Visual Performing Exiles

Performing Exiles

15. bis 25. Juni 2023

Das interdisziplinäre Festival „Performing Exiles“ befragte den Begriff des Exils vor dem Hintergrund ständiger globaler Veränderungen und multipler Migrationsbewegungen. War Berlin noch im letzten Jahrhundert ein Ort, aus dem Menschen emigrieren mussten, ist die Stadt heute selbst Ort der Exilierten geworden. Für die meisten Künstler*innen ist dies kein Exil, aus dem sie nicht an den Ort der Herkunft zurückkehren können. Ihre Wirkräume und Bezugspunkte bewegen sich sogar häufig zwischen Ländern und Kontinenten.

Bereits das Programm des ersten Festivaltags mit gegenwärtigen Positionen zur aktuellen Lage im Libanon, Iran und in der Ukraine zeigt deutlich, dass sich Situationen und Gründe von Exil nicht einfach zusammenfassen und vergleichen lassen. „Performing Exiles“ möchte vielmehr Forum für in Berlin lebende Künstler*innen sein, Szenen und Perspektiven zusammenbringen und nimmt die Verantwortung von (Berliner) Kulturinstitutionen gegenüber exilierten Künstler*innen dieser Stadt in den Blick.

Zum Festivalprogramm zählen zwei von den Berliner Festspielen produzierte Uraufführungen von in Berlin lebenden Künstler*innen: Der lesothische und international beachtete Filmemacher Lemohang Jeremiah Mosese inszeniert seine erste Bühnenarbeit „Ancestral Visions of the Future / Pageanty of Wailing“. Er fragt nach der individuellen wie kollektiven Identität einer panafrikanischen Gemeinschaft und wie sich ein afrikanisches Bewusstsein in der globalen Diaspora manifestieren lässt. Ein performativer Spaziergang der in St. Petersburg geborenen Regisseurin Ada Mukhína führt in „Exile Promenade“ zu Orten von historischem und aktuellem Exil, die sich mit den Exilbiografien der drei durch Berlin führenden Protagonist*innen verweben. Der Walk vergleicht das kulturelle Erbe der Weißgardisten in westeuropäischen Metropolen mit den hiesigen künstlerischen Einflüssen russischer Exilant*innen während der dritten Präsidentschaft Putins und insbesondere die Emigration seit Krieg und Mobilmachung.

Weitere Performances, wie „Hartaqāt“ von Lina Majadalanie und Rabih Mroué, „Blind Runner“ von Amir Reza Koohestani oder „News from the past“ von Stas Zhyrkov beziehen sich auf aktuelle Situationen im Iran, im Libanon und in der Ukraine.

„Fast unmerklich hat sich in Berlin etwas verändert. Immer, wenn ich während der Recherche für ein Libanon-​Festival libanesische Künstler*innen auf Zoom treffen wollte, sagten sie: „Ich bin aber in Neukölln.“ Ein Großteil der libanesischen Künstler*innen lebt in Berlin. Noch vor zehn Jahren bevorzugten viele eine geteilte Existenz. Sie pendelten zwischen Beirut und Berlin oder Paris und Los Angeles. Jetzt leben sie fast ausschließlich in unserer Stadt. Und das nicht nur wegen der in den letzten Jahren tobenden Pandemie. Berlin ist nach fast 100 Jahren wieder zu einer Hauptstadt der Exilierten geworden. Viele davon sind Künstler*innen, die aufgrund politischer Unterdrückung, bedrohlicher Lebensumstände, Überwachung, Zensur oder fehlender Zukunftsaussichten unter zumeist schwierigen Bedingungen ihre Herkunftsländer verlassen haben. Ihre Erfahrungen, Perspektiven und Sehnsüchte treffen in der Metropole aufeinander und prägen das kulturelle Leben der Stadt.“

Matthias Lilienthal

In Lina Majdalanies und Rabih Mroués „Hartaqāt (Hérésies)“ erzählen die libanesische Autor*innen Rana Issa, Souhaib Ayoub und Bilal Khbeiz in drei Geschichten von ihrem Leben im Libanon, das sie aufgegeben haben. Die Arbeit „Blind Runner“ des iranischen Regisseurs Amir Reza Koohestani reflektiert die aktuelle Situation im Iran als ein unermüdliches Anrennen – allen Widerständen zum Trotz: Ein Paar trainiert Marathon mit dem gemeinsamen Plan am Ende durch den Eurotunnel nach England zu gelangen. Selbst nach der Verhaftung der Ehefrau, eine Woche vor dem geplanten Aufbruch, stellen die Eheleute das Training nicht ein, sondern führen es auf beiden Seiten der Gefängnismauern fort. In der ukrainisch-​deutschen Stückentwicklung „News from the past“ von Stas Zhyrkov und Martín Valdés-​Stauber verabreden sich vier Schauspieler*innen, um ein Radio-​Feature aufzunehmen und fragen sich: Wie kann extreme Gewalt erzählt werden und wie erinnert man an das dadurch erfahrene Leid – ohne es zu wiederholen?

Das Festival versteht sich auch als strukturelle Initiative und verbindet sich mit internationalen Positionen.

Marlene Monteiro Freitas wird ihre Choreografie „idiota“ zeigen. Sie setzt sich thematisch mit der Büchse der Pandora auseinander (englisch: Pandora’s Box) und stellt sich Fragen nach dem Tod und dem Bösen. Dabei lässt sie sich vom Werk des kapverdischen Malers Alex Silva (1974–2019) und der mythologischen Figur der Pandora inspirieren. „idiota“ ist im Ausstellungskontext verortet, eine Performance in einer Vitrine; in Pandora’s Box.

Im neuen und finalen Teil ihrer Trilogie über Gewalt beschäftigt sich die brasilianische Theatermacherin Christiane Jatahy, die 2022 in Venedig den goldenen Löwen der Biennale Teatro für ihr Lebenswerk erhielt, mit der Verwobenheit von Rassismus und Kapitalismus. Vom transatlantischen Sklavenhandel bis zur aktuellen Politik eines Jair Bolsonaro scheint sich kaum etwas verändert zu haben: Es gibt diejenigen, die Land, Freiheit und Identität besitzen – und diejenigen, deren Existenz keinen Wert hat. Darüber hinaus finden drei Diskurstage mit internationalen Gästen statt. Das Programm von „All that is Musical in Us is Memory“ kuratiert von Natasha Ginwala und Magnus Elias Rosengarten, setzt sich mit Exil, Verwandtschaft und (Nicht-​)Zugehörigkeit auseinander. In „Angst, wie wir sie kennen“ – konzipiert von Fabian Saul und Senthuran Varatharajah – erforschen acht Künstler*innen Vor- und Darstellungen von Angst. Eyal Weizman von Forensic Architecture/Forensis und Maksym Rokmaniko vom Center for Spatial Technologies rekonstruieren in einem multimedialen Vortrag die Zerstörung des Drama Theaters in Mariupol, in dem tausende Zivilist*innen Zuflucht vor den russischen Besatzer*innen gesucht hatten. Robbie Aitken, Professor für Imperiale Geschichte an der Sheffield Hallam University, widmet sich in seinem Vortrag Ausdrucksformen von Schwarzer Identität und von Widerstand am Beispiel einer Revue, die 1930 in Kliems Festsälen in Kreuzberg Premiere feierte.

Teil des Festivalprogramms, das auch in der Akademie der Künste, im HAU Hebbel am Ufer und im Heimathafen Neukölln zu Gast ist, sind zudem Konzerte von „Vesna“ einem Trioprojekt der ukrainischen Musikerin Mariana Sadovska und vom Autor und Sänger Serhij Zhadan, der am Eröffnungstag mit seiner Ska-​Band „Zhadan i Sobaky“ auftreten wird. In der Bornemann Bar wird der senegalesische Kurator und multidisziplinäre Künstler Alibeta zudem nach über 70 Jahren die „Pinguin Bar“ auferstehen lassen, die während ihrer kurzen Existenz ab dem Jahr 1949 Ort für Jazz, Widerstand und Aktivismus der Schwarzen Gemeinschaft in Berlin war.

In Kooperation mit dem Ashkal Alwan, Beirut findet außerdem die dreiwöchige „School for Dissident Friendship“ statt, die aufstrebende Künstler*innen aus Berlin, dem Libanon, Jordanien und Ägypten vernetzt und ihnen Expertise, Zeit und Raum zur Weiterentwicklung eigener Arbeiten bietet.

Team

Kuratorische Leitung und Dramaturgie – Matthias Lilienthal
Kuratorische BeratungRabih Mroué
Kuratorische AssistenzSophie Blomen
Praktikant ProgrammAbdalrahman Alqalaq

Künstlerische ProduktionsleitungClaudia Peters
ProduktionsleitungPhilipp Krüger
ProduktionsassistenzLea Wolf
OrganisationsassistenzCarolin Mackert
Mitarbeit AdministrationTobias Oettel

Technische LeitungMaria Kusche
Kommunikation und PressekontaktKaroline Zinßer

Dank an
Hannah Baumann, Sebastian Baumgarten, Aljoscha Begrich, Ralf Beste, Benjamin Foerster-​Baldenius, Prof. Dr. Barbara Gronau, Albrecht Grüß, Nele Hertling, Clara Herrmann, Sophia Hirthammer, Christine Leyerle, Prof. Dr. Nikolaus Müller-​Schöll, Andre Schmitz, Dorothee Wenner