Gespräch | 10 Treffen: Responsibility Treffen
Um postkoloniale Kritik in den Diskurs zur Wahrnehmung der ukrainischen Kultur einzuführen und Aneignung zu thematisieren, werden wir gemeinsam mit den eingeladenen Teilnehmenden den Ursprung und die originäre Erscheinung der ukrainischen Kultur in Westeuropa diskutieren.
Kritik an Aneignung ist zwar im globalen Kontext kein neues Thema, wenn es aber um die postkoloniale Subjektivität von Ländern geht, die im 20. Jahrhundert zur Zugehörigkeit zur UdSSR gezwungen wurden, löst sie mitunter unbewusste Widerstände aus. Gleichzeitig können jedoch unangefochtener Imperialismus und nicht hinterfragter russischer Kolonialismus als Hauptgründe für die beispiellos große Unterstützung der militärischen Aggression gegen die Ukraine in der russischen Bevölkerung ausgemacht werden.
Dass es „unbequem“ ist, über das Erbe der Aneignung zu sprechen, ist außerdem auf die Tatsache zurückzuführen, dass diverse Machthaber über Jahrhunderte hinweg ihre Weigerung, über die Ukraine als Subjekt zu sprechen, zu rechtfertigen versuchten, indem sie den Mythos erfanden, dass die Ukraine nicht nur unfähig ist, über sich selbst zu sprechen, sondern als Diskussionsthema erst gar nicht existiert. Um eine Diskussion über dieses Thema anzustoßen, werden wir den Bestätigungsfehler untersuchen, mit dessen Hilfe die ukrainische Kultur exotisiert oder in ihrer Existenz gleich gänzlich bestritten wird.
Biografien der Beteiligten:
Prof. Karolina Wigura ist Ideenhistorikerin, Soziologin und Journalistin. Sie ist Mitglied des Verwaltungsrats der Stiftung Kultura Liberalna mit Sitz in Warschau, Senior Fellow des Center for Liberal Modernity mit Sitz in Berlin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich für Soziologie der Universität Warschau. Wigura studierte Sozialwissenschaften, Philosophie und Politikwissenschaften an den Universitäten Warschau und München. Anschließend promovierte und habilitierte sie an der Universität Warschau. In ihren Arbeiten beschäftigt sich mit der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Emotionen in der Politik sowie mit der Ethik der Erinnerung. Von 2016 bis 2018 war sie Co-Direktorin des Polnischen Programms am St. Antony’s College der University of Oxford. 2008 erhielt sie den Großen Pressepreis für ihr Interview mit Jürgen Habermas „Europa in der Todeslähmung”. Sie ist Autorin von „Die Schuld der Nationen: Vergebung als Strategie der Politik“ (Józef-Tischner-Preis 2012) und „Die Erfindung des modernen Herzens. Philosophische Quellen des zeitgenössischen Denkens über Emotionen“ (Nominierung für den Tadeusz-Kotarbinski-Preis 2020). Derzeit bereitet sie, zusammen mit Jarosław Kuisz, ein Buch über die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf Mittel- und Osteuropa für den Suhrkamp Verlag vor.
Die ukrainische Kuratorin, Wissenschaftlerin, Kulturwissenschaftlerin, Kunst- und Kulturmanagerin Kateryna Tarabukina lebt und arbeitet in Berlin und ist Mitglied der Leitung von Vitsche e. V. In ihrer wissenschaftlichen und kuratorischen Arbeit beschäftigt sie sich vor allem mit Forschung zu Erinnerung und mit internationalen, transdisziplinären Praktiken mit dem Ziel, blinde Punkte in der Topografie der Erinnerung aufzuzeigen, die Stimme der Ukraine zu stärken und die ukrainische Subjektivität in Deutschland zu prägen. Seit einem Jahr konzentriert sich Tarabukina auf Projekte, die dabei helfen können, eine gemeinsame Sprache zu finden, um mit dem Berliner Publikum über die russische Aggression gegen die Ukraine zu sprechen und herauszufinden, wo die grundlegenden Unterschiede im Verständnis von wesentlichen Konzepten wie Freiheit, Frieden und Sicherheit in den verschiedenen geopolitischen Regionen der Ukraine, Polens und Deutschlands liegen. Das Hauptanliegen der jüngsten Projekte ist es, Gemeinsamkeiten und das gegenseitige Verständnis zu finden, die notwendig sind, um die Ukraine beim Sieg im Krieg zu unterstützen.
Kateryna Botanova, Kulturkritikerin, Kuratorin und Autorin aus Kyjiw, lebt und arbeitet in Basel. Sie schreibt über Dekolonialität, Solidarität und Fürsorgearbeit, mit einem Schwerpunkt auf künstlerischen Praktiken und gesellschaftlichen Dynamiken im globalen Süden, Osteuropa und vor allem in der Ukraine. Sie ist Ko-Kuratorin der spartenübergreifenden Biennale Culturescapees (Basel) und Mitherausgeberin ihrer Anthologien. Zuvor war sie Direktorin des Zentrums für Zeitgenössische Kunst in Kyjiw.
Andriy May ist Regisseur, Schauspieler und Theaterfestivaldirektor. Im Jahr 2001 gründete er das New Drama Theatre Studio, wo er sich mit der Produktion neuer dramatischer Texte beschäftigte. Im Jahr 2008 gründete er in Cherson das Vsevolod-Meyerhold-Zentrum und das Theaterfestival Lyutyi und begann seine Arbeit im Bereich des dokumentarischen und ortsspezifischen Theaters. 2011 organisierte er zusammen mit seinen Kolleg*innen in Kyiv den Schauspielwettbewerb Contemporary Play Week und das Documentary Theatre Festival. Von 2013 bis 2016 war er Regisseur und Schauspieler am Nationaltheater Ivan Franko in Kyjiw. Seit 2020 ist er Direktor des Mykola-Kulisch-Theater in Cherson und hat rund 50 Vorstellungen in verschiedenen Theatern und Ländern inszeniert. Ende März 2022 verließ er das von russischen Truppen besetzte Cherson mit seiner Mutter und seinem 7-jährigen Sohn in Richtung Deutschland, wo er 2022 Aufführungen und Projekte am Schauspielhaus Köln, am Hans Otto Theater in Potsdam und am Theater der Keller in Köln realisierte.
Eva Yakubovska ist eine Regisseurin, Aktivistin und Theatermanagerin aus der Ukraine, die derzeit in Berlin lebt. Im Bildungsbereich sind ihre Hauptinteressen Ethnologie und Sprachphilosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie arbeitet in diesem Rahmen durch reale Erfahrungen mit den Mitteln der Kunst. Ihr Schwerpunkt im Theater ist das Überdenken post-sowjetischer und industrieller Räume. Sie gründete das unabhängige Theater Sklad 2'0 in der Ukraine. Seit 2016 ist sie CEO und Programmdirektorin des ukrainischen Theaterfestivals Kit Gavatovycha. 2019 gründete sie die Theaterresidenz Catch a Cat in Berlin; 2022 war sie Mitbegründerin von Vitsche e. V. und wurde Vorstandsmitglied.
Karolina Wigura – Ideenhistorikerin, Soziologin, Journalistin
Kateryna Tarabukina – Kuratorin und Teil der Leitung Vitsche e. V.
Kateryna Botanova – Kulturkritikerin, Kuratorin, Autorin
Andriy May – Regisseur, Schauspieler und Theaterkurator
Moderation Eva Yakubovska – Regisseurin, Aktivistin und Ko-Gründerin Vitsche e. V.
Die Veranstaltung wird gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.
Zusätzliche Informationen vom Ukrainischen Institut und Vitsche e. V.