digitale Delays, Verräumlichung und Klangfarbentransformation verwandelt. Manchmal klingt die Trompete wie das antike Trompeten-und-Ratschen-Instrument, das ich im Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt gesehen habe. Ich habe mir den Klang von Hunderten dieser Instrumente vorgestellt, die von Musikern gespielt werden, die sich über einen Ballspielplatz in Teotihuacan bewegen. Das Wort „Buzzing“ überschreitet die Sprachgrenzen. Marco erzählte mir: „Das Wort ist lautmalerisch und man versteht es im Niederländischen, Deutschen und Englischen und vielleicht auch in anderen Sprachen.“ Obwohl ich Marco versprochen hatte, in diesem Stück hauptsächlich die erstaunlichen Dinge zu verwenden, die entstehen, wenn seine Lippen buzzen, habe ich mir auch ein paar Klopf- und Äolische Klänge gegönnt, die von der Software, die von Damon Holzborn von Rustleworks LLC geschrieben wurde, angemessen verstärkt und transformiert werden.

– George Lewis

Aaron Holloway-Nahum: I Contemplate Snippets of Silence and Find them Few

Ich betrachte Schnipsel der Stille in meinem Leben und finde nur wenige davon; aber ich entdecke, dass mich das eher erfreut als beunruhigt, denn das Chaos und der Trubel in meinem Leben, der größte Teil meines Geräuschmeers, sind meine Kinder, die kleine wieselflinke, rostrote, gereizte, stürmische Säugetiere sind, immer zwischen den Füßen im Unterholz, jaulend und heulend und weinend und zwitschernd und neckend und rufend und stöhnend und lachend und singend und schreiend und spottend und foppend und brummend und schnarchend und keuchend und knurrend und murmelnd, und so sind sie den ganzen lieben langen Tag dabei, magische Musik zu machen.

– Brian Doyle

Peter Jakober: little beauty

„little beauty“ ist eine Komposition für Blech- und Holzblasinstrumente von Peter Jakober, die er für 88 individuelle Stimmen geschrieben hat. Das Projekt wird gemeinsam mit Amateurmusiker*innen unterschiedlicher Erfahrungsstufen realisiert, die ein Holz- oder Blechblasinstrument spielen. Während der Aufführung, die die lange Beton-Rampe des silent green bespielt, werden die Besucher*innen auf ihrem Weg in die Betonhalle von den Klängen des Stückes „little beauty“ begleitet, wo anschließend das Konzert des Monochrome Project stattfindet.

Claudia Molitor: Fever

Antike Trompeten dienten vielleicht dazu, die Natur anzurufen, mit anderen Lebewesen in Verbindung zu treten, Geschichten über die Natur und menschliche Erfahrungen zu erzählen, anderen Menschen Signale zu geben, zusammenzukommen und zu kommunizieren. Vielleicht, so die Hypothese von Marco Blaauw, stellten frühe trompetenähnliche Instrumente eine klangliche Antwort auf die natürlichen Geräusche dar, die die Menschen um sich herum hörten, oder sogar einen lauten Ausdruck der Verarbeitung von Traumata. All dem gehen wir auch heute noch nach, indem wir Musik machen, Geschichten erzählen, auf andere zugehen, soziale Begegnungen und Rituale schaffen, von unserer Verzweiflung und Hoffnung berichten. „Fever“ stellt für mich eine Antwort auf die Geräusche dar, die uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts umgeben – Geräusche, die als klangliches Zeichen unser zerstörerisches menschliches Verhalten repräsentieren. Das Stück ist ein Appell an die Hoffnung, dass es uns gelingt, uns wieder miteinander und mit unseren Mitgeschöpfen zu verbinden; dass wir einen Weg finden, mit unserer Umwelt zu leben und nicht gegen sie.

– Claudia Molitor

Wadada Leo Smith: The Flight of the Eagle: The Sonic Memorial of Jiddu Krishnamurti

Krishnamurti ist für mich ein großartiger, inspirierender Denker. Seine Erforschung der menschlichen Natur, der Verantwortung der Menschen füreinander und ihrer Stellung in Raum und Zeit war sehr inspirierend für meine eigenen Gedanken über die Welt, in der ich lebe, und meinen Wunsch, sie in etwas Schöneres und Sinnvolleres umzugestalten, an dem alle Menschen teilhaben können.

– Wadada Leo Smith

Jiddu Krishnamurti

Der Adler hinterlässt in seinem Flug keine Spuren, Wissenschaftler*innen schon. Bei der Untersuchung der Frage nach der Freiheit darf es nicht nur um wissenschaftliche Beobachtung gehen, sondern auch um den Flug des Adlers, der keine Spuren hinterlässt.

– Jiddu Krishnamurti

Sivan Cohen Elias: Who-He-Huh

„Who-He-Huh“ affirmiert die unserer Gegenwart innenwohnende Verwirrung, die dafür sorgt, dass unsere Identitäten in Fragmente von Realitäten zerlegt werden. Die Sängerin spielt eine Social-Media-Persönlichkeit. Sie gibt ein Tutorial darüber, „wie man dem eigenen Avatar Gefühle beibringt“. Parallel dazu erschafft sie eine DIY-Figur, die sich auf einem Tisch zu bewegen beginnt. Das Stück wurde als Abfolge von zusammenhängenden Miniaturen konzipiert, die theatrale Elemente visuell und akustisch mithilfe von Fixed Media, Live-Elektronik und Video kombinieren.

– Sivan Cohen Elias

Nwando Ebizie: Dahlia (and you will be there forever and ever)

Eine rituelle Erfahrung für eine Performerin. Eine Praxis: sich auf die Erfahrung der Freude einzulassen. Eine lebendige Erinnerung an eine Hochzeit, einen Antrag, einen Tanz und ein Kleid. Eine Rückeroberung des Schönen. Eine Verkündung des neuerlichen Frühlings und des Willens zum Wachstum.

– Nwando Ebizie

Diana Soh: La Ville-Zizi

„La Ville-Zizi“ ist ein virtuoses und rasantes Non-Stop-Gesangsstück, bei dem auch der Körper der Darstellerin gefordert ist und ihre Bewegungen bereits in der Partitur verankert sind. Bei dem zugrundeliegenden Text handelt es sich um die Übersetzung und Adaption eines feministischen Theaterstücks der französischen Schauspielerin und Autorin Marion Aubert mit dem Titel „Les Orpheline“ (2009). Das Stück beginnt mit einem Vorwort. Darin heißt es, dass es Länder auf der Welt gebe, in denen Mädchen nach der Geburt getötet werden. Diese Aussage hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen und mich dazu veranlasst, mich noch intensiver mit Marion Auberts Werk auseinanderzusetzen. In ihrer „absurden“ Fiktion macht sich die Figur Monsieur im Laufe der Geschichte auf den Weg, um das Verschwinden der Mädchen aufzuklären. Mit gepackten Koffern geht er auf Reise, wird aber sofort von einer Bande junger Mädchen gefangen genommen und eingesperrt. Die Anführerin Violaine ist eines der verschwundenen Kinder. Sie lebt in einer imaginären Welt und versammelt alle Mädchen um sich, denen das Recht auf Leben verweigert wird. Für die Dauer von 30 Tagen und Nächten lernt Monsieur den harten Alltag von Violaine und ihren imaginären Freund*innen kennen, darunter eine Teufelin (La Diablonne) und ein Teufel (Le Diablon). Das Stück enthält zahlreiche Nacherzählungen von Kurzgeschichten, etwa die Geschichte von La ville de Zizi (die Stadt Zizi – bemerkenswert ist, dass „zizi“ ein französischer Kinderausdruck für Penis und „zézette“ der Slangausdruck für Vulva ist). Erzählerin der Geschichte ist La Diablonne – die Persona und Bühnenrolle, die Laura Bowler (Sopran) in dieser Arbeit namens „La Ville-Zizi“ annehmen wird.

– Diana Soh

Milica Djordjević: Monochrome, light blue darkness

Das Stück ist wie ein monochromes, immersives Gemälde oder eine Skulptur, die die Zuhörenden einlädt, darin einzutauchen. Es handelt sich um eine umfassende Studie über kristallisierte Töne als einen Bereich, der nach außen hin scheinbar statisch bleibt und seine Reflexionen von metallisch zu matt verändert, während er im Inneren kinetisch ist und ständig in einem hellblauen Schatten der Dunkelheit schimmert.

– Milica Djordjević

Dai Fujikura: Shimmer

In der Musik geht es um Kommunikation. Und der wichtigste Teil des Komponierens ist für mich die Zusammenarbeit. In diesem Fall mit dem Trompeter Marco Blaauw. […] Wir kennen uns bereits seit 2005 und ich habe ihn viele Stücke spielen hören, doch erst in der Pandemie begannen wir zusammenzuarbeiten. Marco wollte eine Reihe meiner Solowerke spielen, die nicht für Trompete geschrieben wurden – darunter ein Solostück für Bassflöte und ein Solowerk für Horn. Ich habe auch ein Stück für Shō und Elektronik geschrieben, die Shō ist eine traditionelle japanische Mundorgel. Dieses Stück hat Marco dann auf der Trompete mit Elektronik gespielt. Mir liegt es am Herzen, Musik zu schreiben, bei der der Solist das Gefühl hat, dass die Musik das Beste aus ihm herausholen kann. Als ich anfing, das Trompetenkonzert zu schreiben, war ich mit Marcos Spiel meiner eigenen Musik sehr gut vertraut. Ich schickte Marco Fragmente meiner Musik, er nahm sie auf und schickte sie mir zurück. Daraufhin hörte ich mir seine Aufnahmen an und das inspirierte mich, den nächsten Teil zu schreiben und so weiter. Eine Schlüsselfrage war dabei, wie man die Trompete sinnlich klingen lässt, ohne den Eindruck einer Fanfare oder irgendeines kraftvollen Blechbläserklangs zu erwecken. Denn ich bin ein großer Fan von Blechbläsern, mag aber den typischen Blechbläserklang in der klassischen Musik nicht. […]

– Dai Fujikura

Liza Lim: Shallow Grave

Ein Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Im März 2022, 12 Tage nach Beginn des Krieges in der Ukraine, steht eine Militärblaskapelle um einen Bombenkrater herum und spielt in das klaffende Loch hinein. Dieses Bild hallt in unserer Zeit der extremen und oft unverständlichen Gewalt nach. Ich habe viel über die Kraft der Musik nachgedacht, die es ermöglicht, aus etwas, das vollkommen zerstört wurde, neue Lebensenergie hervorzuholen. Die Kraft der Musik, mit den Toten zu sprechen, in der Zeit zurückzugehen, Übergänge für die Lebenden zu schaffen, Musik als ein lebendiger Knoten in der Zeit zwischen den Ahnen und den Ungeborenen – das sind grundlegende Themen meiner neuen Komposition. „Shallow Grave“ besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil spielt Marco Blaauw ein „neolithisches“ Tonhorn, eine Nachbildung eines 3.000 Jahre alten Terrakotta-Horns, das in einer Felshöhle in Vallabrix, Südfrankreich, ausgegraben und vom Keramikkünstler André Schlauch im Rahmen des European Music Archaeology Project nachgebaut wurde. Es hat die Form eines Tierhorns, aber ich stelle es mir als einen Erdklumpen mit einem Mund vor. Der zweite Teil des Stücks ist für die tiefe Alt-Trompete in F geschrieben. Es ist eine Musik, geprägt von bitterem Humor und Sarkasmus, für ein imaginäres Kasperletheater, bei dem die Lebenden die Toten heimsuchen.

– Liza Lim

Georg Friedrich Haas: I can’t breathe

„I can’t breathe“ für Trompete solo, in memoriam Eric Garner beginnt – ziemlich traditionell – mit einem Trauergesang: eine freie Kantilene im zwölftönigen Raum. Dann verengen sich die Intervalle. Der Gesang wird immer mehr erstickt, zuletzt in einer Sechzehnteltonskala. Dieser sich verengende Trauergesang steht in einem Klangraum weiter Trompetentöne extremer Register und wechselnder Farben – vielleicht vorsichtige Symbole für jene Welt, aus der das Opfer gewaltsam gerissen wurde. Den Tätern gebe ich keine Töne. Die Aufführung erfordert zahlreich rasche Dämpferwechsel und langsame Veränderungen der Dämpfer. Dafür ist Marco Blaauws Doppeltrompete bestens geeignet.

– Georg Friedrich Haas

„I can’t breathe“ wurde 2014 konzipiert und geschrieben – als Reaktion auf die Hinrichtung des afroamerikanischen Bürgers Eric Garner durch die Polizei mitten auf der Straße in New York City. Garners „Verbrechen“ war der Verkauf von „Loosies“, einzelnen Zigaretten aus einer Schachtel. Dabei handelte es sich theoretisch um eine Form der Steuerhinterziehung, die aber nach dem Gesetz nicht als Kapitalverbrechen gilt. Ein Umstehender filmte jedoch einen Polizeibeamten, der Garner mit einem unzulässigen Würgegriff am Körper festhielt. Auf dem Video ist zu hören, wie Garner elfmal die Worte „I can’t breathe“ [„Ich kann nicht atmen“] wiederholt, bevor er ohnmächtig wird und sieben Minuten lang am Boden liegt. Während die Beamten auf einen Krankenwagen warteten, verstarb Garner; bei der Autopsie wurde als Todesursache „[Quetschung] des Halses, Quetschung des Brustkorbs sowie Bauchlage während körperlicher Fixierung durch die Polizei“ festgestellt. Trotz landesweiter Proteste wurde nie Anklage gegen die beteiligten Beamten erhoben, obwohl einer von ihnen schließlich 2019 aus dem Dienst entlassen wurde.

– George E. Lewis

Mazen Kerbaj: With a Little Help From My Friends II: From One War to Another

Mitte der 1990er-Jahre studierte ich an der libanesischen Akademie der Schönen Künste Illustration und Grafikdesign und veröffentlichte nebenbei Comics in regionalen Magazinen. In dieser Zeit schenkte mir mein Freund, der Gitarrist Sharif Sehnaoui, eine Trompete, für die er keine Verwendung hatte. Obwohl ich keine Erfahrung mit dem Spielen eines Instruments hatte, entwickelte ich bald einen ausgesprochen persönlichen Zugang zur Trompete. Ich kreierte meine eigenen Techniken, erfand bisweilen neue Spielweisen und benutzte manchmal sogar Alltagsgegenstände, um das Instrument zu präparieren und umzugestalten, wodurch sich sowohl seine Form als auch sein Klang radikal veränderten.

Drei Jahrzehnte später, nach einer einjährigen Auszeit im Jahr 2024, lege ich die Trompete beiseite und setze mich mit zwei neuen Instrumenten auseinander, die beide von engen Freunden erfunden wurden: dem verstorbenen Musiker und Instrumentenbauer Michel Waisvisz und dem Klangkünstler Tarek Atoui. Meine Forschungen resultierten in zwei neuen Solowerken, „From One War to Another“ und „Lungless“. Obwohl sich die Kompositionen in ihrer Form radikal voneinander unterscheiden, versuche ich in beiden Werken, das Trauma der zahlreichen Kriege heraufzubeschwören, die ich von meiner Kindheit in Beirut bis zu meinen heutigen Tagen in Berlin durchlebt habe – zwei Städte, die einst von Teilung und Konflikten erschüttert wurden.

Während des Libanonkriegs im Jahr 2006 spielte ich auf meinem Balkon in Beirut Trompete, während israelische Militärflugzeuge unablässig die Stadt bombardierten. Auf meinem Blog veröffentlichte ich einen sechsminütigen Ausschnitt der fast zwölfstündigen Aufnahmen unter dem Titel „Starry Night“ und beschrieb ihn als Duo für Trompete und Bomben. Selbst in dieser Zeit vor Social Media wurde das Stück von Freund*innen und Bekannten über verschiedene Blogs, auf Websites und in Mailing-Lists verbreitet. Ich erhielt weitreichende Unterstützung, insbesondere von der internationalen Community für experimentelle Musik.

Eine der mich damals erreichenden E-Mails kam vom niederländischen Musiker Michel Waisvisz, der das STEIM-Institut für elektronische Musikforschung in Amsterdam leitete. Er lud mich dazu ein, mit meiner Familie aus dem Libanon zu fliehen und bis zum Ende des Krieges im STEIM zu bleiben. Ich entschied mich, in Beirut zu bleiben, aber die E-Mail markierte den Beginn einer engen und intensiven Freundschaft zwischen uns, die zwei Jahre lang bis zu Waisvisz’ Tod im Jahr 2008 andauerte.

Im Laufe dieser zwei Jahre machte mich Michel Waisvisz mit dem Crackle Synth bekannt, einem Instrument, das er in den 1970er-Jahren erfunden hatte. Es nimmt einen einzigartigen Platz in der Musikgeschichte ein. Es ist eines der ersten autarken, batteriebetriebenen elektronischen Instrumente mit integrierten Lautsprechern und eines der wenigen, das die Körperlichkeit der Interpret*innen zur Klangerzeugung nutzt. Dies geschieht mittels seines bahnbrechenden „Touch“-Boards, das mit den Fingern gesteuert und ausgelöst wird. Nach und nach wurde der Synthesizer zu meinem zweiten Instrument und ich verspürte zunehmend den Drang, ihn auf die gleiche Weise umzumodeln, wie ich das zuvor mit der Trompete getan hatte. Das Original zu modifizieren, von dem es weltweit nur zwölf Exemplare gibt, kam für mich aber nicht infrage. Stattdessen beschloss ich, ausgehend von Waisvisz’ Schaltplänen meine eigene angepasste Version zu bauen.

Die Arbeit an dem neuen Instrument begann im Jahr 2018 in Zusammenarbeit mit Sukandar Kartadinata und wurde erst 2024 abgeschlossen, mitten während Israels Krieg in Gaza – ein Ereignis, das schmerzhafte Erinnerungen an den Libanonkrieg 2006 wachrief. Im Jahr 2006 erlebte ich den Krieg aus der Perspektive des Opfers; jetzt aber, im Jahr 2024, befand ich mich in der schwierigen Position des weit entfernten Zeugen, der hilflos zusehen musste, wie sich täglich ein nicht enden wollendes Blutbad auf seinem Bildschirm entfaltete. Die Erinnerung an die direkte Erfahrung von Gewalt wurde ersetzt durch den Voyeurismus der Gewalt, die anderen angetan wird. Diese Verschiebung der eigenen Rolle im Angesicht des Grauens inspirierte mich zu der Komposition „From One War to Another“, in der ich akustische, elektroakustische und elektronische Klänge miteinander mische, um die zuletzt von mir verspürten vergangenen Ängste, gegenwärtige Wut und meine eindringliche Angst vor der Zukunft auszutreiben.

– Mazen Kerbaj

Milica Djordjević: Neue Arbeit für Bassklarinette, Trompete und Perkussion

In den Jahren 2022 und 2023 arbeitete ich an „Nalet“, einem großen Ensemblewerk, das im Januar 2023 vom Ensemble Musikfabrik unter der Leitung von Ilan Volkov uraufgeführt wurde. Zur gleichen Zeit arbeitete ich an Solostücken für Carl Rosman, Marco Blaauw und Dirk Rothbrust, die einige Monate später beim Festival Acht Brücken Weltpremiere feierten. Einige ihrer persönlichen Lieblingstechniken erwiesen sich in Kombination als besonders wirkungsvoll – wie Carls und Marcos Split-Töne mit Dixis geschabten Kacheln oder Marcos Pedaltöne mit Carls tiefer Flatterzunge auf der Kontrabassklarinette und so weiter. Es war deshalb unvermeidlich, dass „Nalet“ diese drei Interpreten in ausgedehnten Triopassagen zeigen würde. Ebenso unausweichlich war es, dass Aspekte einiger dieser Passagen schließlich außerhalb des Gesamtwerks ein Zuhause finden würden, kombiniert mit anderem Material in einem neuen Trio.

– Milica Djordjević

Liza Lim: Incandescent Tongue

Eating Fire
Eating fire
is your ambition:
to swallow the flame down
take it into your mouth
and shoot it forth, a shout or an incandescent
tongue, a word
exploding from you in gold, crimson,
unrolling in a brilliant scroll
To be lit up from within
vein by vein
To be the sun

– Margaret Atwood

Liza Lim: Microbiome

Der Parasit hört nicht auf. Er hört nicht auf zu essen oder zu trinken oder zu schreien oder zu rülpsen oder Tausende von Geräuschen zu machen oder den Raum mit seinem Gewimmel und Lärm zu füllen.

– Michel Serres, „Der Parasit“

Oscar Bianchi: Confessioni

Mit einem augenzwinkernden Verweis auf den ungezähmten Geist des frühen Duplum – jener befreiten zweiten Stimme der mittelalterlichen Polyphonie, die sich später zu kühner Kontrapunktik entfaltete – erschaffen zwei Protagonist*innen einen eigenwilligen Ausdrucksraum, der fragt und forscht: Bin ich dein Schatten? Dein Alter Ego? Sie beichten abwechselnd, oszillierend zwischen existenziellen Überlegungen und lyrischen Litaneien – Reflexionen, die womöglich nur Projektionen ihrer eigenen ungewissen Natur sind. In diesem Austausch werden sie zu Trägern leuchtender emotionaler Vorschläge, die auf neue Ausdrucksdimensionen verweisen.

Entkleidet – „nackt“ im Sinne einer reinen, unverstellten Präsenz – teilen Sopran und Trompete einen klanglichen Raum, in dem ihre Identitäten verschwimmen und ineinander übergehen. Ideen bewegen sich hier nicht geradlinig: Sie kräuseln sich, hallen nach, stolpern manchmal über sich selbst. Vielleicht verkörpern sie damit „die fluide Natur der Kreativität“ – einen Zustand, in dem sich ein Gedanke in eine Geste verwandelt, eine Stimmung zu einem Motiv wird und nichts dauerhaft festgelegt ist. Wie zwei Träumende in parallelen Monologen kreuzen sich ihre Wege in Echtzeit – ohne genau zu wissen, wohin sie führen, doch lauschend, offen und neugierig – und feiern gerade in dieser Ungewissheit ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Möglichkeit.

Raven Chacon: Whistle Quartet

„Whistle Quartet“ stellt dar, wie man ein Lied von einem*einer Ältesten oder Anführer*in lernt, wie man Teil einer Gruppe wird und auf welche Weise man selbst anführt, wenn der*die eigene Anführer*in nicht mehr da ist.

– Raven Chacon

Raven Chacon: Call for the Company, in the Morning

Das Werk bezieht sich auf die Tradition der Jagdhornrufe und -signale bei der Fuchsjagd als Ausgangsmaterial, durch welches eine offene Drohnenlandschaft geschaffen wird. Zwischenspiele markieren dabei das Vergehen des Tages unter freiem Himmel. Die Komposition befasst sich mit dem Streben nach ökologischem Gleichgewicht, indem sie als Hilfsmittel bei der Jagd angewandte Musikinstrumente zum Einsatz bringt, wenngleich diese Jagd mittlerweile zum bloßen Sport verkommen ist und den Klang des Instruments so in ein Timbre der Angst verwandelt hat.