Eine Reihe von Veranstaltungen und künstlerischen wie diskursiven Interventionen eröffneten 2023 neue Resonanzräume für das traditionsreiche Theatertreffen auf europäischer Ebene.
Die 10 Treffen fanden während des gesamten Festivals in unterschiedlichen Formaten wie zum Beispiel Performances, Aktionen und Diskussionen statt, als Angebote zur Begegnung vor und nach den Aufführungen, oft aber auch schon tagsüber oder bis spät in die Nacht hinein: in Foyers, Ausstellungsräumen und im Garten. Sie umrahmten, umgarnten und umarmten die 10 bemerkenswerten Inszenierungen und versuchten, (k)einen common ground zu formulieren, auf dem die Relevanz möglicher Perspektiven für die Zukunft des Theatertreffens ausgelotet und gleichzeitig in einem ersten Entwurf erprobt werden konnte. Der Aspekt des Treffens in seinen unterschiedlichen Ausprägungen – sowohl Austausch und Diskurs als auch Zusammen- und Aufeinandertreffen – spielte dabei eine besondere Rolle.
„In der Vorbereitung hat uns eine Frage begleitet, die in verschiedenen Variationen für die zukünftige Entwicklung des Festivals eine Rolle spielt: Who has the privilege to not know…? Diese Frage kann in verschiedene Richtungen ergänzt werden und findet sich auf vielfältige Weise in allen 10 Treffen, die wir als einen Resonanzraum auf europäischer Ebene für die 10 bemerkenswerten Inszenierungen 2023 begreifen. Programm und perspektivische Ausrichtung dieser Treffen werden in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb erarbeitet.”
Olena Apchel, Carolin Hochleichter, Joanna Nuckowska
Seit nunmehr neun Jahren herrscht wieder Krieg in Europa. In den ersten acht Jahren wurde dieser im Südosten und Osten der Ukraine ausgetragen, auf der Krim und im Donbass. Doch erst der Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine im Februar 2022 wird hierzulande als Krieg bezeichnet und stellt europäische Werte notwendigerweise auf eine harte Probe. Wer trägt Verantwortung? Acht Jahre Politik stehen auf dem Prüfstand – acht Jahre, in denen die Besorgnis in Europa groß war, es an konsequenter Haltung und entsprechender politischer Aktion jedoch fehlte. Das Theatertreffen 2023 fragt, wie wir Verantwortung gegenüber denjenigen zeigen können, die ihre persönlichen und strukturellen Voraussetzungen verloren haben, im Theater zu arbeiten und Kunst zu schaffen, und diskutiert entsprechende aktuelle Beispiele aus dem mitteleuropäischen Raum.
Die Auseinandersetzung mit Krieg und Verantwortung führt unweigerlich zur Frage, wie unterschiedlich Privilegien verteilt sind und welche Notwendigkeiten von Solidarität sich daraus ergeben. Das Solidarity Treffen wird sich der belarussischen Protestbewegung und der Entwicklung der Opposition gegen das Lukaschenko-Regime, die politische Repression und den sich verändernden Diskurs angesichts der Eskalation des Krieges in der Ukraine widmen. In Belarus gibt es fast keine Instrumente mehr, um die Einhaltung grundlegender Menschenrechte sicherzustellen und zu kontrollieren. Aktivist*innen und Oppositionelle sind zu politischen Gefangenen geworden. Wer hat das Privileg, nicht verhaftet zu werden oder zur Auswanderung gezwungen zu sein? Wer hat das Privileg, nicht zu kämpfen und sich verteidigen zu müssen? Wer hat das Privileg, die Kunst nicht aufgeben zu müssen? Wie können wir Solidarität üben mit belarussischen Künstler*innen, die ihre Kunst in der Diktatur nicht zeigen können?
Ein Viertel der ukrainischen Armee besteht aus Frauen. Pazifistischer Feminismus wird deshalb zu einem Privileg, mit dem sich das Herstory Treffen befasst. Es ist dem Versuch gewidmet, Prozesse und Konsequenzen nachzuvollziehen, die dem jahrhundertelangen Kampf um die Unabhängigkeit als Frau* unmittelbar eingeschrieben sind, wird sich auf aktivistische Praxis und Freiwilligenarbeit konzentrieren und transformative Wege zur Bewältigung individueller und kollektiver Traumata aufzeigen. Denn wir schauen in die Zukunft eines Landes, das sich nach dem Krieg jahrzehntelang im Wiederaufbau befinden wird. Was für ein Feminismus entsteht in militarisierten Gesellschaften, die sich andauernd im Verteidigungszustand befinden, in denen war and gender kein Konzept sind, sondern zur unmittelbaren Erfahrung werden? Wer hat das Privileg, keine Haltung zum Krieg haben zu müssen, nicht kämpfen zu müssen, ihre*seine Zukunft nicht im gegenwärtigen Krieg zu verlieren? Wer hat das Privileg, keine woman at war sein zu müssen?
Das Transfeminist Treffen widmet sich dem Feminismus und seiner solidarischen Kraft. Gemeinsam mit aktivistisch-künstlerischen Kollektiven, die in Berlin, Prag und Poznań tätig sind, lädt Zofia nierodzińska ein, Rezepte für die Gegenwart zu erforschen. Das Zusammenkommen wird beim Theatertreffen zum feministischen, politischen Prozess, der eine transnationale Solidarität erprobt, die über die Grenzen der Europäischen Union hinausgeht, und bietet eine Plattform für Begegnung und Diskussion.
Daneben wird die von den Theatertreffen-Jurorinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann herausgegebene Publikation „Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurinnen im Gespräch“ vorgestellt, die zum 60-jährigen Jubiläum des Festivals im Henschel Verlag erscheint. Sie beleuchtet den Arbeitsplatz Theater aus der Perspektive der eingeladenen Regisseurinnen: Was hat die 2020 beim Theatertreffen eingeführte Frauenquote bewirkt und sichtbar gemacht?
Wo steht das Theatertreffen heute? Kann eine Stärke der Kunst in unserer heutigen antagonistischen Welt darin bestehen, sich auf die Suche nach Unterbrechungen vom Alltag und nach Verrückungen scheinbarer Normalitäten zu begeben? Unsere Wahrnehmung der Realität findet durch unsere Körper statt. Im Fokus der Diversity Treffen widmen wir uns deshalb der Vielfalt von Körpern, wir fragen nach Definitionen von Normen und Abweichungen sowie nach der unterschiedlichen Teilhabe am kulturellen Angebot: nach der Gruppe von Menschen, die selbstverständlich Zugang zu Kunst und Kultur genießt und nach den vielen anderen, die dieses Privileg nicht haben.
Bereits seit 2021 strömen die Green Ambassadors des Theatertreffens aus in die Foyers und Büros der eigenen Kulturstätten und darüber hinaus, um den Auftrag zu verfolgen, ökologischer Nachhaltigkeit im Kulturbetrieb zu einer praktikablen Realität zu verhelfen. Was sie dabei auch sind: Ambassadors der complexity of crisis. Es bräuchte für jedes unserer Treffen Ambassadors: Botschafter*innen, die die Komplexität der Welt in notwendige Verantwortung umformulieren und Haltung in Handlung übersetzen.
Das Forum Ökologische Nachhaltigkeit im Theater wird sich auch in diesem Jahr mehrmals in Workshops treffen, die es ermöglichen, in einen praktischen und theoretischen Dialog zu Fragen des ökologischen Zustands im Theater und der notwendigen Veränderung zu treten. Können wir gemeinsam Kriterien ökologischer Nachhaltigkeit formulieren, die in Zukunft Einfluss auf die Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen nehmen? Können wir das Privileg der Kunst, ihre Freiheit nicht durch solche Nachhaltigkeitskriterien einschränken lassen zu müssen, in Frage stellen?
Das Internationale Forum tauscht seine Perspektiven auf die 10 bemerkenswerten Inszenierungen und die 10 Treffen in diesem Jahr im Gropius Bau aus. Mit den eingeladenen Künstler*innen unterschiedlicher ästhetischer, kultureller und politischer Prägungen ist es Denk- und Erfahrungsraum, als transnationales Netzwerk leistet es die Zirkulation von gesellschaftspolitischem Wissen und ästhetischer Praxis jenseits von nationalen oder sonstigen Grenzen. Während des Festivals öffnen wir die Türen des Internationalen Forums und laden die Besucher*innen zur Teilhabe ein. Studierende von Universitäten, Kunsthochschulen und Theaterinstituten sowie Berliner Schüler*innen besuchen im Rahmen von Open Campus das Festivalprogramm, um über ästhetische und gesellschaftspolitische Fragen sowie eigene Interessen in Austausch zu treten. Und zum Abschluss reflektieren Stipendiat*innen des Internationalen Forum und des Theatertreffen-Blog die zehn eingeladenen Inszenierungen in einer Abschlussdiskussion gemeinsam mit der Theatertreffen-Jury.
Gemeinsam alleine sein mit schwierigen Fragen. Manchmal erfordert die schiere Lautstärke der Fragen eine aktive, konzentrierte Stille. Das Emptiness Treffen bietet einen solchen Raum der Leere inmitten des pulsierenden Festivalklangs.
Die vielfältigen, zum Teil diskursiven und sich untereinander austauschenden Zusammenkünfte der Network Treffen werden erstmals nicht nur unter dem Eindruck der 10 bemerkenswerten Inszenierungen, sondern auch im Kontext der neun anderen Treffen stehen und so die Kraft des Theatertreffens noch einmal mit voller Wucht demonstrieren: ein großes Zusammentreffen, ein Aufeinandertreffen, gesellig und kritisch zugleich. Die Network Treffen versammeln bereits etablierte Treffen des Theatertreffens, es werden Preise verliehen, Gedanken ausgetauscht, bestehende Verbindungen gepflegt und neue geknüpft. Sollte es nicht die Aufgabe von uns allen sein, bei unterschiedlichen Network Treffen die Themen und Ansätze aus den anderen Treffen in die Theaterlandschaft zu tragen und gemeinsam mit den verschiedenen Netzwerken Strategien zu entwerfen, die eine nachhaltige Vervielfältigung und Verfolgung der Ideen gewährleisten? Und welche Strategien der Zusammenarbeit müssen heutzutage erarbeitet werden, um nachhaltige Entwicklung und Vernetzung zu gewährleisten?
Hauptförderer des neuen Formats 10 Treffen sind die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und das Goethe-Institut.