Inszenierung / Livestream | 10er Auswahl
nach Thomas Mann
Deutsches Theater Berlin
Livestream-Premiere 20. November 2020
Videotrailer © Tilo Baumgärtel
Sebastian Hartmann nimmt sich erneut einen Jahrhundertroman vor, lässt Figuren und lineare Narration hinter sich und befragt mit einem hochenergetischen Ensemble Traum und Zeit.
Zum dritten Mal ist Sebastian Hartmann mit einem epochalen Roman der Weltliteratur beim Theatertreffen vertreten. Alle Handlungsstränge, die in Thomas Manns „Der Zauberberg“ formstreng von Hans Castorps siebenjährigem Sanatoriumsaufenthalt am Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählen, löst er auf und überführt sie in einen intensiven Bilderrausch. Sieben Schauspieler*innen irren durch einen nicht enden wollenden Schneesturm und kreisen in vielfältigen, verstörenden Monologen um die wiederkehrende Frage: Was ist der Körper im Lauf der Zeit? Ursprünglich für ein Publikum vor Ort geplant, hat das Team um Hartmann die Inszenierung für einen Livestream grundlegend überarbeitet. In diesem neuen Setup kommen die Bildwelten des Videokünstlers Tilo Baumgärtel und die Musik von Samuel Wiese umso kraftvoller zur Geltung.
Theatertreffen-Juror Franz Wille zur Inszenierung
Was hier von Thomas Manns Hochgebirgs-Bildungsroman an Textmaterial bleibt, sind im Wesentlichen das „Schnee“-Kapitel und das allerletzte Kapitel mit den brutalen Schlachtenszenen des Ersten Weltkriegs. „Schnee“ ist eine Erzählung des langsamen Orientierungsverlusts während einer Skitour bis kurz vorm Erfrieren, immer durchschossen mit den Gewaltexzessen des Frontkriegs.
Regisseur Sebastian Hartmann zeigt diese Erfahrungsräume von Kontrollverlust, Ohnmacht und Gewalt als zunehmend expressive Performance eines anonymen, weißgeschminkten, unförmig wattierten Ensembles. Keine Spur mehr von den hochkontrollierten narrativen Strukturen des Romans, denen er in seiner ersten „Zauberberg“-Inszenierung vor zehn Jahren in Leipzig noch gefolgt war. Der Erzählfaden ist mittlerweile in alle Winde verstreut, identifizierbare Figuren sind abhandengekommen, selbst nach Hans Castorp kann man vergeblich suchen.
Auch das Deutsche Theater Berlin war zur Premiere geschlossen. Stattdessen wurde die Arbeit an einem einzigen Datum, dem 20. November, als Livestream gezeigt, aufgezeichnet aus unterschiedlichsten Kameraperspektiven vor einem leeren Zuschauerraum: Pandemietheater. Zu sehen war ein Bilder-Flow aus Dissoziation und Auflösung. Das Nacheinander der verwendeten Texte ist ein wildes Schnipselwerk, in dem sich Raum und Zeit zergliedern. Traumsequenzen, in denen sich Castorp in arkadischen Landschaften wähnt, wechseln mit Mord- und Hexenfantasien, mit Naturbeschreibungen und Reflexionen über den Unterschied von toter und lebendiger Materie zu Fragen des Lebens schlechthin – „Was ist der Körper?“ – und Impressionen aus dem Röntgenlabor des Lungensanatoriums. Dazwischen erscheint immer wieder Markwart Müller-Elmau mit zittrig-fiebernden Beschwörungen der immer blutigeren Weltkriegsszenerien. Die Schauspieler*innen agieren durchweg auf hohem Energieniveau: schmerzverzerrte Gesichter, panische Auftritte, Verzweiflungsflüstern oder hypermechanischer Bewegungsirrsinn.
„Ich bin der Welt abhanden gekommen“ – dieses leitmotivische Castorp-Zitat des in siebenjähriger Liegekur allen talweltlichen Dingen enthobenen Zeitflüchtlings klingt plötzlich durch den Bilder- und Textsturm und beschreibt recht nüchtern und zutreffend die Situation. Dieses „Zauberberg“-Zeitbild trägt zwar nicht unbedingt zur Klärung der gegenwärtigen Verhältnisse bei, hat sie dabei aber ziemlich gut getroffen.
Sebastian Hartmann – Regie und Bühne
Adriana Braga Peretzki – Kostüme
Samuel Wiese – Musik
Tilo Baumgärtel – Videoanimation
Lothar Baumgarte – Licht
Claus Caesar – Dramaturgie
Jan Speckenbach – Livestream Bildregie
Marlene Blumert, Max Hohendahl, Dorian Sorg – Livestream Kamera
Lennart Löttker – Szenisches Video
Peter Stoltz – Head of Stream
Marcel Braun, Björn Mauder – Sendeton
Marcel Braun, Eric Markert – Ton
Mit
Elias Arens, Manuel Harder, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege, Niklas Wetzel
Samuel Wiese – Live-Musik