© Anna Niedermeier

(Un-)Learning Jazz

Das Lehren und Lernen von Jazz und improvisierter Musik steckt voller vermeintlicher Widersprüche. Die Jazzkultur pflegt ihre Ideale von spontaner Kreativität und Originalität und braucht für ihr „Erlernen“ schließlich doch eine gewisse Regelhaftigkeit. Gerade in der akademischen Lehre scheint das Gewicht der Überlieferung kaum noch mit dem Gestus der Befreiung von allem Konventionellen und Lehrbaren vereinbar, wie man ihn etwa im Free Jazz und der Freien Improvisation antrifft. Gleichzeitig setzt die Vermittlung von Jazz auch ein definiertes Spektrum an Spielweisen und Formkonventionen voraus – also: Genregrenzen. Mit diesen zu brechen, hat im Jazz wiederum längst Tradition.

Die folgenden Beiträge mit und über Künstler*innen des Jazzfest Berlin 2023 loten diese Spannungsfelder aus und werden dabei ganz konkret: Wie funktioniert die Ausbildung an Musikhochschulen und in der Basisarbeit mit Kindern, welche Kritik am akademischen System ist berechtigt, welche ist purer Jazz-Populismus? In drei Kapiteln kommen alle diese Facetten zur Geltung. „(Un-)Teaching Improvisation“ widmet sich der Vermittlung musikalischer Improvisationskompetenz zwischen Akademisierung und informellem Voneinander-Lernen. „(Un-)Classifying Music“ geht der „Creative Music“ als einem Ansatz nach, der u. a. die von einer weiß dominierten Musikindustrie geprägten Identifikationsmuster, die mit dem Wort „Jazz“ nach wie vor verbunden werden, zu überwinden versucht – und bietet Einblicke in Henry Threadgills kreatives Musikschaffen sowie einen Vorgeschmack auf dessen Kooperation mit Silke Eberhards Potsa Lotsa XL beim diesjährigen Jazzfest Berlin. Eine kurze Hommage an Karl Berger erinnert mit fotografischen Impressionen und liebevollen Zeilen seiner Frau Ingrid Sertso ans Werk des in diesem Jahr verstorbenen Mitbegründers und Leiters des Creative Music Studio als Mentor und Musiker. Und „(Un-)learning to Play“ beleuchtet die Hintergründe zweier Projekte im Festivalprogramm, bei denen kreative Schaffensprozesse von und mit Kindern im Vordergrund stehen.

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(Un-)Teaching Improvisation

Die Improvisation steht, so heißt es, mehr als alles andere im Jazz für das Unvorhersehbare und Spontane, für Kommunikation, Spiel und Intuition, für Originalität und Innovation – Dinge, die meist schwer zu erlernen sind. Läuft der Jazz infolge seiner zunehmenden Institutionalisierung als „hochkulturelles“ Bildungsgut Gefahr, seinen intuitiven und progressiven Charakter zu verlieren? Und inwiefern müssen Musiker*innen das an Universitäten und Konservatorien mühsam Erlernte erst wieder verlernen, um ihre eigene künstlerische Handschrift zu finden?

Nach einer essayistischen Einführung gehen Thomas Gläßer und Marlies Debacker in einem Podcast den Fragen nach, was Improvisationsmusiker*innen durch die Auseinandersetzung mit Tradition und Kanon im Horizont von Jazz und Neuer Musik (ver-)lernen können und ob die Akademisierung einem intuitiven Verstehen von Musik grundsätzlich abträglich ist. Fred Frith erzählt im Videointerview mit Peter Margasak aus seiner langjährigen Erfahrung als Professor für Freie Improvisation am Mills College in Kalifornien und spricht u. a. über die Widerstände und Widersprüche, die ihm in dieser Funktion begegnet sind. Die Saxofonistin Marthe Lea rekapituliert Stationen ihrer künstlerischen Selbstfindung und verortet sich dabei sowohl inner- als auch außerhalb des als besonders kreativitätsfreundlich geltenden Bildungssystems Norwegens. Und Andrew Cyrille berichtet im Gespräch mit Peter Margasak aus einer Zeit, in der Jazz noch eine durch und durch mündliche Tradition war und am „Konservatorium der Straßen“ in Clubs und Marching Bands, zwischen Polka, Merengue, Calypso, Bebop und Cool Jazz, durch Zuhören, Nachspielen und Mitmischen mit den Klangkörpern der Stadt und den Großen der Szene erlernt wurde.

„So viel wie möglich lernen und möglichst alles vergessen, wenn man auf die Bühne geht – das ist die ewige Paradoxie.“ 

Marlies Debacker

Jazz lehren und lernen – zwischen Diskursfähigkeit und kreativer Überschreitung

von Thomas Gläßer

Jazz ist eine hybride Musik: populär, künstlerisch, akademisch, subkulturell, konservativ, transgressiv, spontan, konstruiert. Vielleicht nicht immer alles zugleich, aber doch oft zwischen verschiedenen Qualitäten schillernd, oszilliert sie zwischen der Stabilisierung einer Genre-Identität und dem Impuls der kreativen Überschreitung hin zu einer Definitionen transzendierenden „Creative Music“ – um einen Begriff zu zitieren, mit dem erstmals in den 1960er-Jahren eine Reihe von Musiker*innen, Komponist*innen und Kollektiven in den USA ihr von Jazz und Schwarzen Traditionen, zeitgenössischen Experimenten in der europäischen Kunstmusik und außereuropäischen Musikkulturen geprägtes Schaffen bezeichnen.  

So vielfältig wie diese „Creative Music“ sind die Arbeits- und Aneignungsweisen, die Lernwege und Wissensbestände, die ihre Entstehung ermöglichen und begünstigen. Während die frühe Jazzgeschichte weitestgehend von informellen Lernprozessen in Bands und Ensembles geprägt ist, bieten  beginnend in den USA ab Mitte der 1940er-Jahre  immer mehr Hochschulen, Colleges und Konservatorien „akademische“ Jazzausbildungen an. Schon früh stehen sie wegen einer ausgeprägten Tendenz zur Standardisierung von Repertoire und methodischen Ansätzen in der Kritik und werden u. a. bezichtigt, den Jazz zu vereinheitlichen und auf oberflächliche Art aneigenbar zu machen, ihn seiner Authentizität, der künstlerischen Selbstermächtigungsdynamik und emotionalen Kraft zu berauben.

 

Andererseits entstehen auch im Hochschulbereich immer wieder interessante künstlerische Möglichkeitsräume – zum Beispiel an der Wesleyan University, dem Mills College oder der University of California San Diego. Die entwickelten Lehransätze und Arbeitsweisen orientieren sich an der Förderung eigenständiger künstlerischer Positionen und kreativer Innovation, legen Wert auf intellektuelle Exploration, Diskursfähigkeit und eine intensive Erkundung der Wahrnehmung, beziehen teilweise auch die spirituell-rituellen Momente des Musizierens bewusst ein – und haben sich über Jahrzehnte als fruchtbarer Boden für die (Weiter-)Entwicklung bemerkenswerter Musiken und Musiker*innen erwiesen. Und natürlich gibt es weiterhin zahllose begabte Musiker*innen, die sich ihre eigenen autodidaktischen und informellen Wege suchen und ihr Wissen außerhalb der Institutionen an Mitmusiker*innen und Schüler*innen weitergeben.

Interview mit Marlies Debacker

Marlies Debacker

Seit ihrem Studium an der Hochschule für Musik und Tanz Köln ist die belgische Pianistin Marlies Debacker aus der zeitgenössischen Musikszene Kölns nicht wegzudenken. Debacker steht für eine neue Generation von Musiker*innen, die sich gleichermaßen mit der Kunst der Improvisation und mit komponierter Musik auseinandersetzen und diese geschickt miteinander verweben. Im Gespräch mit Thomas Gläßer spricht sie über die Entwicklung von inneren Klangvorstellungen und ihre Umsetzung, über das Körperliche und das Nichtwissen beim Spielen und über immer wieder zu vereinende Widersprüche.

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Interview mit Fred Frith

Der britische Gitarrist Fred Frith zählt als Improvisationskünstler zu den großen Namen in der experimentellen Musik und brachte in den 1960er-Jahren mit der Gruppe Henry Cow den Experimental Rock mit ins Rollen. Mit seinen Band-Kolleg*innen bewegte er sich in verschiedenen musikalischen Feldern – von Improvisation über elektro-akustische Experimente bis hin zu Kompositionen für Film, Theater und Tanz. Frith spielte in zahlreichen Band-Konstellationen, kollaborierte mit Künstler*innen unterschiedlicher Sparten und dozierte u. a. bis 2020 am Mills College in Oakland, Kalifornien – einem der Epizentren experimenteller Musik in den USA. Dem Autor und Musikjournalisten Peter Margasak erzählt er im Gespräch, wie sich die Lehre improvisierter Musik in den USA verändert und welchen Einfluss seine Tätigkeit als Hochschullehrer für ihn als Musiker hat.

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Interview mit Marthe Lea

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Die hochenergetischen Kompositionen der norwegischen Multiinstrumentalistin und Sängerin Marthe Lea bilden ein Füllhorn an musikalischen Einflüssen, sind inspiriert von norwegischer Folkmusik, äthiopischem Soul und marokkanische Gnawa-Grooves. Ihre Auftritte sind geprägt von Spontanität und einer überschäumenden Lebensfreude, die sie mit ihren Mitmusiker*innen – allesamt Multiinstrumentalist*innen – teilt. Mit Peter Margasak spricht sie über ihre Zeit an der Königlichen Musikakademie in Oslo und über die (Un-)Vereinbarkeit des Leitens als Bandleaderin und des ekstatischen Loslassens auf der Bühne.

Andrew Cyrille

Nur wenige lebende Jazzmusiker*innen haben sich derart tief in die Musikgeschichte eingeschrieben wie Andrew Cyrille, der fünf Tage nach seinem Auftritt beim Jazzfest Berlin seinen 84. Geburtstag feiern wird. Bekannt für seine prägende Rolle in der Entwicklung des Free Jazz, u. a. als einer von Cecil Taylors visionärsten Perkussionisten, trägt Cyrille in gewisser Weise die gesamte Geschichte des Jazz in sich: Als Teenager verbrachte er viel Zeit mit Musiker*innen wie Philly Joe Jones und Max Roach und spielte Gigs entlang der gesamten kulturellen Bandbreite musikalischer Traditionen, die ihm in seiner Heimatstadt New York begegnete. Im Interview mit Peter Margasak spricht er über das Lernen von älteren Generationen, der Schule des „Bandstands“ und über seine Arbeit als Dozent.

Andrew Cyrille

Andrew Cyrille

© Marek Lazarski

Andrew Cyrille im Gespräch

Peter Margasak: Du gehörst zu einer Generation, die im Grunde das Spielen direkt auf der Bühne gelernt hat. Offensichtlich, war von früh an Philly Joe Jones ein wichtiger Mentor für dich. Aber dann warst du auch auf der Juilliard School und hast dir darüber hinaus vieles selbst beigebracht. Deine Ausbildung vereint zwei Systeme: die mündliche Überlieferung, das Lernen direkt von anderen Musiker*innen, auf der einen und das Jazzstudium an der Universität auf der anderen Seite. Ich weiß, dass du in der Schule bereits in einer Marschkapelle gespielt hast. War das deine erste praktische musikalische Erfahrung oder hattest du als Kind bereits ein Schlagzeug zuhause?

Andrew Cyrille: Wir hatten zuhause ein Klavier. Darauf habe ich herumgetrommelt. Ich hatte nie richtigen Klavierunterricht. Den hatte nur meine Schwester, die etwas älter war als ich. Als ich alt genug war, spendete meine Mutter das Klavier einem Club, in dem sie Mitglied war. Das Klavier war also weg, aber ich habe dann wenig später angefangen im Hinterhof auf Töpfen und Pfannen herumzutrommeln. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Musik war immer Teil meines Lebens. Meine Mutter sang viel, und morgens, wenn wir zur Schule gingen, lief immer das Radio. In der Schule gab es einen Spielmannszug, der deutsche Marschmusik spielte. Die Musiker*innen dort, die älter als ich waren und eigentlich vom Jazz kamen, waren der Grund, dass ich bei der Sache blieb und mehr über das Trommeln lernen wollte. Sie erzählten mir, dass es neben der Marschmusik, die wir in der Schulkapelle spielten, auch noch viele andere Arten gab, zu trommeln. Man zeigte mir, was ein Schlagzeug ist. Das wiederum entfachte mein Interesse, ein Instrument zu lernen, das sich vom einfachen Trommeln unterscheidet, weil alle vier Gliedmaßen gleichzeitig beteiligt sind.

Peter Margasak: Wann hast du dir dein erstes eigenes Schlagzeug zugelegt?

Andrew Cyrille: Das war in meinem ersten Jahr an der High School. Ich kaufte es damals von einem Nachbarn um die Ecke. Es war ein altes Drum Set, wie es von Leuten wie Chick Webb und Zutty Singleton gespielt wurde, mit einer großen Bass Drum. Die Bass Drum hatte ein Licht im Innern, sodass das Fell von vorne leuchtete. Mein nächstes Schlagzeug ähnelte denen, die Charlie Persip, Art Blakey, Roy Haynes oder Philly Joe Jones spielten. Das war auch das erste „richtige“ Drum Set, das ich als Teenager für Auftritte verwendete – und ich spiele bis heute auf so einem Set.

Peter Margasak: Wie wichtig war für dich das Zuhören und der Austausch mit Musiker*innengrößen der damaligen Zeit für deine Ausbildung und dein Schlagzeugspiel?

Andrew Cyrille: Das war für mich eine weitere Seite dessen, was wir unter Ausbildung verstehen, etwas, das einen auf eine bestimmte Art zu denken lehrt: diesen Musiker*innen zuzuschauen und zuzuhören oder auch mit ihnen darüber zu sprechen, wie bestimmte Genres gespielt werden – das wird nicht an der Universität unterrichtet. Man könnte es die „Universität der Straße“ nennen. In gewisser Weise war das ebenso ein Konservatorium wie etwa die Juilliard School, denn was die spielten und weitergaben, hatten sie von vorherigen Generationen gelernt. Das Wort ‚Konservatorium‘ bedeutet ja schlicht, dass etwas aus früheren Zeiten ‚konserviert‘, also bewahrt wird. An den Hochschulen bewahren sie Musik, die von anderen in der Vergangenheit gespielt wurde: Bach, Beethoven, Mendelssohn, wer auch immer. Ich sage gar nicht, dass das universitäre System keine kreativen Aspekte besitzt. Aber man muss sich vor Augen halten, was das Wort ‚Konservatorium‘ bedeutet und woher es kommt. Dass ich von Philly Joe Jones gelernt habe und Art Blakey oder Max Roach zugehört und zugesehen habe, das war auch ein Konservatorium, nur eben kein institutionalisiertes. Heute ist die mündliche Tradition in gewisser Weise institutionalisiert. Auch sie findet man jetzt in Gebäuden, in die Menschen gehen und lernen und am Ende einen Abschluss dafür bekommen. Max Roach, Philly Joe Jones und Art Blakey, die haben keine Abschlüsse vergeben. Die einzige Auszeichnung, die du bekommen konntest, war, wenn du auf der Bühne standest und die Musik nicht nur gespielt, sondern gut gespielt hattest, und sie dich dafür respektierten.

Peter Margasak: Bevor du an der Juilliard School studiert hast, hattest du auch in Latin Bands und Polka Bands gespielt. Wenn man als Musiker*in sein Geld verdient, muss man natürlich alle möglichen Genres bedienen. Und in New York gab es für jeden Stil ein Publikum. Ich nehme an, dass das auch Teil deiner Ausbildung war, dich immer wieder in neuen musikalischen Kontexten zurechtzufinden.

Andrew Cyrille: Das waren zweifellos die verschiedenen Kurse. Indem ich lateinamerikanische Musik mit lateinamerikanischen Musiker*innen spielte, lernte ich wie man Mambo oder Cha Cha spielt. Ich spielte auf Bar-Mizwas, Polkas, ich spielte Musik aus der Karibik wie Merengues und Calypsos aus der Dominikanischen Republik oder Calypsos aus Jamaika und Trinidad. Um die Jobs machen zu können, musste man lernen, die jeweilige Art von Musik zu spielen, und in den meisten Fällen war es Tanzmusik. Und es gab nicht nur diese Genres, sondern auch Rhythm & Blues, Backbeat, Shuffle und solche Dinge. Immer und immer wieder habe ich diese Kurse belegt. Und wenn der Moment kam, dass irgendein bestimmter Rhythmus am Schlagzeug gefragt war, hatte ich ihn in meinem Repertoire. Die meisten von uns haben damals dasselbe gemacht, um Jobs zu bekommen, Geld zu verdienen und ihr Instrument zu lernen.

Peter Margasak: War deine Tätigkeit am Antioch College deine erste professionelle Lehrerfahrung, zumindest im universitären Kontext?

Andrew Cyrille: Ich erinnere mich nicht, ob ich vorher schon privat Unterricht gab. Der Grund, warum ich an die Universität ging, um zu unterrichten, war simpel: Cecil Taylor hatte mich gefragt.

Peter Margasak: War das eine Herausforderung für dich, da du vorher nie im universitären Kontext unterrichtet hattest? Hat es dir Freude gemacht? Und hattest du schon Interesse am Unterrichten, bevor du gefragt wurdest?

Andrew Cyrille: Nicht wirklich. Dabei unterrichte ich sehr gerne, und zwar bis heute. Nächste Woche beginnt mein Kurs im Wintersemester an der New School of Music. Ich arbeite gerne mit den Student*innen zusammen, ich bringe ihnen gerne Dinge bei, die ihnen dabei helfen, mehr über sich zu erfahren oder das zu tun, was sie in ihrem Leben musikalisch erreichen wollen. In gewisser Weise sagen sie: „Hilf mir, zeig mir, was ich für meine Ziele tun kann, oder wie ich etwas aus deinem Erfahrungsschatz lernen kann.“

Peter Margasak: Du unterrichtest jetzt seit rund 50 Jahren. Eine Sache interessiert mich: Einige deiner Mitmusiker*innen in deinen eigenen Bands wie David Ware oder zuletzt Søren Kjærgaard haben vermutlich von dir in derselben Weise gelernt wie du damals von Philly Joe Jones in den 1950er-Jahren. Glaubst du, dass es da eine Kontinuität dieser Art des Lernens von anderen direkt auf der Bühne gibt, oder war das Interesse dieser Musiker in der Zusammenarbeit mit dir ein anderes?

Andrew Cyrille: Nun, wir lernen ständig dazu, während wir dieses Leben leben, ich genauso wie du als Journalist. Du stellst mir Fragen und lernst so etwas über das, was ich tue. Und manchmal lernst du dabei sicher auch Dinge, die für dich als Journalist von Bedeutung sind. Da gibt es immer wieder gegenseitige Bereicherungen. Aber zurück zu deiner Frage und dem Lernen von und mit Musiker*innen wie Søren Kjærgaard. Auch sie lernen und bekommen ihre Informationen zu einem gewissen Grad von denselben Quellen wie ich. Søren Kjærgaard zum Beispiel kommt aus Kopenhagen, wo viele der Jazz-Musiker*innen in Dänemark leben, und studierte Klavier. Einerseits natürlich Jazz, aber er studierte auch das klassische Repertoire, das ihm an den Hochschulen vermittelt wurde. Er bringt also diese beiden Dinge zusammen. Als wir uns kennenlernten, bat er mich darum, meine musikalischen Ressourcen in die Kompositionen einzubringen, die er für mich geschrieben hatte. Manchmal funktionierte es sehr gut, manchmal jedoch auch nicht. Manchmal sagte ich: „Ist das okay so?“, oder: „Vielleicht kannst du das hier etwas anders machen.“ Wie in jedem anderen Beruf müssen wir kreativ denken und handeln. Das bedeutet auch, dass man manchmal Lösungen für ein bestimmtes Problem finden muss.

Im Prinzip ist es das, was ich auf deine Frage antworten kann. Es geht um Menschen, die sich austauschen. Selbst wenn ich mit Musiker*innen aus Japan zusammenarbeiten würde – und das habe ich auch schon getan –, die nicht wirklich Bebop, Swing, Rhythm & Blues oder ähnliches spielen, konnte ich trotzdem eine musikalische Verbindung zu ihnen aufbauen, insofern wir alle mit Klängen spielten. Es ist nur eine Frage der Einstellung und des Willens. Und wenn man den Körper sozusagen beiseitelässt, dann kann eine geistige Verbindung entstehen. Natürlich haben wir Körper und wir müssen mit diesen Körpern arbeiten. Aber wenn ich mit jemandem von irgendwo auf der Welt zusammenspiele, was auch immer diese Person spielt, höre ich zu und höre eine Schwingung heraus, mit der ich etwas anfangen kann. Ich bringe dann meinen Anteil dazu und auf der Basis von Klang und dieser Schwingung können wir eine Verbindung aufbauen. Obwohl wir alle unterschiedlich sind, sind wir doch alle auch Menschen, verstehst du? Es geht also darum, darüber nachzudenken, wie wir auf dieser Erde zusammenleben wollen. Und klar, manchmal gibt es Differenzen, aber manchmal muss man diese auch beiseitelegen.

Peter Margasak: Lass uns beim Thema Unterrichten in die Gegenwart springen. Die Ausbildungsmöglichkeiten für Jazzhaben sich grundlegend verändert. In den 1960er-Jahren gab es praktisch keine offizielle Jazz-Ausbildung. Heute ist es beeindruckend, wie virtuos viele Musiker*innen spielen können. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass viele von ihnen trotz ihrer Fertigkeiten noch nicht ihre eigene Stimme gefunden haben. Ich glaube, an den Hochschulen besteht fast die Gefahr, dass viele Musiker*innen sehr gut darin sind, die Dinge zu lernen, die andere ihnen beibringen, aber nicht herausfinden, wer sie sind. Sie werden dann zwar sehr gut, aber spielen nach einem festen Schema. Hier würde mich deine Meinung interessieren.

Andrew Cyrille: Ich weiß nicht, wie an anderen Institutionen unterrichtet wird. An der New School habe ich Student*innen aus der ganzen Welt, und jede*r Lehrer*in hat eine eigene Biografie und eigene Erfahrungen. Auch meine Biografie ist, was sie ist. Die Student*innen können sich immer ansehen, mit wem ich zusammengearbeitet habe und was ich in meinem Leben gemacht habe. Im Grunde spreche ich mit ihnen und sie sprechen miteinander. Ich versuche herauszufinden, was sie interessiert, ich höre ihnen zu, und dann sehe ich, wie ich ihnen weiterhelfen kann.

In meinen Kursen gibt es nicht eine bestimmte Art von Student*innen. Manchmal gibt es zwei Bassist*innen, manchmal eine*n Schlagzeuger*in, manchmal zwei Pianist*innen. Sie kommen zu mir und ich sehe mir an, was sie tun, wie sie spielen, und was sie erreichen möchten. Und dann muss ich eine Art gemeinsamen Nenner finden, etwas, das es ihnen erlaubt, sich selbst nach ihren Vorstellungen auszudrücken und gleichzeitig die anderen Student*innen bei der Realisierung ihrer Vorstellungen zu unterstützen. Genau so wird man ein*e professionelle*r Musiker*in. Du gibst den anderen, was sie brauchen, und sie geben dir zurück, was du von ihnen brauchst. Nach diesem Prinzip unterrichte ich. Aber auch wenn ich dafür diese allgemeine Formel benutze, ist natürlich jede*r verschieden. Man muss die individuellen Persönlichkeiten berücksichtigen und sie so zusammenbringen wie ein Basketball- oder Baseball-Team. Und wenn es an der Zeit ist zu performen, dann kommen all diese Individuen zusammen und werden eine Einheit.

Du sprachst vorhin über routinemäßiges Spiel. Ich denke, dass auch das Vorgehen von Ärzt*innen oder Anwält*innen in gewisser Weise oft nach Schema F abläuft. Sie sind im Grunde alle gleich, ob man zum einen oder zur anderen geht, ist egal. Aber alle haben ihre eigene kunstvolle Herangehensweise, dir zu geben, was am besten für dich ist. Von Kindesalter an helfen dir solche Schemen. A-E-I-O-U oder A-B-C-D-E oder K-A-T-Z-E. Aber wenn man älter wird, kann man diese Basis nehmen und etwas mehr oder weniger radikal anderes damit machen. Und einige Menschen sind eben sehr, sehr kreativ und denken an das, was allen hilft. So ist das auch mit den Student*innen. Sie kommen in meine Kurse und ich sage ihnen nicht, was sie zu tun haben. Sie sollen tun, was sie glücklich macht. Wenn jemand nicht Musiker*in werden möchte, dann eben nicht. Sie müssen keine Musiker*innen werden, sondern können auch eine Firma im Musikbusiness gründen. Ich forciere nichts. Sie bleiben, weil ich ihnen den Raum gebe, eine Stimme zu finden und das zu tun, was sie möchten.

Als ich vor 30 Jahren anfing an der New School zu unterrichten, waren Brad Mehldau und Chris Potter zusammen mit Walter Blanding in derselben Klasse. Im Laufe der Zeit kamen viele anderen dazu; wo sie jetzt gerade sind, weiß ich nicht. Aber ich habe ihnen immer ihre eigenen Entscheidungen zugestanden. Zurück zu dem Thema, das du angesprochen hast bezüglich der Musikhochschulen, und dass dort primär technische Fertigkeiten gefördert werden: Es gibt immer diese Institutionen, die den Studierenden erzählen, was sie zu erfüllen haben, um einen Abschluss zu bekommen. Diese Bebop- oder Swing-Stücke oder was auch immer im Lehrplan steht. Die spielst du, dann wirst du beurteilt und bekommst einen Abschluss.

Peter Margasak: Es gibt bei dir diese Tradition von Solo-Aufnahmen und Perkussions-Duos wie mit Milford Graves, oder auch dein Quartett mit Kenny Clarke, Milford Graves und Famoudou Don Moye. Gab es zu dem Zeitpunkt, als du deine ersten Aufnahmen Ende der 1960er-Jahre machtest, abgesehen von Baby Dodds Platte überhaupt schon Soloalben eines Jazz-Schlagzeugers? Ich habe den Eindruck, dein Ansatz war damals ganz neu. Es interessiert mich, wo diese Sache mit demrein Perkussiven herkommt, oder ob du das gezielt verfolgt hast. Dieses Jahr ist wieder ein Soloalbum von dir erschienen. Das Format scheint also sehr fruchtbar für dich zu sein …

Andrew Cyrille: Mein letztes Soloalbum trägt den Titel „Music Delivery / Percussion“. Ich wollte mir etwas einfallen lassen, das sich von allem anderen ein wenig unterscheidet. Ich habe diese ganzen Perkussionsinstrumente, also beschloss ich, etwas zu machen, das nur in diesem klanglichen Spektrum liegt: Tamburine, Kuhglocken, Becken und solche Sachen. Ich schrieb also diese Kompositionen, die in gewisser Weise auf weniger bekannte Musiker*innen Bezug nehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ich meine, man kann immer auf die Musik von Monk oder Charlie Parker und vielen anderen Musiker*innen zurückgreifen. Ich habe auch eine Hommage an Art Blakey aufgenommen, der sehr bekannt ist. Aber dieses Mal sagte ich mir, ich möchte etwas zu den Menschen machen, die mich unmittelbar beeinflusst haben. Einer davon ist Ahmed Abdul-Malik. Er hat mit Monk und einigen anderen zusammengearbeitet, weil er ein sehr guter Bassist war. Er lud mich ein, eine Aufnahme mit ihm und Tommy Turrentine zu machen.

Ich erinnere mich, dass ich als Teenager, ich muss so um die 18 gewesen sein, in einem Club in Brooklyn namens Terrible Village gespielt habe. Zu dieser Zeit tummelten sich die Musiker*innen in Brooklyn, und Malik war einer von ihnen. Ich erinnere mich, dass er eines Abends hereinkam und mich spielen hörte. Und er sagte: „Wow, du klingst wirklich gut, ich wette, du weißt sogar schon, wer du bist.“ Ich meine, da war ich 18, 19 Jahre alt, das ist mir natürlich in Erinnerung geblieben. Und dann beschloss er, dass er mit mir zusammenarbeiten wollte. Ich glaube, es war seine erste Aufnahme als Bandleader, „The Music of Ahmed Abdul-Malik“. Er hatte diese Komposition namens „La Ibkey“ und er forderte mich auf, etwas im Sieben-Viertel-Takt zu spielen, das zur Melodie passte. Zurück zu dem, was ich vorhin über Erfahrungen gesagt habe: Ich hatte keinerlei Erfahrungen mit einem Sieben-Viertel-Takt. Ich dachte fieberhaft darüber nach und sagte mir dann: Wenn ich einen Sechs-Viertel-Takt spiele und einfach einen Schlag hinzufüge, bin ich bei sieben. Also habe ich mir ein Metrum ausgedacht. Ich sagte mir: eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins; eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, … Insgesamt also sieben. Drei und drei sind sechs, plus eins ergibt sieben. Ich habe das so gespielt, wie ich den Rhythmus auf dem Schlagzeug mit dem Zusatzschlag konstruiert hatte. Ein Takt ist nichts anderes als eine Zählzeit, die beginnt und endet. Als ich ihm das vorspielte, sagte er: „Oh ja, das wird funktionieren.“ Aber es war etwas, das ich noch nie bei jemand anderem gehört hatte. Die Idee für „La Ibkey“ habe ich also daher, dass ich als Jugendlicher von Malik herausgefordert wurde. Als Hommage an ihn habe ich diesen Rhythmus auf meiner letzten Platte eingebaut.

Peter Margasak: Du lernst von anderen Musiker*innen, mit denen du zusammengearbeitet hast oder denen du zugehört hast, und dann entsteht durch deine eigene Persönlichkeit, deine Vision, daraus etwas Neues. Wie du sagst, es ist ein Kontinuum, ein ständiges Aufnehmen …

Andrew Cyrille: Lass mich noch eines sagen. Vielleicht ist das ein guter Abschluss. Wir sprechen von Ausbildung und wir sprechen von Klassikern. Hat Monk Stride-Piano von Musiker*innen wie James P. Johnson gelernt? Er hat viel Zeit mit Willie The Lion Smith verbracht, er ist zu diesen Sessions gegangen. Und Mary Lou Williams hat sich für mich ans Stride-Piano gesetzt und mir davon erzählt, wie hart alles ist. Im Grunde haben sie es alle von der vorherigen Generation gelernt – und mir ging es genauso. Meine Chronologie hat an einem bestimmten Punkt angefangen und genauso gibt es andere Musiker*innen, die nach mir kommen, die mehr von dem haben, was sie in ihrer Generation erreichen wollen

Konzerte mit Andrew Cyrille, Marlies Debacker, Fred Frith und Marthe Lea

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„I don’t really like the word jazz; I prefer creative improvised music, because there's confusion about what jazz means now.“ 

Henry Threadgill

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(Un-)Classifying Music

Zu (ver-)lernen sind mitunter nicht nur die Spielregeln der Musik, sondern auch die oft stereotypen Hör-, Denk- und Handlungsmuster, die infolge der Zuschreibung von Schlagworten wie „Jazz“ oder „zeitgenössische Improvisation“ Musikalisches mit Außermusikalischem vermischen.

Ein stilistisch wie gesellschaftlich durchlässigeres Modell steckt hinter dem Begriff „Creative Music“. In einem Essaybeitrag verortet der Musikwissenschaftler, Musiker und Jazzhistoriker Harald Kisiedu das u. a. von der Association for the Advancement of Creative Musicians prominent vertretene Konzept innerhalb einer langen Tradition an Zurückweisungen des Jazz-Begriffs durch Musiker*innen, die weder in musikalische noch in soziale Schubladen gesteckt werden möchten. Ein multimediales Feature zum Pulitzer-Preisträger Henry Threadgill und seiner Zusammenarbeit mit Silke Eberhard beim Jazzfest Berlin 2023 wirft zudem Schlaglichter auf das Leben und Werk eines der einflussreichsten Komponist*innen, Multiinstrumentalist*innen und Vordenker*innen der Creative Music – und reflektiert dabei die Rolle von Geschichte für aktuelle Musik aus einer weiteren Perspektive. Schließlich widmen wir einem der großen Mentoren der improvisierten Musik, dem kürzlich verstorbenen Mitbegründer und lebenslangen Leiter des Creative Music Studio Karl Berger, eine Würdigung seines Schaffens und Wirkens als Musiker und Vordenker des Intuitiven und eines „Flows“ in der Musik - mit einer Bilderstrecke und einigen liebevollen Zeilen der Erinnerung seiner Frau und Weggefährtin Ingrid Sertso.

(Un-)Learning Jazz

von Harald Kisiedu

Der Begriff „Jazz“ war immer schon ein instabiler Bedeutungsträger. Was die Sache von Beginn an kompliziert machte, ist, dass viele der vorwiegend mit „Jazz“ identifizierten Musiker*innen, wie Duke Ellington, Miles Davis, Ahmad Jamal, Max Roach, John Coltrane, Ornette Coleman, Yusef Lateef, Pharoah Sanders und nicht zuletzt Henry Threadgill, die Bezeichnung selbst ablehnten. Damit stellten sie Genregrenzen, rassifizierte und restriktive Vorstellungen von Abstammung und Tradition sowie die mit dem Wort „Jazz“ verbundenen Einschränkungen der Mobilität in Bezug auf musikalische Methoden, Konzepte und Praktiken grundlegend infrage. Die historische Erfahrung – so ließe sich argumentieren – hat sich in den „Jazz“-Begriff eingeschrieben, weshalb jede Möglichkeit einer vermeintlich unschuldigen Verwendung des Wortes ausgeschlossen ist.

Hervorgegangen aus der Schwarzen Freiheitsbewegung und ihrer Forderung nach sozialem Wandel qua Selbstbestimmung, gründeten Muhal Richard Abrams, Jodie Christian, Phil Cohran und Steve McCall am 8. Mai 1965 die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), ein bis heute einflussreiches Kollektiv von Schwarzen Experimentalmusiker*innen in der South Side Chicagos. Wie George E. Lewis in „A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music“ herausgestellt hat, nahm der Begriff Creative Music schon beim Gründungstreffen der AACM eine prominente Rolle ein, wo Abrams die Förderung von „Creative Music“ – verstanden als eine „Kultur der Kunst“ – zu einem der Ziele der Organisation erklärte: „We are promoting creative music as an art-culture“. [1]

In den frühen 1970er-Jahren hatte sich der Begriff „Creative Music“ durchgesetzt. Die Creative Construction Company, ein kurzlebiges Ensemble um Anthony Braxton, Leroy Jenkins und Wadada Leo Smith, nahm 1970 zwei gleichnamige Alben auf. 1973 veröffentlichte Wadada Leo Smith das Buch „notes (8) pieces source a new world music: creative music“, das laut dem Musiktheoretiker und AACM-Forscher Paul Steinbeck „die erste Monografie über zeitgenössische Improvisation in englischer Sprache“ [2] darstellte. 1971 gründeten Karl Berger, Ingrid Sertso und Ornette Coleman die Creative Music Foundation, deren Kernprogramm sich bis 1973 im Creative Orchestra Studio verstetigen sollte, und 1976 erschien Anthony Braxtons Album „Creative Orchestra Music“.

Henry Threadgill trat der AACM in den späten 1960er-Jahren bei und begann, an der Musikschule der Organisation zu unterrichten. Seit nunmehr über 50 Jahren hat der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Komponist, musikalische Denker und Multiinstrumentalist das Konzept der Creative Music an vorderster Front vertreten und nichtkommerziellen Formen von Schwarzer expressiver Kultur zu neuen Möglichkeiten verholfen, indem er den Diskurs um die Musik veränderte. Threadgill, so könnte man sagen, ist die Verkörperung jener ästhetischen Haltung, die Oliver Lake einst wie folgt umschrieb: „Der Begriff ‚Creative Music‘ drückt aus, dass man sich vorwärtsbewegt, dass man auf der Suche ist, dass man nicht stillsteht, sondern versucht, etwas möglich zu machen, dass man verschiedene Elemente der Musik verbindet und sich nicht an einen bestimmten Punkt begibt, um dort stehenzubleiben.“ [3]

© Anna Niedermeier

Wer spricht über wen?

Auszug aus einem Essay Henry Threadgills. Neben Text ist eine Skizze mit verschiedenen Gesichtern und abstrakten Personen abgebildet.

Henry Threadgill, “Where Are Our Critics?” The New Regime 1 (December 1968): p. 11-12.

Courtesy of Henry Threadgill

Der Aritkel „Where are our Critics?“ ist im Jahr 1968 in der ersten Ausgabe des AACM-Newsletters The New Regime erschienen. Threadgill nimmt darin den damals zunehmenden Unmut, vor allem unter Schwarzen Künstler*innen, über die „falschen und schlechten Konnotationen, Stigmata etc.“ des Wortes „Jazz“ sowie das limitierte Kunstverständnis, das sich dahinter verberge, zum Ausgangspunkt, die Deutungshoheit über die Musik vom Standpunkt ihrer „Urheber*innen und Interpret*innen“ aus einzufordern. Während in der „westlichen Musikgeschichte einige der besten Kritiker*innen und Schriftsteller*innen selbst Musiker*innen und Komponist*innen“ gewesen seien, wäre die Jazzkritik seinerzeit von den versnobten Spitzfindigkeiten und den ideologischen „Plattitüden“ der „Rezensent*innen der Gesellschaft“ geprägt. Von diesen wäre „nichts weiter zu erwarten, als dass sie eine große Anzahl an Menschen“ vor eine „erhebliche Kluft“ stellten.[1]

In seiner kürzlich erschienen Autobiografie „Easily Slip Into Another World: A Life in Music”, wo der Artikel in Gänze abgedruckt ist, resümiert Threadgill fünfeinhalb Jahrzehnte später: „Als ich dies schrieb, war ich ein vierundzwanzigjähriger Gefreiter der US-Armee und gerade erst zurück aus Vietnam. Ich hatte die ein oder andere Erfahrung als Musiker gemacht. Aber ich hatte noch keine Platte eingespielt, geschweige denn meinen Abschluss am Konservatorium erlangt. Wenn ich es so viele Jahre später wieder lese, finde ich es bemerkenswert, wie selbstbewusst ich zu meiner eigenen Professionalisierung stand. Und wie sehr ich mir darüber im Klaren war, was es brauchte: keine Förderung, keine kommerzielle Verwertung, keine Sensationsgier, sondern ehrliche und akkurate Aufklärung darüber, wer wir waren und worin unser Anliegen als seriöse Künstler*innen bestand. In der AACM waren wir uns einig, dass (…) diese Aufklärung nicht von Journalist*innen oder Kritiker*innen kommen würde. (…) Unerfahren wie die meisten von uns waren, konnte uns die Vorstellung nicht einschüchtern, dass wir zu Geschichtsschreiber*innen und Chronist*innen unserer eigenen Kreativität zu werden hatten.“ [2]

Eine Henry-Threadgill-Playlist

von Brent Hayes Edwards

Eines der auffälligsten Merkmale der Musik Henry Threadgills ist, wie unterschiedlich seine Bands klingen. Als Komponist wird er für seine Vorliebe für ungewöhnliche Besetzungen und seine ansteckende Renitenz gegenüber vorherrschenden Erwartungen gefeiert. Doch auch die schiere klangliche Bandbreite seiner Ensembles scheint beispiellos zu sein. Das kollektive Trio-Projekt Air, seine erste berühmte Band in den 1970er-Jahren, kann als eine Übung in Minimalismus beschrieben werden. Unter ausschließlicher Verwendung von Holzblasinstrumenten oder Flöten, Bass und Schlagzeug, war Threadgill gezwungen, wie er es einst selbst formulierte, „zu lernen, die Silhouette der Sache zu schreiben und nicht die Sache selbst“. Doch schon Mitte der 1970er-Jahre fing er an, auch für eine große Besetzung zu komponieren: die Band X-75, die mit ihrem dichten Zusammenspiel aus mehreren Bässen, Flöten und einem Sänger das Publikum überraschte.
 

Ähnlich breit ist die Kluft zwischen seinem wichtigsten Ensemble in den 1980er-Jahren – dem Sextett mit seinem kontrapunktischen Zusammenspiel von Bass, Cello, Saxofon, Posaune und Trompete – und der Band Very Very Circus, mit der Threadgill Anfang der 1990er-Jahre zu arbeiten begann – mit ihrer einzigartigen Kombination aus zwei Tuben und zwei E-Gitarren. Für die Hörer*innen kann sich der Übergang von einer Threadgill-Gruppe zur nächsten anfühlen wie eine Reise zwischen zwei radikal unterschiedlichen Klangwelten oder wie der Besuch verschiedener Planeten innerhalb ein und derselben Galaxie.

In seiner Autobiografie „Easily Slip into Another World: A Life in Music“ erklärt Threadgill, dass die Unterschiede zwischen seinen Bands weniger mit der Besetzung einzelner Musiker*innen zu tun haben, als vielmehr mit den verschiedenen Klangtexturen, die er als Komponist anstrebt. So fühle er sich zu besonderen „Instrumentenkombinationen hingezogen, die eine bestimmte Palette bieten. Und das ist es, was sich ändert, wenn sich die Klangwelten wandeln. Ich muss also versuchen, die richtige Mischung zu finden – was genau erzeugt die Klänge, zu denen ich mich hingezogen fühle. Ist es ein Apfel, der vom Baum fällt? Ist es ein in Panik geratener Elefant? Ein Einkaufswagen mit einem losen Vorderrad? Eine Bazooka?"

Für diese Playlist wurde eine Auswahl aus einer Reihe seiner Bands von den 1970er-Jahren bis heute (Air, X-75, New Air, The Sextett, Flute Force 4, Very Very Circus, Make a Move, Zooid, Ensemble Double Up und 14 Or 15 Kestra: GG) getroffen, um eine kurze Einführung in die beeindruckende Vielfalt der Klangwelten Henry Threadgills zu geben.

Interview mit Silke Eberhard

© MOJA film 
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Die deutsche Saxofonistin und Komponistin Silke Eberhard gründete 2009 ihr Large Ensemble Potsa Lotsa XL, das 2023 mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurde. Für das diesjährige Jazzfest Berlin widmet sich das Großensemble einer Auftragskomposition Henry Threadgills gemeinsam mit seiner Band Zooid und greift dabei Threadgills Zooid-System auf: den Musiker*innen sind bestimmte Intervalle zugewiesen, innerhalb derer sie sich frei bewegen können. So entsteht eine lebendige, bisweilen sehr dichte Polyphonie. Die Autorin und Kuratorin Maxi Broecking besuchte Silke Eberhard in ihrem Proberaum in Berlin und sprach mit ihr über Threadgills eigene Intervall-Sprache, Eric Dolphys Bedeutung für Potsa Lotsa XL und über das Sammeln, Recherchieren und Üben als notwendige musikalische Arbeitsweisen.

Silke Eberhard und Henry Threadgill beim Jazzfest Berlin 2023

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Karl Berger

Karl Berger verstarb im April 2023 – als Komponist, Dozent, Musikwissenschaftler und Vibrafonist nahm er seit den 1960er-Jahren Einfluss auf die internationale Jazzszene. An einem Konservatorium in Heidelberg ausgebildet, gelangte er schon früh ins Umfeld der damaligen Jazz-Avantgardist*innen, spielte in zahlreichen Konstellationen, u. a. im berühmten Quintett des Free-Jazz-Pioniers Don Cherry in Paris. Inspiriert vom Gedanken, dass jedem Menschen eine musikalische Begabung innewohnt, widmete sich Berger in New York der Lehre von Jazz und suchte nach alternativen Lernmethoden. Anfang der 1970er-Jahren gründete er mit seiner Frau, der Sängerin Ingrid Sertso, und Ornette Coleman ein Zentrum für Improvisation und kreative Musik in Woodstock: das Creative Music Studio (CMS).

Das kürzlich beim Wolke Verlag erschienene Buch „Karl Berger. The Music Mind Experience“ hält seine musikalischen Lehren und Methoden für die Nachwelt fest und wirft Schlaglichter auf seine Praxis. Ein Auszug aus einer E-Mail Ingrid Sertsos und Impressionen von damaligen Zusammenkünften und Auftritten des CMS bilden eine Hommage an Karl Berger als Mentor und Musiker im Kontext von „(Un-)Learning Jazz“.

Karl Berger und Ingrid Sertso, Heidelberg 2005

Karl Berger und Ingrid Sertso, Heidelberg 2005

© Wolke Verlag

i come from an art family, my mother was a classical pianist, my brother a pretty well known painter my other brother a jazz drummer, was in chet bakers european band. I left home when I was 17 years old, wanted to be a dancer but started singing with different european jazz groups, met karl in the famous cave 54 in heidelberg and we stayed together, worked together. we were twice at the berlin jazzfestival at the schwangeren auster and we loved it, once with don cherry, once with my brother klaus hagl and phantastic german and other european musicians, then we heared ornette coleman’s record, this is our music and we wanted to go to USA, where he is. we went to paris, met don cherry and went with him to america ... Meeting don and ornette made it clear to us that we were not so wrong to believe, music is in everybody, the musik mind. We loved nature, moved to woodstock and founded CMS together with ornette. karl had a doctors degree in musicology and was a phantastic teacher, he loved to teach. we still toured a lot all over the world. CMS was a meeting place for musicians from everywhere, turkey, africa, asia and so on. Karl’s musicmind was pure gold and he was loved, his words changed people’s life, i loved him, i love him and miss him and the pain of having lost him is beyond, he is not replaceable.

 Ingrid Sertso über Karl Berger, Auszug aus einer E-Mail

Impressionen – Karl Berger und das Creative Music Studio

„When we were kids, we just played. It was intuitive. We were fully present in the moment. We still have that sense of intuitive flow – it is actually our natural way. We ‚play‘ music.“ 

Karl Berger

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(Un-)Learning to Play

‚Spielen lernen‘ kann in der musikalischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in vielen Fällen auch bedeuten, das Spielen zu verlernen. Nach Schule und Ausbildung ist das vom Ergebnis losgelöste Musikmachen im Moment oft von erlernten Theorien, eigenen Ansprüchen und vom akademischen Leistungsdruck getrübt. Doch wie können Kinder an Musik und Improvisation herangeführt werden, ohne dass ihre „natürliche“ Kompetenz auf dem Gebiet Spiel und Intuition geschmälert wird? Zwei Projekte, die beim diesjährigen Jazzfest Berlin mit und für Kinder entwickelt wurden, setzen sich mit diesen Fragen auseinander und machen die Probe aufs Exempel.

ImproCamp

Beim Jazzfest ImproCamp widmen sich Kinder eine Woche lang auf spielerische und interdisziplinäre Weise und ohne musikalische Voraussetzungen dem weiten Feld der Improvisation. Nadin Deventer, die künstlerische Leitung des Jazzfest Berlin, spricht mit der Regisseurin und Musikerin Nelly Thea Köster und mit Jakob Fraisse, dem Leiter des Bereichs Bildung & Forschung der Deutschen Jazzunion, über die Konzeption des Jazzfest ImproCamp, über Herausforderungen und über die Frage, was die Beteiligten vor allem von den Kindern lernen können.

Apparitions

Eine außergewöhnliche Bühnenbegegnung am Eröffnungstag des Festivals in Form einer mit zwei Berliner Kinderchören zusammen erarbeiteten Adaption des Projekts „Apparitions“ von Novembre macht deutlich, dass sich Verspieltheit und musikalischer Anspruch, improvisatorische Spielfreude und kompositorische Raffinesse keinesfalls ausschließen müssen. Romain Clerc-Renaud und Antonin-Tri Hoang vom Ensemble Novembre sowie die Chorleiter*innen Gudrun Luise Gierszal und Eva Spaeth geben Einblick in ihre Zusammenarbeit, während Impressionen der Proben einen Überblick über die Kollaboration bieten.

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Das „Apparitions“-Konzert unter Beteiligung zweier Berliner Kinderchöre

Mitwirkende

Nadin Deventer

Nadin Deventer ist seit 2018 Künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin. Unter ihrer künstlerischen Leitung wurde das Jazzfest Berlin als Festival des Jahres 2020 und 2022 nominiert für den Deutschen Jazzpreis und im Jahr 2021 mit dem European Award for Adventurous Programming vom Europe Jazz Network ausgezeichnet.


Thomas Gläßer

Thomas Gläßer lebt und arbeitet in Köln und Berlin. Der Musiker, Programmmacher und Kulturaktivist gründete 2006 mit anderen Musiker*innen die Plattform Zentrum für Aktuelle Musik e.V. Er kuratiert internationale Konzertreihen (Reconstructing Song, Reverse Exotism, Outskirts, In Between Spaces) im Bereich aktueller und zeitgenössischer Musik, konzipiert Festivals (Night of Surprise, Invocation, Digging the Global South, OLUZAYO), Konferenzen, künstlerisch-pädagogische Projekte und kulturpolitische Initiativen.

Er berät Ensembles, Institutionen und Verbände (u. a. Zinc & Copper, Jazzfest Berlin, Deutsche Jazzunion) und ist als Vorstand der Initiative Freie Musik IFM e.V. einer der kulturpolitischen Sprecher(*innen) der freien Musikszene in Köln.


Brent Hayes Edwards

Brent Hayes Edwards ist Mitverfasser Henry Threadgills Autobiografie „Easily Slip into Another World: A Life in Music”, die im Mai 2023 beim Verlag Alfred A. Knopf erschienen ist. Edwards ist Peng-Family-Professor für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University (New York, USA). Dort gehört er dem Center for Jazz Studies an und ist Herausgeber der Zeitschrift PMLA. Zu seinen weiteren Veröffentlichungen gehören „The Practice of Diaspora: Literature, Translation, and the Rise of Black Internationalism“ (2003), „Epistrophies: Jazz and the Literary Imagination“ (2017), beides herausgegeben von der Harvard University Press, sowie die Übersetzung von Michel Leiris’ „Phantom Africa“ (2017), erschienen bei Seagull Books London.


 



Christopher Hupe

Christopher Hupe arbeitet seit 2019 als Dramaturg für das Jazzfest Berlin.


Harald Kisiedu

Harald Kisiedu ist Musikwissenschaftler, Autor und Musiker. Er ist Dozent am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück. Seine Forschungsschwerpunkte sind Jazz als globales Phänomen, klassische und experimentelle Musik der Afro-Diaspora, Improvisation und Wagner. Er hat u. a. über Peter Brötzmann, Muhal Richard Abrams und Ernst-Ludwig Petrowsky veröffentlicht. Nach Stationen an der Universität Hamburg wurde Kisiedu in historischer Musikwissenschaft an der Columbia University promoviert. Als Saxofonist ist er u. a. mit Branford Marsalis, George Lewis, Henry Grimes, Hannibal Lokumbe und Champion Jack Dupree aufgetreten.

Im Juli 2023 erschien seine gemeinsam mit George Lewis veröffentlichte Aufsatzsammlung „Composing While Black. Afrodiasporische Neue Musik Heute“ im Wolke Verlag.


Peter Margasak

Peter Margasak ist langjähriger Musikjournalist (unter anderem für den Chicago Reader, Rolling Stone und The New York Times), der seit 2013 auch die wöchentliche Frequency Series im Club Constellation in Chicago kuratiert. Er ist als Programmberater für das Jazzfest Berlin tätig.


Redaktion Jazzfest Berlin Story

Steffen Greiner, Chris Hupe, Vanessa Schaefer