Die 10 Inszenierungen 2025

Die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison, ausgewählt von einer Kritiker*innen-Jury, geben einen komprimierten Einblick in die deutschsprachige Theaterszene.

Bernarda Albas Haus

von Alice Birch nach Federico García Lorca
Übersetzt von Ulrike Syha

Regie: Katie Mitchell
Deutschsprachige Erstaufführung: 2.11.2024
Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
schauspielhaus.de

Statement der Jury

Bernarda Alba ist erbarmungslos, und Katie Mitchells Inszenierung ist es ebenfalls. Kaum ist der Vater beerdigt, sperrt Bernarda Alba ihre fünf Töchter ein. Sie schottet sie ab von der Welt mit ihren Begierden und ihrem Hunger nach Leben. So schrieb es der spanische Autor Federico García Lorca im Jahre 1936. Die britische Dramatikerin Alice Birch hat aus der Tragödie eine provokante Neufassung erstellt, die Mitchell als hermetischen Albtraum inszeniert. In dem gefängnisartigen Bühnenhaus von Alex Eales erzählen elf äußerst präzise Spielerinnen von patriarchaler Herrschaft genauso wie vom häuslichen Matriarchat, von Aberglaube, Eifersucht, Missbrauch und Schmerz. Genau getimte Parallelmontagen, ineinander collagierte Dialoge und exakt choreografierte Zeitlupenszenen machen diesen Abend zu einem grandiosen, multisensorisch herausfordernden Gesamtkunstwerk. Eine spektakuläre Inszenierung und eine erschütternde Parabel über das Wechselspiel von Unterdrückung, Macht und Gewalt.

Eine Frau horcht an einer hellgelben Wand, hinter der eine Braut angekleidet wird.

Bernarda Albas Haus

© Thomas Aurin

Blutbuch

Roman von Kim de l’Horizon
in einer Fassung von Jan Friedrich

Regie und Kostüm: Jan Friedrich
Premiere: 27.1.2024
Theater Magdeburg
theater-magdeburg.de

Statement der Jury

Mit großer Dringlichkeit bringen Jan Friedrich und sein Team die queere Befreiungsgeschichte von Kim de l’Horizon auf die Bühne. Das zeigt sich in jedem poetisch-zarten, witzigen, märchenhaft-poppigen und brutalen Detail dieser multimedialen Inszenierung. Sie nimmt den preisgekrönten Roman beim Wort und schafft dennoch eine ganz eigene Welt. Das Magdeburger „Blutbuch“ findet für jedes Kapitel, jede literarische Tonart und jedes Gefühl überraschende Bilder, ohne je die Erzählung aus den Augen zu verlieren. Die Gratwanderung gelingt, weil sich die sieben großartigen Spieler*innen auch in Beziehung setzen zur schonungslosen Selbst- und Gesellschaftsbefragung und zur großen Sehnsucht nach Zugehörigkeit der multiplen Buch- und Bühnen-Kims. Ein Abend über non-binäre Identitäten, der eine Spielart des non-binären Erzählens vorschlägt. Und einer über Traumata, Schmerzen und Vorurteile, die wir alle von unseren Vorfahren erben. Bildstark, kämpferisch und Glückshormone freisetzend.

Vier Personen in Paillettenröcken und mit grünen Oberteilen aus Federn schauen ängstlich-besorgt ins Publikum.

Blutbuch

© Kerstin Schomburg

Die Gewehre der Frau Carrar / Würgendes Blei

von Bertolt Brecht / eine Fortschreibung von Björn SC Deigner (Auftragswerk)

Regie: Luise Voigt
Uraufführung: 14.12.2024
Residenztheater (Bayerisches Staatsschauspiel)
residenztheater.de

Statement der Jury

Bringen Waffen Frieden oder nur weiteren Krieg? Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“, 1937 von deutschen Geflüchteten in Paris uraufgeführt, ist das Stück der Stunde. Frau Carrar will ihre Söhne vor dem Tod bewahren und vertritt deshalb zunächst rigoros eine pazifistische Haltung. Das selten aufgeführte Werk über den Spanischen Bürgerkrieg trifft heute wie ein Hammerschlag. Luise Voigt inszeniert es in der Ästhetik eines 1930er-Jahre-Spielfilms: Das Bühnenbild flimmert, der Ton knistert und knackt, die Landschaft vor dem Fenster wirkt expressionistisch wie ein Scherenschnitt. Danach beginnt Björn SC Deigners „Würgendes Blei“ auf den Ruinen der Vergangenheit – als Stück für Frau Carrar, ein Lindenblatt, ein Maschinengewehr und einen Chor, als Messe der Wiederkehr des immergleichen Grauens im Krieg. Wie herauskommen aus dem Teufelskreis? 

Vier Personen in altertümlich wirkenden schwarzen Klamotten befinden sich in einer Küchentisch-Szenerie, in der alles aus Holz besteht.

Die Gewehre der Frau Carrar / Würgendes Blei

© Sandra Then

Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh

von Georges Perec und Johann Wolfgang von Goethe
Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

Regie: Anita Vulesica
Uraufführung: 12.10.2024
Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
schauspielhaus.de

Statement der Jury

„Wandrers Nachtlied“: Für den französischen Autor Georges Perec (1936 – 1982) bildete Johann Wolfgang von Goethes wohl berühmtestes Gedicht 1968 die Grundlage für sein Hörspiel „Die Maschine“. Darin kommunizieren keine Menschen, sondern Schaltkreise, zerlegt eine Instanz, „Kontrolle“ genannt, den Text in seine Einzelteile. Vier menschliche „Speicher“ sortieren daraufhin Versfüße, vertauschen Substantive und verschlucken Buchstaben. Anita Vulesica bringt Perecs linguistisches Experiment mit sechs höchst virtuosen Darsteller*innen voll fiebriger Spiellust auf die Bühne. Dabei folgt die Regisseurin dem Versuch des Autors, die Welt zu systematisieren und zeigt zugleich, dass es in der Zerbrechlichkeit der Worte einen Zauber gibt, der sich jeder Definition entzieht. So entsteht ein Abend aus tanzenden Silben und über Sprache als Material, aber auch über Macht und Widerstand und über das Schweigen als politische Kraft. Ein irrwitziges Vergnügen, durchwoben von Pausen voll schwereloser Stille. Komisch, ernst, trashig und immer wieder in allen Wipfeln innehaltend.

Fünf Personen performen auf fünf ansteigenden Plateaus aus Plexiglas; um sie herum glatte Röhren und geriffelte Rohre.

Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh

© Eike Walkenhorst

Double Serpent

von Sam Max
Deutsch von Wilke Weermann

Regie: Ersan Mondtag
Premiere: 29.9.2024
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
staatstheater-wiesbaden.de

Statement der Jury

Dieses Stück ist für Ersan Mondtags albtraumhafte Theatersprache wie geschaffen. Sinn setzt sich in dem Text von Dramatiker*in Sam Max aus New York wie ein Puzzle zusammen, in dem erst am Ende alle Teile ihren Platz finden. In Mondtags Inszenierung agieren stilisierte Kunstfiguren, deren Schalen nach und nach aufbrechen. Biografisches tritt zum Vorschein, Zeit- und Realitätsebenen werden zuordenbarer. Dafür verunklaren sich die Machtverhältnisse. Sieht man auf Alexander Naumanns Fantasie-Jugendstil-Bühne einer einvernehmlichen schwulen BDSM-Beziehung oder sexuellem Missbrauch zu? 
Der junge Connor ist das Zentrum faszinierender Loops aus Licht, Sound und Slow-Motion, in denen Gewalt omnipräsent ist. Sie wird aber selbst in den computeranimierten Videos von Luis August Krawen nie gezeigt. Voyeurist*innen können einpacken: Dieses Gesamtkunstwerk ist auf seine ganz eigene, fast zeremonielle Art verstörend und entwickelt einen hypnotischen Sog.

Ein Mann in weißen Klamotten legt müde seinen Kopf auf den Oberschenkel eines Mannes in einem roten kurzen Anzug.

Double Serpent

© Thomas Aurin

[EOL]. End of Life

Eine virtuelle Ruinenlandschaft

Performative Installation in Virtual Reality von DARUM

Regie und Story: Victoria Halper & Kai Krösche (DARUM)
Uraufführung: 26.9.2024 (brut Wien)
Eine Koproduktion von DARUM und brut Wien
Gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport
darum.at | brut-wien.at

Statement der Jury

Die virtuelle Realität ist am Theater angekommen, auch wenn die beiden oftmals noch miteinander fremdeln. Die VR-Erfahrung des Duos DARUM (Victoria Halper und Kai Krösche) macht digitale Welten selbst zum Thema, konkret die Überreste unserer täglichen Interaktionen im Netz: Erinnerungen an Vergängliches, die selbst nicht verblassen. Wie viele solche Datenhaufen verträgt das Netz? Tragen wir ihnen gegenüber eine Verantwortung? Können wir sie gar – lieben? Wer eine VR-Brille aufsetzt, erhält 9,6 m² Fläche und den Auftrag der Firma IRL (Imaginary Reality Landscapes), digitale Ruinen zu prüfen, auf die lange niemand zugegriffen hat. Es gilt zu entscheiden, was endgültig gelöscht und was ins Metaversum übernommen werden soll. Doch dann nimmt das Virtuelle die Prüfenden in Geiselhaft, und es entspinnt sich eine tief berührende Geschichte, die unser Verhältnis zum digitalen Erbe auf die Probe stellt und neue Maßstäbe virtuellen Erzählens setzt. Ist das noch oder schon Theater?

Fünf Personen mit VR-Brille stehen in einem Raum.

[EOL]. End of Life

© DARUM

ja nichts ist ok

von Pollesch/Hinrichs
Text: René Pollesch
Uraufführung: 11.2.2024
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
volksbuehne.berlin

Statement der Jury

Der traurigste Theaterabend des vergangenen Jahres, ein jäher Abbruch und ein Vermächtnis: Der viel zu frühe Tod von René Pollesch ist von dieser, seiner letzten Arbeit nicht mehr zu trennen. Aber „ja nichts ist ok“ bildet auch abseits der bitteren Umstände einen Höhepunkt im langen gemeinsamen Schaffen von Pollesch und seinem Verbündeten Fabian Hinrichs. Dieser spielt sich in einer WG ohne anwesende Mitbewohner*innen wortwörtlich entzwei, während über die Fernseher Bilder vom Krieg flackern. „Ist es ein Verbrechen, fröhlich zu sein?“, fragt er einmal, und in Momenten wie diesen scheinen sich die unauflösbaren Widersprüche unserer Zeit auszukristallisieren wie selten im Theater. Hyperreflektierter Weltschmerz weitet sich bis an den Rand des Absurden. Am Ende werden der Hauptdarsteller und mit ihm Autor und Text unter den warmen Körpern von Statist*innen begraben. Ein Schluss bloß und doch ein Abschied, gemacht aus Umarmungen.

Ein Mann mit nacktem Oberkörper und nackten Beinen sitzt vor einem Haus mit riesigen aufgeschichteten Felsblöcken.

ja nichts ist ok

© Thomas Aurin

Kontakthof – Echoes of ’78

Eine neue Begegnung mit „Kontakthof“: Ein Stück von Pina Bausch (1978)

Konzeption und Inszenierung: Meryl Tankard
Uraufführung: 26.11.2024 (Opernhaus Wuppertal)
Eine Produktion von Sadler’s Wells, Pina Bausch Foundation und Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.
Sie wird koproduziert mit Amare (Den Haag), LAC Lugano Arte e Cultura, Festspielhaus St. Pölten, Seongnam Arts Center und China Shanghai International Arts Festival und wird als Beitrag zur Vorbereitung des Pina Bausch Zentrums aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Wuppertal gefördert.
pina-bausch.de

Statement der Jury

Pina Bauschs 1978 uraufgeführtes Stück „Kontakthof“ gehört zu den legendären, beinahe kultisch verehrten Werken, mit denen sie damals das Tanztheater revolutioniert hat. Vor diesem übermächtigen Hintergrund wirkt Meryl Tankards 46 Jahre später entstandene Appropriation auf den ersten Blick wie eine Arbeit, die Pina Bausch ein Denkmal setzen will. Doch dieser Eindruck täuscht. Tankard gehörte 1978 zur „Kontakthof“-Originalbesetzung und tanzt nun mit acht weiteren Mitgliedern der damaligen Compagnie noch einmal Teile der Choreografie. Sie kombiniert Aufnahmen von historischen „Kontakthof“-Mitschnitten mit den Bewegungen der gealterten Tänzer*innen. So entsteht ein komplexer und magischer Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der sich allen Einordnungen konsequent entzieht.

Sieben Tänzer*innen bewegen sich über die Bühne, hinter ihnen ein historisches Video mit Tänzer*innen, die genau dieselben Bewegungen machen.

Kontakthof – Echoes of ’78

© Ursula Kaufmann

SANCTA

Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“, geistlichen Werken und Neukompositionen von Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider u. a.

Regie, Choreografie und Performance: Florentina Holzinger
Premiere: 30.5.2024 (Mecklenburgisches Staatstheater)
Eine Produktion von Florentina Holzinger/Spirit, neon lobster, dem Mecklenburgischen Staatstheater und der Staatsoper Stuttgart in Koproduktion mit den Wiener Festwochen | Freie Republik Wien und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin (in Kooperation mit der Komischen Oper Berlin), Opera Ballet Vlaanderen, Julidans und Theater Rotterdam.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Ammodo, Kulturabteilung der Stadt Wien.
mecklenburgisches-staatstheater.de | staatstheater-stuttgart.de | volksbuehne.berlin

Statement der Jury

Steckt nicht in jeder Messe auch ein bisschen Zauberei? Wird dort nicht Brot in Fleisch, Wein in Blut verwandelt? Florentina Holzinger nutzt Paul Hindemiths Kurzoper „Sancta Susanna“ über das sexuelle Erweckungserlebnis einer Nonne als Startrampe für ihre mitreißende Version eines katholischen Gottesdienstes. Schon der Auftakt mit zwei fistenden Frauen zwischen Kreuz und Boulderwand legt den Grundkontrast des Abends dar: In der Oper die Insignien der Kirche zu Opfer, Schuld und Autorität, in Holzingers körperlicher Auslegung tabuloser Sex, Überschreitung und Schamlosigkeit. Ihre queerfeministische Truppe überschreibt sakrale Bilder und interpretiert biblische Szenen als körperliche Grenzerfahrungen. Während halbnackte Nonnen über eine Halfpipe skaten, rotiert eine Päpstin, tut eine Zauberin Wunder, kumpelt ein*e Landstreicher*in namens Jesus das Publikum an. Auch die Transsubstantiation wird hier ganz konkret als Spielart der Body Suspension exerziert. Doch die Verkehrungsorgie will am Ende mehr als Kink und Provokation und reicht allen im Publikum die Hände mit ihrer Message: „Don’t dream it, be it!“

Zwei bis auf ihren Schleier nackte Nonnen skaten auf einer Halfpipe.

SANCTA

© Nicole Marianna Wytyczak

Unser Deutschlandmärchen

nach dem Roman von Dinçer Güçyeter
in einer Bearbeitung von Hakan Savaş Mican

Regie: Hakan Savaş Mican
Uraufführung: 6.4.2024
Maxim Gorki Theater
gorki.de

Statement der Jury

Konnte Fatma jemals tanzen, auf hohen Absätzen einherschweben, Spaß beim Sex haben? Oder war sie ihr ganzes Leben „schweigende Ehefrau, sich aufopfernde Mutter, funktionierende Fabrikarbeiterin“? Und was erwartet sie von ihrem Sohn? Dinçer trauert gleich zu Beginn um die nicht gelebte Seite seiner Mutter. Hakan Savaş Mican, der sich immer wieder mit Generationskonflikten türkischer Eingewanderter und ihren lange unerzählten Biografien auseinandersetzt, gelingt mit der Bühnenadaption von Dinçer Güçyeters autofiktionalem Romandebüt ein so feinfühliges wie würdevolles Mutter-Sohn-Porträt für zwei herausragende Schauspieler*innen. Sesede Terziyan als immer wieder gedemütigte und im Durchhalten verhärtende Mutter und Taner Şahintürk als ihre Erwartungen unterlaufender Künstlersohn füllen ihre Figuren mit Lebenslust und Schlagfertigkeit, spielen mit trockenem Witz und zum Heulen innig zwei Menschen, die sich trotz aller Entfremdung verbunden bleiben. Auch die geschmeidig ins Bühnengeschehen integrierte Band um Peer Neumann hilft beiden mit Songs von Sezen Aksu bis Sisters of Mercy, das Schweigen zu überwinden.

Eine Frau mit Kopftuch und Arbeitskittel steht inmitten einer Gruppe von Musiker*innen und spricht Richtung Publikum.

Unser Deutschlandmärchen

© Ute Langkafel MAIFOTO

Statistik

Die Jurymitglieder sichteten im Zeitraum vom 18. Januar 2024 bis 16. Januar 2025 insgesamt 738 Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.