Konzert
Dlugoszewski / Dun / Corner / Toniutti / Wang / Miller / Hespos / Kashian / Ensemble Musikfabrik
Lucia Dlugoszewski bei der Aufführung von „Geography of Noon“ Courtesy of the Erick Hawkins Dance Foundation, Inc.
„Ich wollte dem Ohr dabei helfen, den Klang um seiner selbst willen zu hören.“ Die Komponistin Lucia Dlugoszewski im Fokus: Agnese Toniutti und das Ensemble Musikfabrik enthüllen klingende Welten voller unerwarteter Texturen und Resonanzen.
In dem auf zwei Jahre angelegten Projekt „Contemplations into the Radical Others“ widmet sich MaerzMusik gemeinsam mit verschiedenen Kooperationspartner*innen dem Werk von Lucia Dlugoszewski. Für die diesjährige Festivalausgabe hat MaerzMusik das Ensemble Musikfabrik und die Pianistin und Wissenschaftlerin Agnese Toniutti eingeladen, die notierten Werke der Komponistin zur Aufführung zu bringen, darunter „Tender Theatre Flight Nageire“, „Space is a Diamond“ und die Serie „Exacerbated Subtlety Concert“ für Klavier. Das zweiteilige Konzertprogramm am 24.3.2023 bildet den Auftakt für ein Forschungsprojekt, das 2024 um eine Retrospektive über das Werk von Dlugoszewski erweitert wird.
Lucia Dlugoszewski (1925-2000)
Exacerbated Subtlety Concert (Why Does a Woman Love a Man?)
für „Timbre Piano“ (1997/2000)
Tan Dun (*1957)
C-A-G-E, fingering for piano (1994)
Philip Corner (*1933)
Toy Piano (2012)
ch roma tika (2022) Uraufführung
Man in Field (the sound as “Hero”) (2020)
Small pieces of a Fluxus Reality (2018)
A really lovely piece made for & by Agnese (2019)
Jing Wang (*1992)
Yan
für Muschelhorn solo (2016)
Mazyar Kashian (*1991)
Rondo de facto
für einen Kieselstein (2020)
Lucia Dlugoszewski
Space is a Diamond
für Trompete solo (1970)
Hans-Joachim Hespos (1938-2022)
li-lá
für zwei Alphörner (1996)
Tamara Miller (*1992)
na rua – uma bola e um sol pobre – revira no lixo
für Kornett und Schlagzeug (2022)
Hans-Joachim Hespos
Ruhil
für Kornett, Tenorhorn und Posaune (1985)
Lucia Dlugoszewski
Tender Theatre Flight Nageire
für Blechbläserquintett und Schlagzeug (1971, rev. 1978)
Der erste Teil des Programms erkundet die klanglichen Möglichkeiten des Klaviers – auch jenseits der Tasten. Die Pianistin Agnese Toniutti setzt dazu verschiedene Techniken ein, um unerwartete Texturen und Resonanzen des Instruments zu enthüllen. Ihr Vorgehen gleicht einem Eintauchen in die Vorstellungswelten der drei Komponist*innen und zeigt, wie diese das Konzept des Klaviers in ihren jeweiligen Kompositionsansätzen ausgestaltet haben. Lucia Dlugoszewskis „Exacerbated Subtlety Concert (Why Does A Woman Love a Man?)” (1997/2000) ist ein Stück für das sogenannte „Timbre Piano“ – eine Transformation der klanglichen Identität des Instruments, die von Kritiker*innen sogleich mit einem neuen Namen bedacht wurde. Dlugoszewski schuf hier ein originelles Klanguniversum, das einem breiteren Publikum jedoch bisher kaum bekannt ist. Da jedoch keine Partitur ihres Werks verfügbar war, musste Toniutti für die Realisation dieser Arbeit umfangreich recherchieren. Tan Duns „C-A-G-E, fingering for piano“ (1994) schlägt eine Brücke zwischen zwei Welten: Das Klavier wird zu einem „Verwandten“ der traditionellen chinesischen Instrumente und huldigt zugleich John Cage, einem der revolutionärsten westlichen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Tan Dun wendet die flämische Kompositionskunst, jedem Buchstaben eine bestimmte Tonhöhe zuzuordnen, auf Cages Namen an. Der in Italien lebende, amerikanische Komponist Philip Corner erforscht das Klavier wiederum als offenes Feld, in dem verschiedenste Arten der Klangerzeugung willkommen sind, wobei die Tastatur nur eine unter vielen ist. Im Vordergrund steht die Verwirklichung der kompositorischen Idee eines jeden Stücks, die sich innerhalb der Grenzen einiger weniger notierter Anhaltspunkte bewegt – und die, wie der Autor es nennt, zu Poesie wird. Das Konzert „Subtle Matters“ führt das Publikum in drei verschiedene klangliche und musikalische Welten, die das Klavier auf je eigene Weise begreifen. Und doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie wollen zum Staunen anregen und „ein Hörerlebnis schaffen, dessen Zeitpunkt immer der Tagesanbruch ist“, wie Dlugoszewski schrieb.
Im zweiten Teil des Konzertprogramms präsentiert das Ensemble Musikfabrik Dlugoszewskis anspruchsvolle Komposition für Solotrompete „Space is a Diamond“ und mit „Tender Theatre Flight Nageire“ eines ihrer bekannteren Werke für Ensemble. Zudem erklingen Werke von Hans Joachim Hespos (1938–2022) – ein autodidaktischer Komponist, der sich während seiner gesamten Karriere jeglichen musikalischen Kategorisierungen widersetzte. Das Programm umfasst außerdem Werke von Jing Wang, deren Faszination für die Vielfalt der Klänge sie dazu bewegte, das Muschelhorn als Instrument zu erkunden. Die Stücke von Tamara Miller und Mazyar Kashian entfalten im Zusammenspiel mit den Arbeiten Dlugoszewskis ihren experimentellen und innovativen Charakter. „Das Material ist sehr frisch und neu und bildet in seiner Reduziertheit einen schönen Kontrapunkt zu ‚Tender Theatre Flight Nageire‘“, so Dirk Rothbrust, der Schlagzeuger des Ensembles. „Space is a Diamond“ beinhaltet verschiedene „Kalligraphien“ der Geschwindigkeit. Oft streifen sie nur die äußersten Register und hinterlassen dazwischen eine tonlose Leere. Oder sie bilden spiralförmige Parabeln von melodischen Variationen – kalligraphische Flugkurven. „‚Tender Theatre Flight Nageire‘“ ist eine Reihe musikalischer Rituale, die mit den poetischen Wurzeln der erotischen Erfahrung in enger Verbindung stehen. Die Nacktheit ihres Geistes erfordert einen ganz besonderen Mut, den Mut zur Verletzlichkeit, den es braucht, um Gefühle zuzulassen – etwas gefährlich Reales in einer wilden und gleichzeitig fragilen Atmosphäre aus Eleganz, Sensibilität und höchster geistiger Energiefreisetzung, die wir Leidenschaft nennen. Klangrituale, die Unmittelbarkeit und Amor kombinieren, um eine musikalische Struktur zu schaffen.“ (Lucia Dlugoszewski)